Der Schuss saß. Sein Widerhall verlor sich zwischen den dunklen Bäumen des Waldes. Ludwig Krolow senkte den Drilling, wechselte Stand- und Spielbein, entspannte sich und die Waffe. »Blatt!«, sagte Walter Meier bewundernd.
»Was sonst!«, erwiderte Krolow und stakste los, um sich sein Opfer anzusehen. Meier folgte ihm über die Lichtung. Es war früher Abend, die Sonne hatte sich hinter einigen Wolken verzogen, bald würde sie untergehen und die Dämmerung endgültig hereinbrechen.
Das Reh lag auf der Seite, blutete kaum. »Sauber hingeferkelt«, bemerkte Krolow, »und da behaupten diese grünen Fuzzis immer, das sei Tierquälerei. Ha! Idioten!«
An Einbildung und Arroganz fehlte es ihm nicht. Auch trat er gern großspurig auf, fuhr einen teuren Volvo und war immer schnieke gekleidet. Jetzt natürlich im grünen Jägerzeug; das flotte Hütchen stand ihm gut, musste Meier neidlos zugestehen.
Sie kehrten um und erreichten nach einer Viertelstunde die Jagdhütte, die mit ihrem weiträumig umzäunten Areal mitten im Wald lag. Viele Leute träumten sicher von solch einem Wochenendhäuschen, aber so etwas im Wald zu bauen war schon lange verboten. Lediglich kleine Schuppen zur Aufbewahrung von Jagd- und Pflegewerkzeugen waren erlaubt. Doch manche Schuppen wuchsen jedes Frühjahr ein wenig, bis sie schließlich eine akzeptable Größe erreichten und den Aufenthalt mit Ofen und Nasszelle angenehm machten. Passieren tat nicht viel, die meisten Jägervereine hatten prominente Mitglieder mit guten Kontakten zur Landesregierung. Die Herren Minister jagten meist selbst auch. Ab einer gewissen Position galt die Jagdflinte als Zugehörigkeitssymbol. Und wenn sie dann eingeladen wurden und ein kapitales Tier vor die Flinte kriegten, soffen sie hinterher mit und schwiegen. Einmal im Jahr fand sogar eine Prominentenjagd am Niederrhein statt, zu der auch der jeweilige Bundespräsident eingeladen wurde. Auf dem Pressefoto standen dann die erfolgreichen Jäger vor ihrer Strecke mit Häschen und Fasanen.
Die kleinen Fenster der Hütte, die mit rotweißgewürfelten Gardinen verhängt waren, ließen nur wenig Licht durch. Krolow stieß die Eingangstür auf. Lautes Stimmengewirr empfing sie, dicker Zigarren- und Zigarettenqualm hing in der Bude. Die anderen hatten bereits etliche Kronenkorken von den Stauderflaschen abgehebelt, auf dem klobigen Holztisch stand eine halbleere Flasche von Rautenbergs Rachenputzer. Das Zeug hatte Krolow, der beim Zoll beschäftigt war, billig besorgt. Was die meisten Menschen nicht wussten: der Zoll war auch im Inland tätig und für die Verbrauchsteuern, zum Beispiel die Bier- und Branntweinsteuer, zuständig. Da fiel schon mal was ab. Bei manchen Brauereien standen die Zöllner mit auf der steuerbegünstigten Haustrunkliste, das ergab zwei Kisten kostenlos pro Monat.
Der Jagdclub »Frisches Grün« war fast vollzählig anwesend, obwohl keine Jahreshauptversammlung stattfand. Aber es war einfach gemütlich in der Waldhütte. Man konnte bei Schnaps und Bier prima klönen über vergangene und künftige Heldentaten beim Jagen. Hinter der Hütte, an der mit grobem Split gesicherten Zufahrt, standen mehrere Mercedes, Krolows Volvo, ein Chevrolet und Meiers Opel-Astra.
Meier war auch beim Zoll. Allerdings arbeitete er, im Gegensatz zu Krolow, der es bis zum Oberzollrat gebracht hatte und ein Amt leitete, als Zollobersekretär im mittleren Dienst und war in der Zollabfertigung eingesetzt. Er durfte sich mit holländischen Lastwagenfahrern und Güterwaggons voller Apfelsinen und Kartoffeln herumschlagen. Das Besondere an Meier war, und deshalb gehörte er überraschenderweise dem erlauchten Jägerkreis an: Er besaß die Jagd und die Hütte! Weiß der Teufel, wie er daran gekommen war. Jedenfalls mussten die anderen ihn in Kauf nehmen.
Allerdings meinten die meisten Kollegen und Freunde, die Sache gehöre Krolow. Der trat entsprechend auf, sprach ständig von seiner Jagd. Meier war ihm sprachlich nicht gewachsen und außerdem sein Untergebener. Meier schwieg.
