Ob mir nicht vielleicht etwas zum Thema Krisen & Kampfzonen einfiele, wurde ich von der Herausgeberei gefragt. Mein erster Gedanke dazu war gar nicht von mir, sondern von einem unbekannten Denker: »Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten.«
Natürlich fällt mir was zum Thema Krisen ein – ich kriege doch seit Wochen eine nach der anderen. Und zwar in der Kampfzone »kulturelle Aneignung«. Jetzt sollen die Frisuren von Musikern schon wieder eine Rolle spielen.
Frisuren. Im Jahr 2022.
Im Jahr 1969 war ich neunzehn. Und hatte mich, nach abgebrochener Gymnasialzeit, abgebrochener Lehre und einer spontan hingeworfenen Karriere in der Hotelbranche endgültig entschieden: Ich wollte Musiker sein. Ich würde Musiker sein.
Rockstar, genauer gesagt. Und so sah ich auch sehr schnell aus. Ich hatte nicht nur bereits fünf Jahre damit verbracht, ein Instrument zu lernen, sondern auch zwei Jahre, mir die Haare wachsen zu lassen. Damals war es undenkbar, mit dem gewohnten Façonschnitt auf eine Bühne zu klettern und zum Beispiel Get off of my cloud oder It’s my life and I do what I want zu singen. Und außerdem: War es nicht mein Leben?
Nicht ganz, offenbar. Bauarbeiter pfiffen mir auf der Straße hinterher und nannten mich Susi, andere fragten mich, ob ich schwul sei, und brave Familienväter schimpften mich Gammler und forderten mich empört auf, doch »nach drüben« zu gehen. Womit sie weder die andere Straßen- noch die andere Rheinseite meinten, sondern das, was seinerzeit noch die Ostzone genannt wurde. Ich wurde definiert über die Länge meiner Haare. Und ja, sie waren lang, überschritten nicht nur die kritische Bis-über-den-Kragen-Grenze, sondern reichten mir bis zu Schulterblättern und Brustwarzen. Ein Skandal.
Der sich gelegentlich durchaus zur Kampfzone ausweiten konnte. In einem Bus der Kölner Verkehrsbetriebe beispielsweise, um elf Uhr abends. Ich hatte gerade meine Freundin nach Hause gebracht und war auf dem Rückweg in die Innenstadt. Noch sieben Stationen. An der zweiten stiegen vier Kegelbrüder zu. In Hochstimmung, weil sie etliche Runden intus hatten, in mieser Stimmung, weil sie mehrere dieser Runden verloren hatten.
Da kam ich ihnen gerade recht.
»Och, guck mal, was ’ne hübsche Mitfahrerin!«
»Ach nee, das ist ja gar kein Mädchen – was ist, hat dein Friseur sich den Arm gebrochen? Ha ha ha!«
In einer solchen Situation hat man nur eine geringe Auswahl an Optionen. Stumm vor sich hinblicken und das Ganze aussitzen, bis es ihnen langweilig wird (denen hier würde es so schnell nicht langweilig werden). Aufstehen und an der nächsten Station aussteigen (aus dem letzten Bus des Abends?). Zum Busfahrer gehen und um Beistand bitten (diesen beifällig in den Rückspiegel grinsenden Typen?). Ich entschied mich, meiner Laune entsprechend, für Option vier (die Freundin war spät dran gewesen, und der Abschied entsprechend kurz und keusch ausgefallen).
»Nee, ich hab ihm den Arm gebrochen«, sagte ich also zu dem Kegelbruder, der neben mir stand und doch tatsächlich nach meinen Haaren griff. »Finger weg!«
Na ja, um es kurz zu fassen – es hatte sich mal wieder gelohnt, dass ich mich seit fünf Jahren zwei Mal die Woche zum Training in einem Boxverein gequält hatte. Am Ende musste ich nur noch zwei Stationen zu Fuß gehen, weil der Fahrer gedroht hatte, die Polizei zu rufen, wenn ich nicht sofort ausstiege. Als schwuler sozialistischer Gammler auf einem Polizeirevier zu landen war nicht gerade meine Vorstellung von amüsanter Abendgestaltung.
Ja, ich weiß: Von kultureller Aneignung war bisher noch gar nicht die Rede. Auf die Idee wäre damals wohl auch niemand gekommen. Es wäre aber auch keinem Konzertveranstalter in den Sinn gekommen, einen Auftritt abzubrechen, weil ein paar besonders empfindliche Leute im Publikum sich beim Anblick unserer Frisuren »unwohl gefühlt« hätten.
Auf so etwas musste man dann noch fünfzig Jahre warten.
Der Auftritt einer weißen Sängerin mit Rasta-Locken auf einem Rockfestival (einem Fridays-for-Future-Festival übrigens) wird nach Protesten vom Veranstalter abgesagt. Ein Konzert in Bern wird abgebrochen, weil einige der Musiker Dreadlocks tragen.
Wer protestiert da, und warum?
