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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kriegstüchtig

Ein fast ver­ges­se­nes Wort soll Deutsch­land wie­der erobern: »Kriegs­tüch­tig«. Vor drei Jah­ren, also vor einer viel­be­schwo­re­nen Zei­ten­wen­de, hät­te die­ses Wort gute Chan­cen gehabt, das Unwort des Jah­res zu wer­den; jetzt soll es ein Frie­dens­wort sein, stammt sein Wie­der­ent­decker, ein Herr Pis., doch aus der »Frie­dens­stadt Osnabrück«.

Mir selbst, der ich als »Vor­kriegs­kind« gebo­ren wur­de, ist jenes Wort und die Sache, die es beschreibt, näm­lich tüch­tig zu sein für den Krieg, für die Bereit­schaft zu schie­ßen, zu töten und getö­tet zu wer­den, spä­te­stens seit dem Som­mer 1944 über­aus ver­traut gemacht wor­den, im Gegen­satz zu dem Herrn Pis., der damals noch nicht leben musste.

Damals also, wäh­rend des Krie­ges, wuchs ich in Neu­bran­den­burg (Ost­meck­len­burg) auf. Die Stadt hat­te durch die NS-Poli­tik der Auf­rü­stung – sprich: Kriegs­tüch­tig­keits­ma­chung – erheb­lich an Gewicht gewon­nen: Hier wur­den nach 1933 ein Mili­tär­flug­ha­fen (Trol­len­ha­gen), Pan­zer­ka­ser­nen, eine Tor­pe­do­ver­suchs­an­stalt sowie das Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger »Fünf­ei­chen« ein­ge­rich­tet. Nach dem geschei­ter­ten Auf­stand gegen das NS-Regime am 20. Juli 1944 brach hier ein nicht enden wol­len­der Jubel aus, als bekannt wur­de, dass die Schlüs­sel­fi­gur bei der Nie­der­schla­gung des Auf­stan­des der Kom­man­deur des Wach­ba­tail­lons »Groß­deutsch­land«, Otto Ernst Remer, ein Neu­bran­den­bur­ger war. Er wur­de nun »von der NS-Pro­pa­gan­da zur Gal­li­ons­fi­gur« gemacht, zu einem Vor­bild an Kriegs­tüch­tig­keit für den »Füh­rer«. Auf dem Schul­hof und in der Frei­zeit hieß es nun: »Was kön­nen auch wir für den Füh­rer tun?« So übten wir spie­lend, wie man schießt, die Pan­zer­faust bedient, Pan­zer­sper­ren baut und damit zum End­sieg bei­trägt und auch zu einem »Hel­den« wird. Ein älte­rer Schü­ler, der schon in der HJ war, zeig­te uns Acht-/Neun­jäh­ri­gen, wie man auch hin­ter der Front den Feind durch Brand­le­gung besie­gen kann. Er war es auch, der mich noch am Mit­tag des 28. Aprils zur Innen­stadt mit­nahm, um zu sehen, ob die Pan­zer­sper­ren fer­tig waren, so dass die Stadt dort »bis zum letz­ten Bluts­trop­fen« ver­tei­digt wer­den konnte.

Am Abend muss­ten wir die Stadt ver­las­sen. Wir über­nach­te­ten in einem Wald auf einem offe­nen Wehr­machts­la­ster. Zwei Babys waren mit in unse­rem Nacht­la­ger; sie schrien unauf­hör­lich, sie waren ja noch nicht kriegs­tüch­tig gemacht wor­den. Des­halb wies ein Sol­dat sie zurecht: »Das geht hier aber nicht, euer Schrei­en. Wir sind hier im Kriegs­ge­biet. Jeder Laut kann uns ver­ra­ten.« Ein ande­rer Sol­dat hat­te Rum für sie zum Trin­ken. Das woll­ten ihre Müt­ter nicht. Der kriegs­tüch­ti­ge Sol­dat wuss­te: »Wenn sie ihren Rum nicht trin­ken, müs­sen wir alle ster­ben, ganz Deutsch­land auch.«

