Arthur Ponsonbys »Kritische Betrachtungen« unter dem Titel »Lügen in Kriegszeiten« sind im Jahre 2022 in deutscher Übersetzung mit der Bemerkung »Aktuelle Neuausgabe des Klassikers zur Kriegspropaganda« (Cover) wiederveröffentlicht worden. Die Verdienste Ponsonbys auf dem Gebiet der antimilitaristischen Ideologiekritik sind auch in dieser Zeitschrift in den letzten Jahren (Georg Rammer: 18/2022, Hermann Theisen: 1/2023) erwähnt worden.
Vorangestellt wird dieser Ausgabe aus guten Gründen – das englische Original erschien bereits 1928 – eine aktuelle Zusammenstellung der »Zehn Prinzipien der Kriegspropaganda«, die der Historikerin Anne Morelli zu verdanken ist (Die Prinzipien der Kriegspropaganda, 2004). So lässt sich nach der Lektüre von Ponsonbys Buch feststellen, dass die von ihm herausgearbeiteten Prinzipien auch nach fast einem vollen Jahrhundert noch in Betrieb sind; andererseits wird die Lektüre seines Buches durch Anne Morellis Liste fokussiert.
Diese Lektüre ist für das deutsche Publikum allerdings schwieriger als für das englische. Dieses dürfte es allerdings seinerseits auch nicht leicht haben, seine Darstellung im Detail nachzuvollziehen. Denn Ponsonby argumentiert bisweilen sehr kleinteilig, auf Grund von Zeitungsberichten und Politikerreden, so dass viele Namen und Ereignisse erwähnt werden, die heute auch in England kaum noch bekannt sein werden. Seine Methode war jedoch notwendig, um die jeweils angewandten Propagandatricks als solche nachzuweisen.
Er ist sehr kritisch gegenüber der Informationspolitik der britischen Regierung im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, den er wie eine Fallstudie behandelt. »Ausländische Lügen« nehmen ca. ein Achtel des Textes ein, das sich auf das Deutschland, die USA, Frankreich und Italien verteilt. (Österreich taucht bezeichnenderweise nicht gesondert auf.)
Im Folgenden muss berücksichtigt werden, dass Ponsonby bestimmte Quellen, Fakten, Zusammenhänge nicht oder nur in verfälschter Form bekannt waren. Es wäre ahistorisch, ihm daraus entstandene Fehler gesondert vorzuhalten. Es ist aber nötig, sie zu erwähnen.
Anders zu beurteilen sind allerdings Fehlurteile, die sich als Kehrseite seines – grundsätzlich nicht nur berechtigten, sondern auch notwendigen – Misstrauens gegen die eigene Regierung ergeben: Sie laufen auf die Tendenz hinaus, die Schuld des damaligen Kriegsgegners (die »Mittelmächte«, unter Führung des Deutschen Kaiserreichs) zu verkleinern oder gar zu verschieben. Hierfür sollen im Folgenden zwei Beispiele angeführt werden.
Im 2. Kapitel (»Serbien und die Ermordung des Erzherzogs«) steht für Ponsonby das Problem der britischen Regierung im Vordergrund, »den serbischen Vorfall populär zu machen«, um in den zu erwartenden Krieg eingreifen zu können: »Daher musste der serbische Fall aufbereitet und das ›arme kleine Serbien‹ als unschuldige schwache Nation dargestellt werden, die der brutalen Grausamkeit der Österreicher ausgesetzt war.« Dagegen setzt Ponsonby »Enthüllungen über die Mitschuld (Hervorhebung: L.Z.) der serbischen Regierung« aus dem Jahre 1924, wonach »das gesamte (serbische) Kabinett bereits einige Zeit vor dem Mord von der Verschwörung wusste«.
Selbst wenn die nachträglichen Enthüllungen auf Wahrheit beruhten, so bleibt doch festzuhalten, dass damit die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht bei Serbien lag (für das es nur um eine Frage des Verhältnisses zu Österreich-Ungarn gehen konnte,) sondern beim Deutschen Reich und bei Österreich-Ungarn, die aus einem lokalen Funken einen Weltenbrand entfachten.
So aber schließt Ponsonby aus der »Weigerung der serbischen Regierung, (einen gewissen) Ciganovic (dessen Herausgabe die Donaumonarchie, u. a., in ihrem Ultimatum an Serbien gefordert hatte) zu finden oder anderen zu erlauben, nach ihm zu suchen«, auf eine Mitschuld der serbischen Regierung. Daraus zieht er den (zu) weitreichenden Schluss: Dass die österreichische Regierung »deshalb zum Mittel des Krieges griff, ist nicht überraschend«. Dass Ponsonby noch nach einem Jahrzehnt nach Ende des Ersten Weltkriegs ein so krasses Fehlurteil fällt, ist bedenklich. Die gemeinsame Kriegstreiberei des führenden Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns wird hierbei ausgeblendet.
Dass die Fixierung auf die Kritik an der propagandistischen Tätigkeit des eigenen Landes den Blick verengt, zeigt sich auch im nächsten Kapitel (3). Dieses trägt die schwer verständliche Überschrift: »Der Einmarsch in Belgien als Ursache des Ersten Weltkriegs«. Allein aus dieser Formulierung wird deutlich, dass seine Optik verrutscht ist: Niemand würde im Ernst die Frage stellen, ob der Einmarsch der deutschen Truppen in das neutrale Belgien eine Ursache dieses Krieges gewesen sei. Und so konstatiert Ponsonby auch schon nach wenigen Zeilen zutreffenderweise: »Es war eine der ersten Auswirkungen des Krieges. Es war nicht einmal der Grund für unseren Kriegseintritt. «
Es zeigt sich: Ponsonby stellt die Frage der Begründung der britischen Regierung für einen Kriegseintritt in den Vordergrund. Er spricht verharmlosend von einem »verhängnisvollen Fehler von Deutschland« und bewertet den völkerrechtswidrigen Einmarsch als »ein Geschenk des Himmels« »für die Regierung und die Presse« Den deutschen Einmarsch nach Belgien bewertet er, einige Seiten später, mit beschwichtigenden Worten: »Es gibt keine Nation, die sich nicht eines Vertragsbruches schuldig gemacht hat. Nach der Erklärung eines Krieges werden ständig Verträge gebrochen.«
Diese historischen Fehlurteile zeigen die Schattenseiten dieses Klassikers der Kriegspropaganda: So verdienstvoll die Herausarbeitung der propagandistischen Mechanismen vor bzw. in Kriegen, so gefährlich ist der Versuch, auf dieser Grundlage ein alternatives Geschichtsbild zu entwerfen.
Ponsonbys Leistung im Bereich der Entlarvung von Kriegspropaganda ist unbestreitbar. Aber sie muss »vom Kopf auf die Füße« gestellt werden. Das ahnte er wohl selbst, indem er Lord Cecil von Chelwood zitierte; dieser hatte 1927 in einer Rede geäußert: »Niemand kann leugnen, dass die durch die Rüstungswettläufe (Hervorhebung: L.Z.) erzeugte Geisteshaltung den Boden bereitete, auf dem die schreckliche Pflanze wuchs, die schließlich im Krieg Früchte trug.«
Arthur Ponsonby: Lügen in Kriegszeiten / Kritische Betrachtungen (Neuausgabe des Klassikers zur Kriegspropaganda), Westend Verlag 2022 (Orig.: 1928), 175 S., 24 €.