22. Februar 2022
Besuch in meiner Stammkneipe mit dem schnörkellosen Namen »Das Lokal«. Gespräch mit meinem alten Freund Kotte. »Stell Dir vor: In der FAZ steht, dass Raucher schlechte Geldanleger sind.« »Das liegt doch nicht an uns«, brummt Kotte, »wie soll man sich auch in der Wirtschaft auskennen, wenn man ständig zum Rauchen rausgeschickt wird?«
-
-
- Februar 2022
-
Ein großer Tag. Bundeskanzler Scholz hat 100 Milliarden extra für die Bundeswehr angekündigt. Bravo! Ich habe sofort alle Freunde angerufen, mir deren Notgroschen geliehen und bin zur Bank gerannt. Das ganze Geld steckt nun in Rüstungsaktien. Einmal sofort das Richtige tun. Das Vernünftige. Denn nachhaltiger kann eine Altersvorsorge nicht sein. Ich werde einen Leserbrief an die FAZ schreiben.
-
-
- April 2022
-
Wieder mal sagenhaft deprimiert. Ideenlos, antriebslos bis zur Lähmung. Was soll nur aus der Welt, was soll nur aus mir werden? Einer der unzähligen Tage, die verstreichen, ohne auch nur die kleinste Spur zu hinterlassen. Vielleicht sollte ich nach Sonnenuntergang zur Stimmungsaufhellung ein wenig rückwärtslaufen? Gut, dass ich nicht in Devon, im US-Bundesstaat Connecticut wohne. Dort gibt es ein ausdrückliches Verbot, nach Sonnenuntergang rückwärtszulaufen. Wer es tut, macht sich strafbar und wird als psychisch krank eingestuft. Dabei ist es nun wirklich das Normalste von der Welt, nach Sonnenuntergang rückwärtszulaufen. Die meisten Politiker dieser Tage machen es sogar schon vor Sonnenuntergang.
-
-
- April 2022
-
Als ich eine junge Frau war, war Italien mein Sehnsuchtsland. Meine Vorstellungen von Italien waren allein durch Filme geprägt. In Italien, so lernte ich dort, gibt es zahllose kleine enge Straßen mit leicht heruntergekommenen und deshalb besonders schönen Häusern; an den winzigen Balkonen hängt die frische Wäsche, vor den Haustüren stehen Plastikstühle, dort oder an den Fenstern sitzen oder stehen die Menschen, reden laut und fröhlich miteinander, alles ist chaotisch und laut und anarchisch, Vorschriften und Gesetze werden augenzwinkernd ignoriert. Jeder kennt seine Nachbarschaft und die Sorgen, niemand ist dort je allein. Und immer scheint die Sonne. Das war mein Italien: Ein Paradies. Mein italienischer Theaterheld Dario Fo mit seinem lebendigen politischen Theater passte dazu. Spätestens als die Italiener, was ich ihnen niemals zugetraut hätte, sich von einem Tag auf den anderen und ohne jeden Widerstand an das Rauchverbot hielten, habe ich mein Bild vom widerständigen, anarchistischen Italien begraben. Ciao, paradiso! Trotzdem hat mich eine Nachricht aus der FAZ von heute doch noch getroffen. Ausgerechnet in Italien, in Bologna, wird gerade das erste europäische Sozialkreditsystem entwickelt. Unter dem Namen »Smart Citizen Wallet« soll es den Bürgern vom Herbst an mittels einer App auf dem Mobiltelefon das Sammeln von Tugendpunkten erlauben. Wer nachweislich den Müll getrennt oder öffentliche Verkehrsmittel benutzt hat oder wer nie im Parkverbot stand, erhält Gutschriften. Wofür stand nicht in der FAZ. Wahrscheinlich für eine Reise nach China. Dort ist der staatliche Weg, mit Hilfe der Vergabe oder des Entzugs von Sozialpunkten die totale Kontrolle über die Bürger zu erhalten, schon weit fortgeschritten.