Am näch­sten Mor­gen, dem 29. April, wur­den wir Flücht­lin­ge in Grup­pen ein­ge­teilt und in Rich­tung Westen geschickt. Unser Grup­pen­füh­rer in abge­schab­ter blau­er Eisen­bah­ner­uni­form war wohl wegen sei­nes Alters nicht mehr kriegs­tüch­tig. Er hielt eine kur­ze Anspra­che; »Wenn Jabos kom­men – in die Büsche wer­fen.« Los ging›s. Kurz danach blieb er ste­hen, zeig­te auf zwei Pan­zer, die auf uns zusteu­er­ten, und ließ ein wei­ßes Laken his­sen, wor­auf sich die Pan­zer, rus­si­sche Pan­zer, von uns abkehr­ten. Das war von ihm zwar gegen den Wil­len der NS-Ver­fü­gun­gen gehan­delt, also kriegs­un­tüch­tig, uns aber ret­te­te er das Leben. Kurz danach hielt neben uns ein »Kübel­wa­gen«, in dem neben dem Fah­rer ein hoch­de­ko­rier­ter Offi­zier saß. Er befahl der Grup­pe, aus dem Kriegs­ge­biet zu ver­schwin­den, und nahm »die Frau mit den bei­den klein­sten Kin­dern« in sein Auto. Das war unse­re Fami­lie. Er erklär­te uns dann, er müs­se noch eini­ge »Gefechts­stän­de« anfah­ren. Dort sahen wir, wie er die Besat­zung anwies und immer in Rich­tung Nord­ost, also Neu­bran­den­burg, zeig­te. Nach­dem er die Sol­da­ten vor ihrem Ein­satz noch ein­mal rich­tig kriegs­tüch­tig gemacht hat­te, fuh­ren wir mit ihm noch eine Zeit­lang durchs Gelän­de. Schließ­lich erreich­ten wir eine Haupt­stra­ße, wo er einen Wehr­machts­la­ster anhielt, uns aus­stei­gen ließ und uns nach­rief: »Nach Wis­mar«. Heu­te weiß ich, dass die­ser Ober­kriegs­tüch­tig­ma­cher der Kom­man­deur der 281. Infan­te­rie­di­vi­si­on, der Rit­ter­kreuz­trä­ger Anton Schmid war, der Neu­bran­den­burg ver­tei­di­gen soll­te. Im Netz fin­det sich der Hin­weis, dass er am sel­ben Tag noch, als er uns aus­lud, in »Weit­in«, gestor­ben sei. Ein ande­rer Hin­weis im »Tage­buch der 2. Bel­o­rus­si­schen Front« weiß, dass Schmid eini­ge Kilo­me­ter wei­ter, an der Zir­zower Müh­le, »sei­ne Uni­form samt Orden im Teich ver­senk­te und in einem Zivil­an­zug« ver­schwand. Auch ande­re ent­zo­gen sich der Kriegs­tüch­tig­keit, um zu über­le­ben. In Mal­chin sahen wir, wie etli­che Sol­da­ten ihre Uni­for­men in einem gro­ßen Feu­er ver­brann­ten. Für sie galt nicht mehr, was wir auf einer Mau­er lesen konn­ten: »Die Pan­zer­faust und deut­sche Land­ser sind stär­ker als die roten Pan­zer«. Ande­re wie­der­um glaub­ten die­sem Schwin­del immer noch. Ich hör­te, wie eini­ge sag­ten: »Wir wol­len nach Wis­mar und dort mit den Tom­mies gegen die Rus­sen kämp­fen.« Das war am 2. Mai 1945.

Eini­ge Tage spä­ter ende­te in Euro­pa der Zwei­te Welt­krieg, den Deutsch­land 1939 als Ver­nich­tungs­krieg mit über 60 Mil­lio­nen Toten in die Welt gebracht hat­te. Im Sin­ne des »Schwurs von Buchen­wald« hieß es nun: »Nie wie­der Faschis­mus, nie wie­der Krieg«. Eine bibli­sche Ein­sicht, wie Frie­de und Heil für die »Völ­ker der Welt« zustan­de kom­men, möch­te ich abschlie­ßend dazu zitie­ren: »Sie wer­den ihre Schwer­ter zu Pflug­scha­ren machen (…) und hin­fort nicht mehr ler­nen, Krie­ge zu füh­ren« (Jesa­ja 2 Vers 4). Am Haupt­ge­bäu­de der UNO in New York ist die­ser Satz als Bron­ze­skulp­tur nach­ge­bil­det. »Kriegs­tüch­tig­keit« soll es danach für eine fried­li­che und men­schen­wür­di­ge Zukunft nicht mehr geben.