***
Zolloberinspektor Bernd Schäfer brauchte jeweils ungefähr ein halbes Jahr, um sich auf einem neuen Posten einzuarbeiten, um den Durchblick zu haben, wie er das nannte. Manche Kollegen lachten ihn aus und meinten, so lange dauere das bei ihnen nicht. Doch nach dem halben Jahr ließ die gewonnene Routine Schäfer Zeit, sich um manche Dinge etwas intensiver zu kümmern, als die meisten anderen das taten. Er begann zu recherchieren, Fragen zu stellen, auf die die Kollegen einsilbig oder ausweichend antworteten. Schäfer war beim Hauptzollamt Essen, das in der Innenstadt in der Nähe des Kennedy-Platzes lag, der früher einmal Gildenplatz geheißen hatte, für die Erstattung von Zöllen und Steuern zuständig. Zum Beispiel, wenn Waren ausgeführt wurden, oder wenn die lieben Kolleginnen und Kollegen einen Zoll- oder Steuerbescheid nicht ganz richtig ausgestellt hatten. Oder wenn aus dem Ausland eingeführte Waren aus irgendeinem Grund vernichtet werden mussten.
Fünfundneunzig Prozent dieser Fälle wurden Routine, aber der Rest war manchmal interessant. Für Schäfer. Sonst wäre es doch stinklangweilig im Amt, meinte er. Zum Beispiel dieser iranische Teppichhändler an der Kettwiger Straße. Der dann und wann einige Ghoms oder Täbris wieder in sein Heimatland schickte und die Eingangsabgaben wieder haben wollte. Wahrscheinlich auch so ein Länderkreisverkehr, wie er immer wieder mit Butter und Butterfett stattfand. Um die Butterberge abzubauen, gab es saftige Steuererstattungen bei der Ausfuhr. Dass die Butter dann als billiges Butterfett wieder hereinkam und als Butter erneut wieder rausfuhr, fiel leider nicht immer auf. Einmal hatte Schäfer bei dem Iraner die Bücher geprüft, die Ein- und Ausgänge abgehakt und dann nach Verkaufsbelegen gefragt. Der Mann hatte mit den Achseln gezuckt. Belege? Quittungen? Die habe er nicht. Bei ihm käme nur Laufkundschaft herein, das liefe alles per Cash, die meisten wollten keinen Beleg oder nur einen Kassenzettel. Und die habe er nicht doppelt. Was denn das Finanzamt dazu sage, hatte Schäfer gefragt. Das richte sich nach den Prüfungsvermerken des Zolls, kam zur Antwort. Schäfer hatte sich ein Grinsen verkneifen müssen. Er hatte dann Quittungsblöcke mit Durchschriften angeordnet.
***
Dann kam die Sache mit dem Getreide. Das Silo stand in der Nähe des neuen Großmarktes, der jetzt Frischezentrum hieß. Die Firma Agrar-Import KG importierte in erster Linie Weizen, lagerte ihn im Silo ein und verkaufte ihn dann peu à peu weiter. Der Weizen kam zum großen Teil aus Argentinien. Von dort gelangte auch viel Fleisch nach Deutschland, Rindersteakfleisch, an dem viel Blut hing, im wahrsten Sinn des Wortes. Aber das ist eine andere Geschichte.
Irgendwann neigte sich die Getreidemenge im Silo ihrem Ende entgegen. Durch den Druck der zig Tonnen, durch das Paradies für Ratten und Mäuse, bildete sich in der untersten Ebene des Speichers ein Getreidebrei, der nicht mehr zu gebrauchen war. Bei Öltanks nannte man das »Sumpf«. Für diese Restmenge konnten die Eingangsabgaben erstattet werden. Voraussetzung war auch hier die Vernichtung unter zollamtlicher Aufsicht. Vernichten bedeutete in diesem Zusammenhang keine andere als die vorgesehene Verwendung, sondern eine Zerstörung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Zum Beispiel Verbrennen oder Zerschlagen. Oder ab in die Kanalisation. Oder die Methode Krolow.
Seit Jahren musste das schon so gelaufen sein. Schäfers Vorgänger hatten immer anstandslos erstattet. Beim zweiten Erstattungsantrag, der auf Schäfers Schreibtisch flatterte, überraschte ihn, dass regelmäßig Obersekretär Meier zum Frischemarkt fuhr. Sonst wechselten sich die Leute ab, wurden zu zweit tätig, aber hier, das sah Schäfer in den alten Akten, fuhr immer Meier raus. Außerdem hatte er sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, wie denn das zermanschte Getreide vernichtet worden war. Vernichtet auf Nimmerwiedersehen, dem Wirtschaftskreislauf endgültig entzogen, wie es gesetzliche vorgeschrieben war. Sonst gab es keine Kohle vom Zoll.
Schäfer rief Meier an. Ob er bei der nächsten Abfertigung mit rausfahren könne? Er würde sich das gern mal ansehen. Meier begann zu stottern, brachte seltsame Ausflüchte vor. Als Schäfer insistierte, sagte Meier, er hätte in den nächsten Tagen aus anderen Gründen beim Hauptzollamt zu tun und würde das lieber unter vier Augen besprechen. Schäfer willigte zögernd ein. So erfuhr er von Krolows Methode.