-
-
- Mai 2022
-
Habe geträumt, ich säße in einem Führungskräfteseminar mit Götz Werner, dem Gründer der DM-Drogerie-Kette. Er sagte zu mir: »Wer etwas will, der findet Wege. Wer etwas nicht will, der findet Gründe.« Und der Seminarleiter ergänzte beflissen: »Der Gewinner ist immer ein Teil der Lösung, der Verlierer ist immer ein Teil des Problems.«
Als ich endlich – schweißgebadet - aufwachte, saß der Schriftsteller Somerset Maugham auf meinem Bett, um mich zu trösten: »Nur ein mittelmäßiger Mensch ist immer in Hochform.«
-
-
- Mai 2022
-
Die Durex-Kondom-Werbung sagt: Alle drei Minuten infiziert sich ein Mensch mit einer Geschlechtskrankheit. Die Parship-Werbung sagt: Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über Parship. Überlege seit Stunden, ob es da einen Zusammenhang gibt.
-
-
- Juni 2022
-
Corona, Krieg, Hunger, Klima, Inflation – und dann noch die Grünen. Wie soll ich alle diese Krisen verkraften? GOTT SEI DANK ist die Dombuchhandlung nur drei Minuten entfernt. Ein Großeinkauf fürs Überleben:
- Mehr als alles hüte dein Herz: In Gottes Liebe aufatmen.
- Ich bin bei dir: 366 Liebesbriefe von Jesus.
- Wenn du für Sonne betest, lass den Schirm zu Hause: Von erhörten Gebeten
und anderen Wundern.
- Tauche die Psalmen in Farbe: Ein christliches Ausmalbuch für Erwachsene.
- Endzeitgebete der geistlichen Kriegsführung.
So viel tröstendes Papier. Der Monat ist gerettet.
(Übrigens: Alle diese Bücher sind in den vergangenen zwei Jahren erschienen.)
-
-
- Juni 2022
-
Habe eben ein Video von Amazon gesehen. »Alexa«, fragt dort ein kleiner Junge die virtuelle Assistentin, »kann bitte meine Oma das Märchen vorlesen?« Nach einer kurzen Bestätigung ändert sich die Stimme von Alexa. Sie klingt nun wie die verstorbene Großmutter des Jungen. Behauptet in dem Video jedenfalls Alexa-Forschungschef Robit Prasad. Nur eine 60 Sekunden lange alte Aufnahme der Oma habe ausgereicht, ihre Stimme zu synthetisieren und für das Vorlesen des Märchens authentisch klingen zu lassen. Möglich sei das mit Hilfe einer neuen, von Amazon entwickelten Form der Sprachsynthese. Noch ist diese Technik in der Entwicklungsphase, aber schon bald sollen alle Alexa-Geräte mit der Funktion Sprachsynthese ausgestattet sein. Denn Amazon will uns trösten. Viele Menschen, so Robit Prasad, hätten in der Pandemie Familienmitglieder oder Freunde verloren. Künstliche Intelligenz könne den Schmerz des Verlustes zwar nicht aus der Welt schaffen, aber sie könne die Erinnerungen an diese Menschen bewahren.
Welche Möglichkeiten, gerade in diesen Zeiten! Putin spricht Lord Voldemort und Selenskyj den Terminator. Gefallene Soldaten schicken ihren Frauen und Freundinnen noch einen nachträglichen Gruß, verstorbene Kinder sprechen Gedichte zum Muttertag, Hungertote können Kalorientabellen vorlesen, im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge die Europahymne anstimmen.
Aber ich will von dem Elend der Welt nichts wissen und bin schon auf der Suche nach einer alten Sprachaufnahme meines Vaters. Der hat mir zwar nie Märchen vorgelesen, aber jetzt kann ich ihn zu einem ganz neuen Vater werden lassen. Und Horst, der meine Verliebtheit nie erwidert hat, muss mir in Zukunft täglich Liebesgedichte ins Ohr flüstern. Danke Amazon. Danke Alexa.
-
-
- Juni 2022
-
Wenn Rettungsschwimmer einen Menschen aus dem Meer retten wollen, nehmen sie nicht den kürzesten Weg, also die Luftlinie, sondern den schnellsten. Weil sie sich durchs Wasser nicht so schnell fortbewegen können wie an Land, laufen sie so lange wie möglich am Strand, bevor sie sich ins Wasser stürzen. Ameisen, so haben Zoologen der Universität Regensburg bei Versuchen mit der Kleinen Feuerameise festgestellt, machen es genauso. Statt des kürzesten Wegs zur Nahrungsquelle nutzen sie den schnellsten, also einen Weg mit möglichst wenigen abbremsenden Oberflächen. Heute lese ich in der Zeitung: Delikte wie Schmuggel, Ladendiebstähle oder Schwarzfahren werden in Polizei- und Fahnder-Fachkreisen auch Ameisenkriminalität genannt. Tolles Wort. Und genau auf den Punkt. Ladendiebe und Schwarzfahrer sollten eben vor allem schnell sein. Ich wünsche Euch gute Kondition und viel Glück!
