Klaus Nilius Kultur als Überlebenselixier
Meine sämtlichen Nachschlagewerke verweigerten sich ebenso wie Wikipedia. Nirgendwo konnte ich finden, wer wann das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland zum ersten Mal »Mutterland der Demokratie« genannt hat. Wenigstens aktivierte die Suche längst verschüttetes Wissen: dass schon im Dezember 1689 mit der nach dem Machtkampf zwischen der absolutistischen Monarchie und ihren am Ende erfolgreichen Gegnern vom englischen Parlament verabschiedeten Gesetzesvorlage, der Bill of Rights, grundlegende Rechte des Parlaments gegenüber dem Königtum festgelegt wurden. Dieses Ur-Dokument des Parlamentarismus war ein historischer Schritt, für den Großbritannien irgendwann in den folgenden Jahrhunderten mit dem noch heute gebräuchlichen Epitheton »Mutterland der Demokratie« geschmückt wurde.
Warum diese Recherche? Weil ich nicht fassen konnte, was der britische Journalist Simon Parkin in seinem 2022 auf Englisch, 2023 auf Deutsch erschienenen erzählenden Sachbuch mit dem Titel »Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen« berichtete: dass Premierminister Winston Churchill in der allerersten Kabinettsitzung seiner Regierung am 11. Mai 1940 dem Beschluss zustimmte, alle männlichen Deutschen und Österreicher zwischen 16 und 60 Jahren, »die gegenwärtig in den britischen Küstenregionen lebten«, als »feindliche Ausländer« internieren zu lassen. Sie wurden unter den Generalverdacht gestellt, bei einer Anlandung deutscher Aggressoren mit diesen eventuell zusammenarbeiten zu wollen, sozusagen als Fünfte Kolonne der Nazis.
Die Betroffenen wurden so plötzlich verhaftet und interniert, »dass sie keine Gelegenheit hatten, Vorkehrungen zu treffen«. 73500 Flüchtlinge lebten zu der Zeit in Großbritannien. Bei der ersten Massenverhaftung durch Scotland Yard am Tag nach dem Kabinettsbeschluss, einem Sonntag, »wurden zweitausend Flüchtlinge in Gewahrsam genommen und den Militärbehörden zur Internierung übergeben«.
Die Evakuierung der britischen Truppen aus Frankreich und Belgien über den nordfranzösischen Hafen Dünkirchen ab dem 26. Mai 1940 und die kurz danach erfolgte Kapitulation Belgiens verstärkten die Hysterie in Großbritannien und führten schließlich zur Verhaftung und Masseninternierung aller Deutschen und Österreicher auf der Insel.
»Nachdem die Regierung zugelassen hatte, dass die Boulevardpresse Hurrapatriotismus und Hass schürte, anstatt eine aufgeklärte Haltung einzunehmen, nutzte sie nun die ›öffentliche Meinung‹ als Rechtfertigung ihrer Maßnahmen.« Die Hysterie hatte die Vernunft zerstört: »Niemand in Großbritannien war mehr sicher vor einer sofortigen Verhaftung und unbefristeten Inhaftierung aufgrund von Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder politischer Überzeugung.«
Aus dem Bett oder aus der Vorlesung, von der Werkbank oder aus der Backstube wurden die in ihrer Mehrheit rassistisch Verfolgten und Nazi-Gegner in Gefängnisse oder Lager verfrachtet und dort eingepfercht. Parkin hat diesen Hergang meines Wissens zum ersten Mal umfassend dargestellt. Bisher wurde »die britische Internierung (…) sorgfältig vom vorherrschenden Narrativ getrennt gehalten, das sich Großbritannien über die eigene Haltung im Krieg erzählt: dem von einer geeinten, mutigen Nation, die einen gerechten Krieg führt, um die Verfolgten zu verteidigen« (Parkin). Selten klafften Schein und Wirklichkeit so weit auseinander: »In Großbritannien waren Juden zwar nicht gezwungen, in Ghettos zu leben oder rassistische Erkennungszeichen an ihrer Kleidung zu tragen, doch waren sie Gegenstand einer Vielzahl von Vorurteilen, die von Fremdenfeindlichkeit und Sorge um Arbeitslosigkeit bei der Arbeiterklasse bis hin zu Ängsten vor kultureller Überfremdung innerhalb der Intelligenz reichten.«
Die jeglichem Geist von Menschlichkeit und Demokratie spottende Vorgehensweise schildert Parkin am Beispiel von Peter Fleischmann. Dieser hatte in Deutschland die letzten Jahre im Auerbach’schen Waisenhaus in Berlin verbracht. Das Waisenhaus beherbergte auch eine kleine, liberale Synagoge und hatte lange den Ruf, »einer der sichersten Orte für junge jüdische Kinder zu sein« – bis zum Abend des 9. November 1938, als ein Mob von Nazi-Anhängern auch zu dieser Synagoge zog, um sie zu brandschatzen, und die Gestapo sich auf den Weg machte, um den damals 16-jährigen Peter Fleischmann zu holen. Von einem Polizeibeamten(!) in Zivil gewarnt, gelang Peter die Flucht in ein vorerst sicheres Versteck.
