Ein fast vergessenes Wort soll Deutschland wieder erobern: »Kriegstüchtig«. Vor drei Jahren, also vor einer vielbeschworenen Zeitenwende, hätte dieses Wort gute Chancen gehabt, das Unwort des Jahres zu werden; jetzt soll es ein Friedenswort sein, stammt sein Wiederentdecker, ein Herr Pis., doch aus der »Friedensstadt Osnabrück«.
Mir selbst, der ich als »Vorkriegskind« geboren wurde, ist jenes Wort und die Sache, die es beschreibt, nämlich tüchtig zu sein für den Krieg, für die Bereitschaft zu schießen, zu töten und getötet zu werden, spätestens seit dem Sommer 1944 überaus vertraut gemacht worden, im Gegensatz zu dem Herrn Pis., der damals noch nicht leben musste.
Damals also, während des Krieges, wuchs ich in Neubrandenburg (Ostmecklenburg) auf. Die Stadt hatte durch die NS-Politik der Aufrüstung – sprich: Kriegstüchtigkeitsmachung – erheblich an Gewicht gewonnen: Hier wurden nach 1933 ein Militärflughafen (Trollenhagen), Panzerkasernen, eine Torpedoversuchsanstalt sowie das Kriegsgefangenenlager »Fünfeichen« eingerichtet. Nach dem gescheiterten Aufstand gegen das NS-Regime am 20. Juli 1944 brach hier ein nicht enden wollender Jubel aus, als bekannt wurde, dass die Schlüsselfigur bei der Niederschlagung des Aufstandes der Kommandeur des Wachbataillons »Großdeutschland«, Otto Ernst Remer, ein Neubrandenburger war. Er wurde nun »von der NS-Propaganda zur Gallionsfigur« gemacht, zu einem Vorbild an Kriegstüchtigkeit für den »Führer«. Auf dem Schulhof und in der Freizeit hieß es nun: »Was können auch wir für den Führer tun?« So übten wir spielend, wie man schießt, die Panzerfaust bedient, Panzersperren baut und damit zum Endsieg beiträgt und auch zu einem »Helden« wird. Ein älterer Schüler, der schon in der HJ war, zeigte uns Acht-/Neunjährigen, wie man auch hinter der Front den Feind durch Brandlegung besiegen kann. Er war es auch, der mich noch am Mittag des 28. Aprils zur Innenstadt mitnahm, um zu sehen, ob die Panzersperren fertig waren, so dass die Stadt dort »bis zum letzten Blutstropfen« verteidigt werden konnte.
Am Abend mussten wir die Stadt verlassen. Wir übernachteten in einem Wald auf einem offenen Wehrmachtslaster. Zwei Babys waren mit in unserem Nachtlager; sie schrien unaufhörlich, sie waren ja noch nicht kriegstüchtig gemacht worden. Deshalb wies ein Soldat sie zurecht: »Das geht hier aber nicht, euer Schreien. Wir sind hier im Kriegsgebiet. Jeder Laut kann uns verraten.« Ein anderer Soldat hatte Rum für sie zum Trinken. Das wollten ihre Mütter nicht. Der kriegstüchtige Soldat wusste: »Wenn sie ihren Rum nicht trinken, müssen wir alle sterben, ganz Deutschland auch.«
Am nächsten Morgen, dem 29. April, wurden wir Flüchtlinge in Gruppen eingeteilt und in Richtung Westen geschickt. Unser Gruppenführer in abgeschabter blauer Eisenbahneruniform war wohl wegen seines Alters nicht mehr kriegstüchtig. Er hielt eine kurze Ansprache; »Wenn Jabos kommen – in die Büsche werfen.« Los ging›s. Kurz danach blieb er stehen, zeigte auf zwei Panzer, die auf uns zusteuerten, und ließ ein weißes Laken hissen, worauf sich die Panzer, russische Panzer, von uns abkehrten. Das war von ihm zwar gegen den Willen der NS-Verfügungen gehandelt, also kriegsuntüchtig, uns aber rettete er das Leben. Kurz danach hielt neben uns ein »Kübelwagen«, in dem neben dem Fahrer ein hochdekorierter Offizier saß. Er befahl der Gruppe, aus dem Kriegsgebiet zu verschwinden, und nahm »die Frau mit den beiden kleinsten Kindern« in sein Auto. Das war unsere Familie. Er erklärte uns dann, er müsse noch einige »Gefechtsstände« anfahren. Dort sahen wir, wie er die Besatzung anwies und immer in Richtung Nordost, also Neubrandenburg, zeigte. Nachdem er die Soldaten vor ihrem Einsatz noch einmal richtig kriegstüchtig gemacht hatte, fuhren wir mit ihm noch eine Zeitlang durchs Gelände. Schließlich erreichten wir eine Hauptstraße, wo er einen Wehrmachtslaster anhielt, uns aussteigen ließ und uns nachrief: »Nach Wismar«. Heute weiß ich, dass dieser Oberkriegstüchtigmacher der Kommandeur der 281. Infanteriedivision, der Ritterkreuzträger Anton Schmid war, der Neubrandenburg verteidigen sollte. Im Netz findet sich der Hinweis, dass er am selben Tag noch, als er uns auslud, in »Weitin«, gestorben sei. Ein anderer Hinweis im »Tagebuch der 2. Belorussischen Front« weiß, dass Schmid einige Kilometer weiter, an der Zirzower Mühle, »seine Uniform samt Orden im Teich versenkte und in einem Zivilanzug« verschwand. Auch andere entzogen sich der Kriegstüchtigkeit, um zu überleben. In Malchin sahen wir, wie etliche Soldaten ihre Uniformen in einem großen Feuer verbrannten. Für sie galt nicht mehr, was wir auf einer Mauer lesen konnten: »Die Panzerfaust und deutsche Landser sind stärker als die roten Panzer«. Andere wiederum glaubten diesem Schwindel immer noch. Ich hörte, wie einige sagten: »Wir wollen nach Wismar und dort mit den Tommies gegen die Russen kämpfen.« Das war am 2. Mai 1945.
Einige Tage später endete in Europa der Zweite Weltkrieg, den Deutschland 1939 als Vernichtungskrieg mit über 60 Millionen Toten in die Welt gebracht hatte. Im Sinne des »Schwurs von Buchenwald« hieß es nun: »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«. Eine biblische Einsicht, wie Friede und Heil für die »Völker der Welt« zustande kommen, möchte ich abschließend dazu zitieren: »Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen (…) und hinfort nicht mehr lernen, Kriege zu führen« (Jesaja 2 Vers 4). Am Hauptgebäude der UNO in New York ist dieser Satz als Bronzeskulptur nachgebildet. »Kriegstüchtigkeit« soll es danach für eine friedliche und menschenwürdige Zukunft nicht mehr geben.