-
-
- Juli 2022
-
Auch heute mit meinem Freund Kotte im »Lokal«. Wie immer will er zunächst von mir wissen, was denn heute Wichtiges in der Zeitung stand. »Meine persönliche Presseschau« nennt er das grinsend. Ich erzähle ihm von der blöden Spiegel-online-Autorin, die Lügen über Thomas Gottschalk verbreitet hat. Er habe sich, so behauptet sie, in einem Interview mit der Süddeutschen über die junge Generation aufgeregt, weil sie so weichgekocht und ängstlich sei und sich nicht mehr traue, Witze auf Kosten anderer zu machen. »Aber das stimmt nicht«, rege ich mich auf, »tatsächlich hat er gesagt, dass die junge Generation heute so weichgekocht und so ängstlich auf Erfolg bedacht sei. Und dass keiner etwas falsch machen, etwas riskieren, lustig sein will.« »Und warum macht Dich das so wütend?« fragt Kotte. »Weil Journalismus immer häufiger nur noch Aktivismus ist. Shitstorm statt Recherche.« Das falsche Gottschalk-Zitat, erkläre ich Kotte, sei ein gutes Beispiel dafür, wie man den vorgeblichen Feinden des politisch Korrekten einfach eine schlechte Haltung unterstellt, die dann als Beleg für den eigenen supermoralischen Standpunkt taugt. »Gottschalk will angeblich Witze auf Kosten anderer machen. Was bedeutet, so schreibt die Autorin, Witze auf Kosten von Schwächeren. Die These und die Schlussfolgerung sind frei erfunden. Egal. Beides dient der Pointe: Der Selbstdarstellung der moralischen Überlegenheit: Die neue bessere junge Generation tritt in ihren Witzen nämlich nicht mehr nach unten, sondern – ich zitiere – lieber nach oben. Zum Beispiel gegen alte weiße Männer. Und das könne ziemlich lustig sein.«
»Sind denn alte weiße Männer oben?«, fragt Kotte. »Schau mich an: Der höchste Platz, den ich je eingenommen habe, ist dieser Barhocker.« Kotte bestellt noch ein Bier. Trinkt es in einem Zug aus. »Mich verletzt diese Beschimpfung als alter weißer Mann. Ja, ich bin alt. Und ich bin weiß. Das ist weder ein Verdienst noch ein Fehlverhalten. Doch jeder, der alt und weiß ist, darf als Idiot beschimpft werden? Ist ein Sexist? Ein Rassist? Verteidigt nur seine Pfründe?«
»Damit musst Du wohl klarkommen«, scherze ich bemüht und küsse Kotte auf die Wange. Doch nun ist er wütend: »Sind nicht immer die oben, die die Meinungsführerschaft haben? Die, die den Diskursraum beherrschen? Also die, die mich treten? Und zwar von oben nach unten.«
-
-
- Juli 2022
-
Für einen Tag sind Corona, Krieg und alle anderen Krisen vergessen. Die Medien haben ein wichtigeres Thema. Die pompöse Hochzeit von Christian Lindner mit der RTL-Springer-Journalistin Franca Lehfeldt auf Sylt. Linder, so lerne ich während der Dauerberichterstattung, besitzt eine deutsche Rennlizenz, den Sportbootführerschein See, den Fischereischein und er hat in Mecklenburg-Vorpommern die Jägerprüfung abgelegt. Großzügig teile ich mein neu erworbenes Wissen abends im »Lokal« mit meinem Freund Kotte. »Passt doch«, brummt Kotte in sein Bier, »die Rennlizenz für den Porsche-Freund, der Sportbootführerschein See für die Überführung von Flüchtlingen in die von ihm geforderten Flüchtlingslager in Nordafrika, den Fischereischein für die dicken Nebeneinkünfte und den Jagdschein für die Hartz-IV-Empfänger.« Kotte schweigt nachdenklich. Ich bestelle ihm noch ein Bier. Das bringt ihn wieder zum Reden: »Der Mann hat es richtig gemacht. Das sagt mir mein Arzt auch immer: Ich soll den Sport in mein Leben integrieren.«
-
-
- Juli 2022
-
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann behauptet: »Wer sich freut, denkt nicht.« Was meine Erfahrung bestätigt: Wer zu viel über den Zustand der Welt nachdenkt, dem kann der Spaß wirklich vergehen!