In einem »Meisterstück internationaler Kooperation und Organisation« gelang es einem von Quäkern dominierten Komitee, gefährdete deutsche Kinder bis zum Alter von 17 Jahren am 1. Dezember 1938 mit einem Zug aus Deutschland herauszuholen und von den Niederlanden aus mit einer Fähre nach Großbritannien zu bringen. Peter Fleischmanns Name stand auf der Liste, am 2. Dezember traf er mit dem Kindertransport in England ein. Ein Foto zeigt ihn bei seiner Ankunft, mit einer Künstlermappe unterm Arm, denn schon damals wollte er Künstler werden.
Am 5. Juli 1940 stand sein Name wieder auf einer Liste, als es bei Nacht an der Tür des Hauses klingelte, in dem er wohnte. Als er öffnete, kam »knapp und barsch« die Anweisung eines Polizeibeamten: »Ziehen Sie sich an. Kommen Sie mit uns.«
Parkin: »Peter, weder Soldat noch Verbrecher, war einer von 90 Ausländern und Flüchtlingen, die an diesem Morgen von der Polizei in Salford verhaftet wurden; ihm wurden die Bürgerrechte verweigert, die selbst Verurteilte genossen: keine Anklage, kein Prozess, keine Kaution. Seine Geschichte spielte überhaupt keine Rolle – nicht die Tatsache, dass ihn das Naziregime zum Waisen und Obdachlosen gemacht hatte. Auch nicht, dass er als mittelloses Kind nach England gebracht worden war oder dass ihn einer der obersten Richter des Landes eingehend befragt hatte und zu dem Schluss gelangt war, dass er kein Sicherheitsrisiko für sein Gastland darstelle.«
»Der Alptraum von Warth Mills«, so überschrieb Parkin das folgende Kapitel. Warth Mills war eine riesige, zehn Jahre zuvor von den Eigentümern stillgelegte und seitdem verfallende ehemalige Baumwollspinnerei in Nordengland in der Nähe von Lancashire am Ufer des Flusses Irwell. Der Boden der Fabrik war »schmierig und glitschig von altem Maschinenöl. (…) Zahllose Scheiben waren zerbrochen und ließen den Nieselregen ins Innere. (…) 2000 Internierte teilten sich eine einzige Badewanne und 18 Wasserhähne. Die Toiletten bestanden aus 60 Eimern«. Die Männer mussten nach ihrer Ankunft vom örtlichen Bahnhof aus sieben Kilometer weit zum Gelände marschieren, unter den Augen einer feindseligen Bevölkerung. Als Peter Fleischmann eintraf, war das Gebäude schon voller Internierter. Er erhielt wie die anderen eine Rosshaardecke, »verlaust und von Ungeziefer zerfressen«. Geschlafen wurde auf alten Holzdielen.
Unter den Gefangenen war auch Rudolf Olden, früher Politischer Redakteur des Berliner Tageblatts. Parkin: »Niemand in Warth Mills verkörperte die Absurdität und Impulshaftigkeit von Masseninternierungen besser. Olden hatte nicht nur derart vehement gegen die Nazis gewettert, dass die Partei ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen hatte, sondern war zudem vor Ausbruch des Krieges vom britischen Geheimdienst angeworben worden, um Propagandaskripte zur Ausstrahlung in Deutschland zu verfassen.«
In der zweiten Juli-Woche kam Peter Fleischmann in ein weiteres provisorisches Auffanglager, während andere Internierte, Künstler ihres Zeichens, unterwegs waren zur Isle of Man, wo sie die ersten Insassen des neuesten Lagers auf der Insel wurden. Peter sollte ihnen schon bald nachfolgen.