Zunächst zierte sich Meier, versuchte Nebelkerzen zu werfen, doch dann packte er aus. Es stank ihm nämlich schon lange, dass der Krolow immer erzählte, er hätte eine Jagd. Wo doch er – Meier – in Wirklichkeit …
»Wie, was?«
Schäfers Gesicht wurde zum Fragezeichen. Er kannte natürlich das Gerede über Krolow, dass der ab und zu irgendwo jagte und auch gern über seine Teckel erzählte, die zur Fuchsjagd eingesetzt wurden. Die rücksichtslos ins Hundeheim kamen, wenn sie nicht richtig funktionierten. Aber weiter hatte Schäfer sich darüber keine Gedanken gemacht. Fast jeder Zöllner hatte so seine Hobbys, sonst hätte man den Job gar nicht ausgehalten. Meier hatte, obwohl ihm das Verhalten Krolows nicht passte, geschwiegen und stillgehalten. Schließlich war der als Leiter des Zollamts Essen-Segeroth, direkt gegenüber dem Puff gelegen, sein Chef.
Die Sache lief so: Die Firma meldete eine Vernichtung an, Krolow schickte in der Regel Meier. Der fuhr raus zum Silo beim Frischemarkt. Die Firma hatte dann die Weizenpampe bereits auf den Sattelschlepper gepumpt. Meier stieg zum Fahrer in die Kabine und ab ging es in die Wälder bei Kirchhellen, zu Krolows Jagdgebiet, das hieß also zu Meiers Jagdhütte. Dort wurde das Ganze ausgeschüttet und im Laufe des Winters an das Rot- und Damwild verfüttert. Zur Jagdsaison stand das Wild dann gut im Futter und Krolow und seine Schützenbrüder, auch Meier durfte ab und zu mal seinen Püster betätigen, knallten die Tiere ab. Das nannten die Jäger Hege und Pflege. Dafür wollten sie sogar öffentlich gelobt werden.
Schäfer blieb die Sprache weg. Er blickte Meier mit großen Augen an, räusperte sich, stockte. Versuchte es erneut: »Und das haben Sie mitgemacht?«
»Ich konnte doch nicht anders, der ist doch mein Chef! Außerdem hänge ich mit drin!«
»Aber …«.
Meier wurde ganz klein, blickte unglücklich, rieb sich die schweißnassen Hände.
»Damit ist jetzt Schluss!«, befahl Schäfer. Immerhin befand er sich drei Dienstgrade höher als Meier. »Und Sie fungieren als Zeuge! Dann können wir den Krolow lahmlegen, da freuen sich schon viele drauf. Der hat anscheinend noch andere Sachen auf dem Kerbholz. Das ist glatte Steuerhinterziehung, Begünstigung im Amt, Betrug, begangen durch eine Amtsperson. Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
»Nein!« Meier schrie fast auf. »Nein, nicht als Zeuge, ich kann nicht, ich habe Frau und Kinder, das geht nicht.«
»Was hat das denn damit zu tun?«
Meier zögerte, traute sich wegen des Dienstgradunterschieds wohl nicht so recht, Schäfer eine gewisse Naivität zu unterstellen. Dann meinte er: »Ja, der Krolow hat das doch immer nur mündlich angeordnet. Es gibt es keine Belege mit seiner Unterschrift. Der Einzige, der unterschrieben hat, der für die Vernichtung geradestehen muss, bin ich. Bitte, bitte.«
Meier hob die Hände, als wolle er beten, weinte fast. »Wahrscheinlich kriege ich ein Verfahren an den Hals, der Krolow redet sich doch raus, dem passiert nix.«
Das stimmte. Krolow konnte man nichts nachweisen, der würde behaupten, Meier habe ihn falsch verstanden.
»Menschenskind, Menschenskind«, murmelte Schäfer.
***
Rückwirkend war nicht mehr viel zu machen. Das meiste war verjährt, und wegen Meier musste Schäfer jetzt schweigen. Wie viele Tausender dem Staat wohl verloren gegangen waren? Schäfer rechnete die letzten Belege hoch. Einiges! Und wie raffiniert der Krolow die Ware wieder in den Wirtschaftskreislauf eingefädelt hatte! Die aßen wirklich sehr preiswert ihre frischen, zarten Rehmedaillons oder Rehnüsschen, ihre gebeizten, gespickten Hirschrücken oder das Hirschragout nach Älpler Art! Auf Steuerzahlerkosten. Auf dem Sektor passierte zwar noch mehr – aber so direkt war Schäfer damit noch nicht konfrontiert worden. Er lehnte den nächsten Erstattungsantrag der Agrar-Import KG mit der Begründung ab, die Vernichtung sei nicht nachgewiesen worden. Ab sofort war Schluss damit, es sei denn, die Firma ließ sich etwas Neues einfallen. Aber so einfach würden sie das Zeug nicht wieder loswerden. Die Firmenleute waren so klug, keinen Einspruch einzulegen und sich nicht zu beschweren.
Krolows Methode war damit erledigt. Krolow nicht. Der Adjutant hatte den Leitwolf gebremst. Erlegt hatte er ihn nicht. Weil der Muschkote gerettet werden musste.