Sie nennen sich »woke«. »Woke«-Leute haben, nach eigener Definition, ein besonders geschärftes Bewusstsein für Sexismus, Transfeindlichkeit und Rassismus. Ihrer Logik zufolge hat es zumindest einen Ruch von rassistischem Verhalten, wenn man sich als Mitglied einer Mehrheit kulturelle Elemente einer Minderheit zu eigen macht. Würde ich mir Dreadlocks wachsen lassen, hätte ich also mit denen ein Problem. (Allerdings nicht nur mit denen – mein erstes Problem wäre, dass mir in meinem Alter nicht mal mehr ein Crewcut wachsen will.)
Hätte ich es aber darauf angelegt, mich mit denen anzulegen, könnte ich mir ein paar Maori-Tattoos stechen lassen. Hätte zudem den Vorteil, dass Maori-Tattoos aus Symbolen bestehen, mir also nicht wie mancher braven Hausfrau, der ich bei ALDI begegne, das chinesische Schriftzeichen für »146 – Ente süß-sauer« im Nacken prangte.
Oder ich könnte Gedichte einer farbigen Dichterin übersetzen. Oder ein Drehbuch zu einem Film schreiben, in dem nur heterosexuelle Weiße eine Rolle spielen. Oder mich erdreisten, ein Album mit Blues-Songs zu veröffentlichen. Bei einem nächsten Auftritt einen Kaftan tragen. Mich weigern, endlich auswendig zu lernen, was das Ungetüm »LGBTQIA+« bedeutet, um das dann in jedem meiner Texte zu verwenden.
Das alles mögen sie auch nicht.
Nein, sie sind nämlich »woke« – erwacht. Und »politisch korrekt«.
Find ich toll.
Also, irgendwie. Ein Stück weit.
Ich denke darüber nach, in mich zu gehen, mich als das rassistische, asexuellenfeindliche Arschloch zu outen und zu geißeln, das ich womöglich bin. Ich denke darüber nach, nach achtundfünfzig Jahren als Bassist alles aus meinem Repertoire zu streichen, was als kulturelle Aneignung verstanden werden könnte – den Blues, den Rock’n Roll, den Jazz, die afrikanische Polyrhythmik, die indischen Tonleitern, die gregorianische Harmonik, ja, den archaischen Spaß am Musizieren überhaupt. Erst recht den am gemeinsamen Musizieren mit Musikern aus aller Welt. Ich denke darüber nach, dass ich mit meinem Instrument ohne all das eigentlich gar nichts mehr anfangen kann – und mir stattdessen einen großen, runden flachen Stein zu suchen, auf dem ich mit einem selbstgeschnitzten Aststück oder einem Knochen stur einen Vierteltakt schlage.
Hm. Ich denke allerdings nur kurz darüber nach. Mir fällt nämlich ein, dass ich dann quasi Techno spielen würde – und das ist nun mal ganz und gar nicht meine Musik, sorry.
Nein, Kinners, ich denke um. Nicht zuletzt, weil ich neulich erst pinkelnd vor einem Aufkleber stand, der zu »Kein Mitleid mit der Mehrheit!« aufrief. Ich bleibe einfach, wie ich bin. Nein, ich steige jetzt nicht auf Diät-Margarine um – ich bleibe, wer ich bin, und denke, wie ich denke. Ich werde weiterhin meine deutliche Meinung zu Rassismus, Sexismus, Faschismus, Nationalismus, Patriotismus – ach was, zu jedem verdammten »ismus« kundtun, der mir unterkommt. Auch weiterhin werde ich die kölsche Erkenntnis »Jeder Jeck is anders« hochhalten und diese Andersartigkeit begrüßen. Und nicht aufhören zu betonen, dass ein »Jeck« so etwas wie ein Narr ist. Will sagen: Wir haben alle eine Ecke ab (wie man am Zustand des von uns bewohnten Planeten ja auch sehr gut sehen kann) und eine Portion mehr Närrisches, also Humor, könnte uns auf keinen Fall schaden.
Noch ein kleiner Tipp für all die Kampfzonen- und Shitstorm-Eröffner: Ich habe mal gelesen, die alten Perser hätten vor jeder die Gemeinschaft betreffenden Entscheidung zwei Versammlungen einberufen. Bei der einen erörterten sie das Thema, während sie sich bis zum Umfallen betranken, bei der anderen besprachen sie es nüchtern. Möglicherweise auch umgekehrt. Vielleicht solltet Ihr über diese Methode mal nachdenken.
Im Herbst jenes Jahres 1969 war ich übrigens mit einer Band auf Tour, deren afro-englischer Saxophonist eine extrem kurze Kraushaar-Frisur trug. Niemand von uns wäre je auf die Idee gekommen, ihm das zum Vorwurf zu machen.
Literaturhinweise:
Rich Schwab: Versacken, Kiepenheuer & Witsch, 2005
Ders.: Tom Waits & ich: Short stories (Hörbuch), Edition interface 2012
Ders.: Paaf! Der vierte Büb Klütsch-Roman, Fuego 2016