Der Krieg in der Ukraine tobt seit mehr als einem Jahr erbarmungslos auf den Schlachtfeldern in der Ukraine, und er bestimmt seitdem nicht minder unbarmherzig die Debatte innerhalb unserer Talkshows und Feuilletons um das Für und Wider weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine. Und während der oberste chinesische Außenpolitiker, Wang Yi, auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine »politische Beilegung der Ukraine-Krise« fordert, verlangt der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow zeitgleich ganz unverhohlen nach der Lieferung von Streumunition und Phosphor-Brandwaffen. Auch wenn es sich dabei um völkerrechtlich teils geächtetes Kriegsgerät handelt. Zur gleichen Zeit mahnt der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj in einer Live-Schalte zur Eröffnung der 73. Berlinale, dass auch Kunst und Kultur eine Entscheidung »für Zivilisation oder für Tyrannei« treffen müsse, während inzwischen hochkarätige klassische Veranstaltungen einfach deshalb abgesagt werden, weil die Künstler entweder aus Russland stammen oder, wie der Fall Anna Netrebko zeigt, sich nicht ausreichend genug vom russischen Präsidenten Putin distanziert haben.
Davon ist nun auch der Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters, Teodor Currentzis, betroffen. Das von ihm gegründete musicAeterna Orchestra und der von ihm gegründete musicAeterna Choir zählen zu den gefragtesten russischen Ensembles und sind in ihrer künstlerischen Arbeit bestrebt, die Grenzen kontinuierlich zu erweitern, sei es im Hinblick auf historische Aufführungen, neue Interpretationen von Werken des 19. und 20. Jahrhunderts oder Uraufführungen zeitgenössischer Musik. MusicAeterna ist regelmäßig bei großen internationalen Festivals zu Gast, darunter die Ruhrtriennale, das Klarafestival in Brüssel, das Festival d’Aix-en-Provence, das Lucerne Festival und das Diaghilev-Festival in Perm. 2017 debütierte musicAeterna mit Mozarts Requiem bei den Salzburger Festspielen und eröffnete mit La clemenza di Tito als erstes russisches Ensemble in der Geschichte des Festivals das Opernprogramm.
Orchester und Chor wurden 2004 in Nowosibirsk gegründet und sind seit 2019 in Sankt Petersburg beheimatet. Für kommenden April war mit Currentzis, Orchester und Chor die Aufführung der Messe h-Moll BWV 232 von Johann Sebastian Bach in der Berliner Philharmonie und der Hamburger Elbphilharmonie geplant, was nun aber nicht stattfinden wird. Auf der Homepage der Elbphilharmonie heißt es hierzu: »Da die Organisation von Konzerten mit den in St. Petersburg ansässigen Ensembles aufgrund der Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine aktuell mit zu vielen Unsicherheiten behaftet ist, kann dieses Konzert nicht wie geplant stattfinden.«
Das musikalische Genie Currentzis ging nun stattdessen mit der begnadeten norwegischen Geigerin Vilde Frang und seinem SWR-Symphonieorchester mit Werken von Alban Berg und Dmitrij Schostakowitsch auf Tournee, was durch das virtuose Spiel der Ausnahmegeigerin zu einem musikalischen Erlebnis höchster Güte wurde. Und genial war auch, dass im zweiten Teil die Achte Sinfonie von Schostakowitsch zur Aufführung kam, die auch als Stalingrad-Sinfonie bezeichnet wird. Der Publizist Bernd Feuchtner schrieb in seiner Dissertation zur künstlerischen Identität Dimitri Schostakowitschs (und der staatlichen Repression gegen ihn) über dessen Achte Sinfonie, die 1943 innerhalb weniger Wochen entstand und im Februar 1944 in Nowosibirsk uraufgeführt worden ist, folgendes: »In grauenvoller Zeit denkt der Mensch über sich nach. Daraus entstand ein Requiem für alle Opfer der Gewalt, die Menschen anderen Menschen angetan haben. Schostakowitsch schrieb, er habe hier das Bild vom seelischen Leben eines Menschen schaffen wollen, den der gigantische Hammer des Krieges betäubt habe« (Feuchtner, Bernd, Und Kunst geknebelt von der Groben Macht, Frankfurt am Main 1986).
Achtzig Jahre später ist Kunst noch immer ganz existentiell davon bedroht, von einer »Groben Macht« unter Beschuss zu geraten, wie die Konzertabsagen verdeutlichen. Anlässlich des 70. Jahrestages des Weltkriegsendes haben 2015 die Osnabrücker und Wolgograder Sinfoniker die Siebte (Leningrad)-Sinfonie von Schostakowitsch in Moskau, Kiew und Minsk aufgeführt und dabei erklärt: »Wir glauben an die Kraft der Musik – das ist unsere Chance. Wir wollen gerade jetzt ein deutliches Zeichen für internationale Zusammenarbeit und gelebte Völkerverständigung setzen. Wir werden dabei nicht vergessen, dass die derzeitigen deutsch-russischen und russisch-europäischen Beziehungen angespannt sind und ein hohes Maß an Sensibilität verlangen!«
Acht Jahre später wird von uns allen nun ein ungemein höheres Maß an Sensibilität hinsichtlich unserer ganz persönlichen Haltung zum Ukrainekrieg abverlangt. Eines dürfte dabei aber unbestritten sein: SCHOSTAKOWITSCH muss eindeutig mehr aufgeführt und gehört werden!