Auf Man waren schon während des Ersten Weltkriegs »Enemy Aliens« interniert worden. So wurden Angehörige eines Staates genannt, mit dem sich Großbritannien in einem Konflikt befand. Diese »Feindstaatenausländer« wurden als gefährlich betrachtet, zumindest als Risiko für die eigene Sicherheit. Insgesamt gab es im Zweiten Weltkrieg sechs Internierungslager, wobei das Hutchinson Camp in der Hauptstadt Douglas auf der Ostseite der Insel Man mit seinen vielen Intellektuellen und Künstlern schon außergewöhnlich war. Man hätte es nach den Berufen der Festgesetzten auch Autoren-, Schriftsteller-, Journalisten-, Anwalts- oder Professorenlager nennen können. Doch es wurde als »Lager der Künstler« bekannt, denn Kultur und Kunst hielten die Männer aufrecht, waren ihr Überlebenselixier und ließen sie ihre Würde als Menschen bewahren.
Dieses Lager, schreibt Parkin, »offenbarte nicht nur die Unbezwingbarkeit des menschlichen Geists, sondern auch den künstlerischen Ausdrucksdrang unter allen Umständen. Bis Ende 1941 hatten die Internierten aus Hutchinson Kunstwerke produziert, mit denen sich ganze Galerien hätten füllen lassen.« Bergbauingenieur, Chemiker, Kürschner, Architekt, Priester, Student, Anwalt, Tortenbäcker, Chirurg, Elektriker, Hausdiener, Frisör, Professor, Modedesigner, Balletttänzer, Schnapsbrenner, Arzt, Englischlehrer, Jurist, Archäologe, Pianist, Journalist, Bildhauer, Kunsthistoriker, Zeitungsherausgeber, Künstler, Autor, Verlagslektor, Musiker … Schier endlos ist die Liste der Berufe der Inhaftierten. Rund 55 eng bedruckte Seiten umfasst die Namensliste des Buches einschließlich Geburtsdatum, Beruf und Entlassungsdatum all der Männer, die nachweislich im Hutchinson Camp auf der Isle of Man interniert waren, der im Buchtitel genannten, in der Irischen See gelegenen 572 Quadratkilometer großen »Insel der außergewöhnlichen Gefangenen«.
Außergewöhnlich war das Camp auch deswegen, weil diese Menschen »ein Gefängnis zu einer Universität gemacht haben, ein Lager zu einem Kulturzentrum, eine Pension zu einer Kunstgalerie, ein Kabelwirrwarr zu einer Sendestation, ein Feld zu einem Fitnessclub, eine Wiese zu einer Freilichtbühne«. Vorträge und Vorlesungen wurden veranstaltet, wie in einem Hörsaal, Fachreferate einzelner Berufsgruppen wurden vorgetragen, Schauspiele wurden inszeniert, Musiker gaben Konzerte – dies alles unter den wohlwollenden Augen von Major Daniel, dem Leiter des Lagers.
Ihnen allen hat Simon Parkin in seinem Sachbuch ein »mit Hilfe des Dichterischen gestaltetes Memorial« errichtet. (Diese Formulierung habe ich bei Albert Vogeleis Thelen gefunden, in »Die Insel des zweiten Gesichts«, seinem gewaltigen, 1953 erschienenen Zeitgemälde der Jahre 1931 bis 1936.)
Peter Fleischmann durfte das Lager am 7. Oktober 1941 verlassen. Etablierte Künstler wie der deutsche Maler und Dadaist Kurt Schwitters hatten ihn während der Lagerzeit unter ihre Fittiche genommen, ihn künstlerisch ausgebildet, so dass er sogar in einem lagerinternen Kunstwettbewerb siegte. Sie hatten schließlich auch seine Freilassung erreicht. Kurz nach dem Verlassen des Camps nahm Fleischmann den Nachnamen eines Freundes und Künstlerkollegen an. Als Peter Midgley trat er in die englische Armee ein und kehrte 1945 als englischer Soldat nach Berlin zurück. 1976 stellte er auf Einladung des Berlin Arts Festivals in der Neuköllner Rathausgalerie sein künstlerisches Werk aus. Er starb im Jahr 1991.
Simon Parkin: Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen – Deutsche Künstler in Churchills Lagern, aus dem Englischen von Henning Dedekind und Elsbeth Ranke, Aufbau Verlag, Berlin 2023, mit Fotos, 560 S., 30 €.