-
-
- Juli 2022
-
Warum wachsen Haare eigentlich nach, Zähne aber nicht?
-
-
- Juli 2022
-
Der Champagner-Verkauf hat 2021 einen neuen Rekord verzeichnet. Weltweit wurden 322 Millionen Flaschen verkauft und damit 32 Prozent mehr als 2020. Der Umsatz betrug 5,5 Milliarden Euro. Noch im Januar dieses Jahres erwartete der Dachverband der Champagner-Produzenten, das »Comité Champagne«, für 2022 ein weiteres Plus. Doch dann verbot die EU im März den Verkauf von Champagner nach Russland. Die Champagner-Produzenten werden sich trotzdem keine Sorgen machen müssen. Ich bin sicher, dass in den feinen Büros der vielen Rüstungskonzerne täglich zur Happy Hour mit Champagner auf den Krieg in der Ukraine angestoßen wird. Und auf die steigenden Aktienkurse.
-
-
- Eine Überschrift vom Januar (!) auf der Homepage von LYNX, einem niederländischen Online-Broker: »Rüstungsaktien: Kaufen, bevor die Kanonen donnern?«
-
-
-
- Juli 2022
-
Wenn ich – wie heute - den Boden unter den Füßen verliere, wenn mir die Welt als schwankendes Floss auf einem mörderischen Strudel erscheint, überall Krisen, überall Katastrophen, dann lese ich in meiner Sammlung kurioser Schlagzeilen. Beruhigende Fundstücke aus dem wahren Leben:
»Sächsische Polizei fahndet nach Schaufensterpuppe.«
»Schaffner schmuggelte kistenweise Staubsaugerbeutel.«
»Entlaufene Kuh taucht vor McDonalds auf.«
»Mann will unbedingt zurück ins Gefängnis.«
»Socken und Glühbirnen – Haustiere fressen alles.«
»Betrunkene Corona-Infizierte lecken Sitze in Polizeiwagen ab.«
-
-
- Juli 2022
-
Gestern gab es im Hinterzimmer meiner Lieblingsraucherkneipe »Das Lokal« einen Wettbewerb. Die Idee stammte von meinem Freund Kotte. Er hatte mit einem Rubbellos einen Gutschein gewonnen – für den Workshop »Resilienz: Der Umgang mit Stress«, der in einem Yoga-Haus irgendwo in Brandenburg stattfinden würde und laut Beschreibung »in Zeiten der Krisen eine lebenswichtige Hilfe« sei. »Den soll jemand bekommen, der es wirklich nötig hat« verkündete Kotte grinsend und dachte sich bei einigen Bier den Wettbewerb aus. Neuer Gewinner des Workshops sollte derjenige sein, der am schönsten das Wort »Weltuntergang“ vortragen oder vorspielen würde. Singend, tanzend, mit und ohne Playback, verkleidet, mit selbst gemalten Transparenten…
Kotte war Feuer und Flamme für seine Idee. Und lief zu ungewöhnlicher Aktivität auf. Er überredete seinen Freund Gerd, sich zur musikalischen Begleitung ans Klavier zu setzen; er mietete eine Karaoke-Anlage, er stellte aus den Stammgästen des »Lokals« eine fünfköpfige Jury zusammen und kopierte 500-mal einen Werbe-Handzettel, in der er zu einer »Weltuntergangsparty« einlud. Beim Bier erzählte er mir vom Halley’schen Kometen, der bei seiner vorletzten Annäherung an die Erde im Jahre 1910 eine Art Massenpanik auslöste. »Die Wissenschaft hatte angeblich herausgefunden, dass der Kometenschweif giftige Gase, nämlich Blausäure, enthält. Und natürlich haben clevere Geschäftsleute mit dieser Angst eine Menge Geld gemacht. Sie verkauften Gasmasken für den Ernstfall, Flaschen mit Atemluft und sogenannte Kometenpillen. Und die Menschen konnten nicht genug davon bekommen.«
