Natürlich: Sabotage. Am Kranz der SPD-Ratsfraktion in Mülheim an der Ruhr stand: »Den Opfern von Krieg und Verschissmuss«. Erst nachdem er mit den anderen Gebinden am sogenannten Volkstrauertag abgelegt worden war, entdeckte jemand die Zeile auf der Schleife. Vorher hatte sie offenkundig niemand bemerkt. Ganz klar: Sabotage. Trotzdem wollte die Mülheimer SPD der Sache nachgehen. Hieß es.
Vera Friedländer, die ehemalige Germanistik-Professorin, hätte abgewunken. Nicht nötig. Wenn die politische Klasse dieser Republik, zu der auch die SPD gehört, seit der Zerschlagung des Faschismus den Faschismus nicht mehr Faschismus, sondern nur noch Nationalsozialismus oder, modisch verkürzt, NS nennt, müsse man sich nicht wundern, wenn das klare Wort »Faschismus« aus der Sprache und aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Hätte sie gesagt. Unleserliches Fax hin oder her.
Die politisch zweckdienliche Substitution diente und dient seit siebzig Jahren der Verschleierung und der Denunziation. Die Nazis handelten weder »national« noch »sozialistisch«, sie handelten so imperialistisch wie die Konzerne, die sie an die Macht gebracht hatten und von der Versklavung der Völker Europas profitierten.
Ein Unternehmen hatte Vera Friedländer 1944 persönlich kennenlernen müssen. Da war sie sechzehn und hieß, Tochter einer jüdischen Mutter, Veronika Rudau. Sie wurde zur Sklavenfron verpflichtet und musste für die Salamander AG schuften. Gemeinsam mit Kriegsgefangenen und anderen Zwangsarbeitern, die aus halb Europa nach Berlin verschleppt worden waren, um gebrauchte Schuhe der »Wiederverwertung« zuzuführen. Dass die Schuhe aus Auschwitz und anderen Mordfabriken kamen, erfuhr Vera Friedländer erst später. Wie eben auch, dass mehr als zwanzig ihrer Verwandten von eben jenen Faschisten in Auschwitz und anderswo ermordet worden waren.
Jahrelang erforschte sie die Betriebsgeschichte eines der größten Profiteure des Naziregimes und machte dies schließlich publik: »Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander« (Das Neue Berlin, 2016). Damit zerriss sie den Schleier, den das Unternehmen aus Kornwestheim – wie unzählige andere in der Bundesrepublik auch – über seine Betriebsgeschichte von gutbezahlten Hofhistorikern hatte breiten lassen. Als Antifaschistin und Marxistin machte sie sichtbar: Im Tausendjährigen Reich akkumulierten die Konzerne und Kriegsgewinnler jenes Kapital, mit dem sie später das westdeutsche »Wirtschaftswunder« betrieben.
Damit finanzierte die Klasse auch die von einem ihrer namhaften Exponenten als »politische Landschaftspflege« bezeichnete Geschichtsklitterung. Zunächst um jenen Kontext zu verschweigen und zu verdrängen, dann um ihn zu verharmlosen. Seit 1990 benutzt man diesen Teil der eigenen kriminellen Vergangenheit vorzugsweise, um die »zweite deutsche Diktatur« zu kriminalisieren. Die zweite deutsche Republik verstand sich als »Diktatur des Proletariats« und als sozialistisch. Siehe: Namen und Attribute waren gleich. Leichenberge in den Konzentrationslagern und Aktenberge der Staatssicherheit, die weiße Linie auf der Selektionsrampe von Auschwitz und die im Grenzübergangs-Bahnhof Friedrichstraße. Keine Leichenfelder zwar, aber ein flächendeckendes »Auschwitz der Seelen« … Die Perfidie verlor jedes Maß.
Wenn ich, als Freund und Verleger, bei Vera Friedländer auf dem Sofa saß, empörte sie sich leidenschaftlich über jede neue Unverschämtheit und Lüge. Nahezu erblindet, konnte sie nur noch mit Hilfe moderner Technik Texte lesen, das heißt, die Maschine las und verwandelte die Zeilen in vernehmbare Sprache. So nahm Vera unverändert Anteil an der Welt. Und wenn sie gebeten wurde zu reden, dann tat sie es auch: am Gleis 17 in Grunewald wie auf antifaschistischen Kundgebungen. Sie entrüstete sich über den wachsenden Antisemitismus und die fortschreitende Geschichtsvergessenheit. »Krieg und Verschissmuss«, welch höhnischer Beleg …
Am 25. Oktober ist die Schriftstellerin Vera Friedländer, Autorin und Abonnentin des Ossietzky, für immer verstummt. Ihre Bücher aber bleiben.