Seit es so einfach ist, auch ohne den kritischen Blick eines Verlegers ein Buch zu schreiben und es noch dazu zu veröffentlichen, wenn man selbst genug Geld dafür einsetzen kann, boomen die Lebenserinnerung von mehr oder weniger prominenten Persönlichkeiten. Die Lesungen von Kulturschaffenden aller Art und hochrangigen Politikern sind in der Regel Publikumsmagneten, auch weil man sich die Aufdeckung von Sensationellem oder Intimem erhofft. Immer mehr aber verlangt der Leser nach wirklich Authentischem, und das liefern vor allem Veröffentlichungen von Briefen und Tagebüchern. Davon sind in den letzten Jahren einige verlegt worden, zum Beispiel in renommierten Verlagen Briefe und Tagebücher von Gerhard Altenbourg, Johannes Bobrowski, Carlfriedrich Claus, Elmar Faber, Wieland Förster, Franz Fühmann, Christoph Hein, Lothar Lang, erst jüngst von dem Lyriker Herbert Sailer sowie vom Fernsehmoderator Reinhold Beckmann. In diese Reihe fügt sich von Manfred Zoller »Kehrwieder 4 / Künstlerbriefe nach Rostock, Dresden, Berlin und Bergfelde« ein. Der 1947 geborene, studierte und habilitierte Mediziner in dem Fachgebiet Anatomie wechselte 1979 in die Freiberuflichkeit als Maler und nahm 1990 eine Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule Berlin in Weißensee auf, in der es um die Verknüpfung von Morphologie und Anatomie mit der bildenden Kunst ging, was schon für sich ein interessantes Gebiet ist.
Seine Briefe reichen von 1970 bis heute und betreffen 57 Persönlichkeiten, in erster Linie Künstler wie er, aber auch Schriftsteller, Kunstwissenschaftler und Galeristen. Viele aus der Kunstszene im Osten Deutschlands bis 1989 und darüber hinaus bekannte Namen tauchen da auf, etwa Sabine Curio, Manfred Butzmann, Dieter Goltzsche, Joachim John, Gerhard Kettner, Harald Metzkes, Wulff Sailer. Und gerade diese Briefe bis zum Ende der DDR sind das Besondere dieses Buches, sind sie ja wertvolle Zeitzeugendokumente, zu denen man noch die unmittelbar in der Wendezeit geschriebene Korrespondenz zählen kann, worin die widersprüchlichsten Gefühle angesichts des Übergangs in ein anderes gesellschaftliches System zum Ausdruck kommen.
Man erfährt einiges über die Lebensumstände in der DDR, wenn etwa Joachim Hering 1975 schreibt, er sei ein »nicht schlecht verdienender Selbstständiger«. Gerhard Kettner wiederum meint 1978, er »wäre verhungert (…) in dem Prozess der Erarbeitung der Geldmittel, die man heute als Familie mit Kindern braucht«. Auch Politik wird vorsichtig angesprochen. So berichtet Hanns Schimansky 1981 verschlüsselt über seine Zeit als Soldat. Besonders die Kulturpolitik spielt eine Rolle. 1974 gibt Walter Goes an Zoller die Äußerung Jürgen Webers weiter, »dass die Reihe mit Dir weitergeführt auch ein Stück ‹Politik› sei und hoffentlich einige Leute nachdenklich macht«. Die Bezirksausstellung Rostock 1979 war für Schimansky unverblümt »das SCHRECKLICHSTE – Fleischerladen!!! Jede Wurst ist da (…), dass man sich fast schämt, dabei zu sein.«. Egon Zimpel spricht das Schicksal der privaten »Galerie im Flur« in Erfurt an, 1978 wurde sie eröffnet, 1981 amtlich geschlossen. Der Bericht eines IM, der an der Schließung seinen Anteil hatte, ist mit abgedruckt. Dagegengesetzt werden die Schwärmereien über die »West«-Reisen, bei denen man staunt, wer vor 1989 alles durfte, ohne schon Rentner zu sein und ohne zu denen zu gehören, die sich dem Staat anbiederten: Schimansky mit Klemke, Roselene Willumat und Christine Perthen 1978 in West-Berlin, Joachim John 1984 in Südamerika, Brigitte Kühlewind 1986 in Paris. Auch die Anregung durch die europäische Kunst der alten und neuen Meister gab den Künstlern im kulturell relativ abgekapselten Osten Deutschlands Halt, etwa bei Schimansky 1978 Beckmann, Matisse oder Malewitsch. Andere aber zogen sich resignierend auf sich selbst zurück. Wenn Joachim Hering 1975 »das Gefühl des Versinkens« in den Schlaf, das das höchste Glück darstellt, und 1984 das Haus als »innerer Halt, eine echte Bleibe des ‹Ichs›« empfunden wird, spricht das von Flucht aus der gesellschaftlichen Realität.
Im Vordergrund aber stehen in den Korrespondenzen künstlerische Fragen und Probleme, der Austausch über Arbeitsweisen und philosophische Hintergründe. Das Buch ist aus verschiedenen Perspektiven heraus eine wahre Fundgrube. Schade ist nur, dass ein für die wissenschaftliche Arbeit hilfreiches Personenregister fehlt. Ansatzpunkte und Material für die weitere Forschung insbesondere über die Kunst im Osten Deutschlands zwischen 1970 und 1989 bietet das Buch reichlich.
Manfred Zoller: Künstlerbriefe nach Rostock, Dresden, Berlin und Bergfelde, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 256 S., s/w-Abb., 30 €.