Doch nicht alle hatten damals Angst – im Gegenteil. In der jungen Generation herrschte geradezu lustvolle Weltuntergangsstimmung. Besonders junge Künstler litten unter der starren und spießigen Gesellschaft des Kaiserreiches und suchten den Kick. Die größte Nähe des Kometen zur Erde und damit der Weltuntergang waren für den 18. Mai 1910 angekündigt. In Paris gab es Kometensoupers, in Madrid pilgerten die Menschen zu den höchstgelegenen Plätzen der Stadt, in Rom blieben Cafés und Restaurants rund um die Uhr geöffnet und in Berlin gab es Hunderte von Weltuntergangspartys, bei der »Kometenbowle« mit deformierten Eisklumpen serviert wurde. In diesen Tagen schrieb der deutsch-jüdische Dichter Jakob von Hoddis sein Gedicht »Weltende«, das 1911 in der Berliner Zeitschrift Der Demokrat erstmals veröffentlicht wurde und als eines der ersten Werke des Expressionismus gilt. »Weltende«, das es in nur acht Zeilen schafft, auf das bröckelnde Kaiserreich, den entgleisenden technischen Fortschritt und die Sensationslust der Medien hinzuweisen, wurde zum Kultgedicht:
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Das Weltuntergangsfest im »Lokal« war dann einfach großartig. Bastienne trug mit einer pinkfarbenen Boa um den Hals das Gedicht »Weltende« von Else Lasker-Schüler vor: »Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen.«. Gerd improvisierte dazu am Klavier. Uli parodierte in einer geliehenen Soldatenuniform und mit Hilfe der Karaoke-Anlage den Schlager »Am 30. Mai ist der Weltuntergang« aus dem Jahre 1954; Daniela hatte auf Dutzende von bunten Zetteln die vielen neuen und alten Krisen aufgeschrieben und diese Zettel an ihr langes schwarzes Kleid geheftet: Coronakrise, Bildungskrise, Wirtschaftskrise, Weltwirtschaftskrise, Brexit, Regierungskrise, Kinokrise, Theaterkrise, Medienkrise, Immobilienkrise, Finanzkrise, Bankenkrise, Lieferkettenkrise, Rechtsstaatskrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Hungerkrise, Ukrainekrise… Auf sehr hohen Absätzen und mit Zigarettenspitze stolzierte sie durch das Lokal und jubelte immer wieder bühnenreif: »Das haben wir alles überlebt!«. Wolfgang hatte sich eine Art Blaulicht mit Sirene auf den Kopf geschnallt und trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »Achtung, Weltuntergang«. Kotte trug mit leichter Ironie das Weltende-Gedicht von Jakob von Hoddis vor und zum Schluss des noch viel umfangreicheren Wettbewerbsprogramms sang Gerd »The Future« von Leonard Cohen: »Ich habe die Zukunft gesehen. Es ist Mord!«
Neben den üblichen Getränken gab es amerikanischen Bourbon Whisky und russischen Wodka, um das ersehnte Friedensabkommen herbeizutrinken. Später, betrunken und in bester Weltuntergangslaune, grölten wir zur Karaoke-Anlage »Highway To Hell« von AC/DC oder »Sag alles ab« von Tocotronic.
Den Wettbewerb gewonnen hat übrigens Franziska, die sich im kurzen goldenen Kleid als die berühmte Berliner Hetäre Salomé Balthus ausgab und die Aufforderung »Komm zu mir, ich bin Dein Weltuntergang« mit ihrer rauchig-erotischer Stimme in jedes geneigte Ohr hauchte. So schön kann Krise sein.
-
-
- Der Gutschein für den Workshop hat übrigens keinen Abnehmer gefunden.
-
-
-
- Juli 2022
-
Ein Tag auf dem Sofa. Der Fernseher läuft. Bloß keine Nachrichten, heute nicht. Bloß nichts vom Krieg. Auf 3sat läuft die Dokumentation »Tierische Freaks«. Bei den Seepferdchen bringt der Vater die Jungen zur Welt; der Kolibri ernährt sich von Blütennektar, Insekten und Spinnen; Saiga-Antilopen tragen wahre Rüssel im Gesicht; Faultiere fallen durch extrem langsame Bewegungen auf. Mehr kann ich heute nicht erzählen.
-
-
- August 2022
-
Ich träume von einem Tag, an dem alles, wirklich alles erledigt ist.
Wie wäre es, die unangenehmen Dinge des Lebens am Stück hinter sich zu bringen? Im Januar alle Zahnarztbesuche, im Februar alle Steuererklärungen, im März bei Tag und bei Nacht die gesamte Treppenhausreinigung zwischen erster Wohnung und Altersheim. Sie verstehen das Prinzip? Und im Dezember – bei Spekulatius, Kerzenlicht und besinnlicher Marschmusik – alle süßlichen Weihnachtsansprachen, alle heuchlerischen Sonntagsreden, jedes Gedenktag-Erinnerungsgeschwätz, jede noch so unaufrichtige Friedensrede. Danach die Silvesterböller eines ganzen Lebens – all die Wut, all die Enttäuschungen, all die politischen Lügen mit einem stundenlangen Feuerwerk in den Himmel gejagt! Und dann wäre es endlich still.
-
-
- August 2022
-
Es gibt in diesen Zeiten häufig Tage, an denen mich die Zeitungslektüre einfach nur noch verzweifeln lässt. Heute ist es die Süddeutsche, die mir Angst macht. Es geht um Shitstorms, in diesem Fall gegen Prominente, und nicht jeder Shitstorm, meint die Autorin, sei so einfach abzutun.
Zum Beispiel der Schriftsteller Daniel Kehlmann. Der hatte sich in der FAZ, wie die Süddeutsche Dame es formuliert, »ungewöhnlich polemisch gegen eine erneute Maskenpflicht ausgesprochen«. Doch auf die heftige Kritik, die Kehlmann wegen seiner Ablehnung der Maskenpflicht auf Twitter entgegenschlug, habe er nicht reagiert. Die SZ-Autorin ist der Ansicht, »dass man sich heute erklären muss, um sich von einer Ecke zu distanzieren, der man nicht zugerechnet werden will«. Ich weiß nicht, woher die Autorin ihre Überzeugung nimmt, dass Daniel Kehlmann nicht einer bestimmten Ecke (gemeint ist sicher die »Querdenker«-Ecke) zugerechnet werden will. Vielleicht ist es ihm auch einfach egal, was irgendwer auf Twitter pöbelt. In Ihrer Formulierung bietet die SZ-Dame Daniel Kehlmann aber großzügig noch eine Chance: Distanziere Dich von der falschen Ecke und erkläre, dass Du die Ablehnung der Maskenpflicht nicht so ernst gemeint hast – und schon bist Du wieder Teil der Gemeinschaft.
-
-
- August 2022
-
Ich drucke, um etwas gegen meine anhaltende seelische Übelkeit zu tun, den Gastbeitrag von Daniel Kehlmann in der FAZ aus und nehme ihn am Abend mit ins »Lokal«, um ihn meinem Freund Kotte vorzulesen: »Hör zu, das ist wirklich ein guter Text. Kehlmann fragt, ob wir auf Dauer die maskierte Gesellschaft wollen.« Kotte braucht erst ein frisches Bier, dann lässt er sich vorlesen:
»Der Herbst kommt, und der Deutsche verhüllt sein Gesicht. So sieht die gesellschaftspolitische Vision der Regierung aus. Alles, was man einst gegen religiöse oder politische Vermummung eingewendet hat, scheint plötzlich nebensächlich, und der Umstand, dass es in Deutschland bereits unzählige Kinder gibt, die das menschliche Gesicht für etwas Obszönes halten, das man ebenso wenig entblößt herumtragen sollte wie Gesäß und Genital, scheint nicht wichtig gegenüber der Gefahr einer Krankheit, die zwar jetzt gerade gebannt sei, aber im Herbst wieder mit Wucht zuschlagen werde.
Doch ist das überhaupt so? Die Impfung funktioniert schließlich im Herbst so gut wie im Sommer, und wenn man den Virologen glauben darf, ist es weder möglich noch nötig, zu vermeiden, dass wir uns alle in den kommenden Jahren wiederholt infizieren: Die Impfung sei gewissermaßen das Aufspringen auf einen fahrenden Zug, so Christian Drosten in seinem Podcast; sei man einmal auf diesem Zug, so rolle er, und das Immunsystem erfahre immer neue Updates durch die Krankheit selbst. Mit anderen Worten: Wir werden uns alle mit Covid infizieren, und zwar wieder und wieder; das ist in keiner Weise erfreulich, aber es ist auch dank der Impfung keine Katastrophe mehr. Die Regierung gibt das durchaus zu, und zugleich will sie bald die Maske zurückbringen. Es werde jeder Corona bekommen, aber es müsse unbedingt verhindert werden, dass die Leute Corona bekämen. Wie löst sich dieses Paradox, das in keinem anderen westlichen Land herrscht?«
»Ach, lies selbst«, unterbreche ich meinen Vortrag. Ich brauche jetzt auch erst mal ein Bier.
Ich bin sicher, Daniel Kehlmann wird der moralinsauren Aufforderung der SZ-Autorin zu einer Entschuldigung nicht nachkommen. Warum auch? »Der Mensch gewöhnt sich verblüffend schnell an zivilisatorische Einschnitte«, hat Daniel Kehlmann auch geschrieben. Schlimmer noch. Als begeisterter Anhänger staatlicher Erziehungsmaßnahmen denunziert der um Orientierung flehende Untertan mit Vorliebe jene, die nicht strammstehen wollen.
-
-
- August 2022
-
Ich bin immer noch mit der für den Herbst angekündigten Maskenpflicht beschäftigt. Die ja wegen der komplizierten Einlassregel zum Beispiel in der Gastronomie auch noch mit einem subtilen Impfzwang verbunden werden soll. Soll es nie aufhören mit der Maskenpflicht? Eine erschreckende Antwort auf diese Frage kam neulich von der Bundestagspräsidentin. Eine Maskenpflicht vom Herbst bis zum Frühling sei ja »auch wegen anderer Infektionskrankheiten angeraten«.
Ich frage mich, woher wir früher den Mut genommen haben, ohne Masken durch die Welt zu laufen und anderen Menschen ohne Maske zu begegnen. Das Gesicht war schon immer gefährlich, aus Nase und Mund kommen ständig Viren und Bazillen, Atem und Speichel bergen die Gefahr von Ansteckung. Ekelhaft.
Ich plädiere schon lange für das Ganzkörperkondom mit Tauchermaske. Ich sollte einen Termin mit Herrn Lauterbach vereinbaren. Der wird mich verstehen.
-
-
- August 2022
-
Noch einmal reisen, bevor auch das Kerosin rationiert wird (Achtung: Ölkrise!). Natürlich eine Bildungsreise. Bildung, habe ich gerade gelesen, formt Menschen zu wertvollen Persönlichkeiten in der Gesellschaft. Meine Reiseziele: Erst Russland und dann die USA. Wertvolle Persönlichkeiten werden an beiden Orten dringend gebraucht.
Die Flüge (Berlin-Baku-Moskau mit Azerbaijan Airlines und Frankfurt-New York mit der Lufthansa) sind gebucht. Auch habe ich mir schon die wichtigsten Notfallsätze für beide Staaten in Russisch bzw. Englisch notiert.
Für Russland: Я также не верю в свободу самовыражения.
Ich halte auch nichts von Meinungsfreiheit.
У меня нет никаких контактов с гражданами США.
Ich pflege keinerlei Kontakte zu US-Bürgern.
Да, да - конечно, Россия является сверхдержавой.
Doch, doch – natürlich ist Russland eine Supermacht.
Дайте миру шанс!
Gebt dem Frieden eine Chance!
Für die USA:
I don’t believe in freedom of speech either.
Ich halte auch nichts von Meinungsfreiheit.
I don’t have any contacts with Russians.
Ich pflege keinerlei Kontakte zu Russen.
Yes, yes – of course the USA is a superpower.
Doch, doch – natürlich sind die USA eine Supermacht.
Give peace a chance!
Gebt dem Frieden eine Chance!
-
-
- August 2022
-
Stelle mir oft vor, wie wohl meine letzten Stunden, Minuten, Sekunden auf dem Erdenrund verlaufen. Angeblich soll ja das gesamte Leben noch mal Revue passieren. Bloß nicht. Dafür führe ich Tagebuch. Was ich aufgeschrieben habe, ist quasi entsorgt. Mein letzten – atemlosen – Gedanken auf dem Sterbebett werden sein: Warum konnte Helene Fischer nicht vor mir sterben? Warum ist Annalena Baerbock nicht einfach Hausfrau und Mutter geworden? Und noch ein letzter Wunsch: Nie mehr die Meisterschaft für Bayern München. Sonst kriege ich die Krise.