Präsident Biden sprach sehr deutlich aus, worum es geht, als Bundeskanzler Scholz ihn erstmals am 7. Januar in Washington besuchte: »Wenn russische Truppen die Grenze zur Ukraine überschreiten werden – dann bedeutet das definitiv das Aus für die Gaspipeline Nord Stream 2.« Die Meinungsgeber der abendlichen Tagesschau kommentierten Scholz’ Zusicherung, »man würde dann alles tun, was nötig sei«, als völlig unzureichend, eben weil er Nord Stream 2 nicht expressis verbis benannte.
Jeder kann damit verstehen: Es geht den Amerikanern derzeit offenbar weniger um die Ukraine als solche, sondern um jene Ostsee-Pipeline, die die USA von Beginn an abgelehnt haben und seitdem torpedieren. Denn sie wollen verhindern, dass in Zukunft Gas direkt von Russland nach Deutschland (und in weitere EU-Länder) geleitet werden kann und dabei die dazwischen liegenden Staaten, Belarus und Ukraine, über die Visegrád-Staaten bis zum Baltikum, außen vor bleiben, die inzwischen allesamt unter US-, und großenteils unter Nato-Kontrolle stehen.
Die Ukraine stellte 2008 ein erstes Beitrittsgesuch zur Nato, doch der damalige Präsident Janukowitsch zog 2010 eine neutrale Position des Landes vor, was auch Deutschland damals befürwortete. Selbst nach dem obskuren Putsch des Maidan (Februar 2014) und der folgenden Interimsregierung in Kiew behielt man diesen Status bei – obwohl Präsident Obama sofort den möglichen Beitritt zur EU ventilierte. Darauf reagierte Putin mit seinem Einmarsch auf der Krim, nachdem eine dortige Volksabstimmung für Russland votiert hatte. Obama schloss Putin daraufhin aus dem G8 aus – ohne auf die Einsicht Henry Kissingers zu hören, die Ukraine solle besser zu einer Brücke zwischen den Mächten werden als zu einem Vorposten der einen Seite gegen die andere. Auch Angela Merkel war klargeworden, dass eine weitere Ost-Ausdehnung von Nato oder EU als direkte Bedrohung von Moskau angesehen würde und damit als inakzeptabel, denn inzwischen kontrolliert die Nato ein Dutzend Länder des einstigen Warschauer Pakts längs der russischen Grenze. Im Sommer 2021 fanden dort Zehntausende Soldaten umfassende Nato-Manöver statt.
Und bereits am 30. Oktober 2021 machte die Washington Post »russische Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze aus«, die Besorgnis auslösten. Seit gut 100 Tagen geistert also das Gerücht einer russischen Invasion durch die Weltpresse und wird wieder und wieder von russischer Seite dementiert. Zuletzt von Sergej Karaganov vom Russischen Rat für Verteidigung und Außenpolitik, der Anfang Februar gegenüber der Financial Times die »Hypothese einer Invasion in ein Land, das von seinen eigenen Machthabern zerstört wurde«, als »Unsinn« bezeichnete. Selbst ukrainische Stimmen halten die US-Kriegspropaganda für unangemessen »apokalyptisch«, von Präsident Selenskyj bis zu Außenminister Dmytro Kuleba. Letzterer forderte die Ukrainer auf, sich nicht erschrecken zu lassen, insbesondere nach der Ankündigung des US-Außenministeriums, die geschätzten Opfer einer russischen Invasion könnten sich auf 25.000 bis 50.000 ukrainische Zivilisten und 5.000 bis 25.000 Soldaten belaufen, sowie auf 3.000 bis 10.000 Russen. Auch die Flugzeuge der US-Militärhilfe, mit weit über tausend Tonnen Waffen und Munition im Wert von ca. 1,5 Milliarden Dollar, die den ukrainischen Himmel durchschneiden, tragen nicht unbedingt zur Beruhigung bei – ebenso wenig wie erneute Truppenbewegungen im Mittelmeerraum. Seit Anfang Januar überfliegen US-Jagdbomber wieder Sizilien, Italien ist ja mit seinen 117 Militär-Basen seit je der größte Flugzeugträger der Nato.
Die Frage, wer eigentlich wen bedroht, steht damit im Raum. Kürzlich erklärte der noch-Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sogar, falls Russland in die Ukraine einmarschieren sollte, würde die Nato gar nicht intervenieren können, denn die Ukraine gehöre ja noch gar nicht zum atlantischen Bündnis. Ob diese Aussage eine implizite Einladung an die Ukraine sein soll, dem Atlantikpakt zügig beizutreten? Oder darf man das als indirekte Aufforderung an Putin zum Einmarsch verstehen, um dann die angedrohten US-Sanktionen veranlassen zu können?
Damit wäre man wieder beim oben genannten casus belli, dem Gas. Die Amerikaner, die heute über unerwartet große Fracking-Gasmengen verfügen, suchen dafür dringend Absatzmärkte. Aber ihr Gas erfordert einen komplexen Umwandlungsprozess von der Extraktion über den Transport per Schiff bis zur endlichen Verwendung durch Regasifizierung, ein teures und auch gefährliches Verfahren. Von den 380 Milliarden Kubikmetern Gas, die 2020 nach Europa gepumpt wurden, kamen 145 Mrd. aus Russland und nur 23 Mrd. aus den USA. Kurz- und mittelfristig können die USA mit den Bedingungen von Gazprom nicht konkurrieren – nur ein Krieg, der Russlands Lieferungen durch Sanktionen weitgehend ausschaltete, könnte für Europa das US-Gas nötig machen, mal abgesehen von alternativen Produzenten aus dem mittleren Orient, die ja aber schon weitgehend mit US-Sanktionen belegt sind. Alberto Negri, Korrespondent von il manifesto (8.2.2022), dem ich viele der hier genannten Zahlen verdanke, fasst die Lage folgendermaßen zusammen: »Kurz gesagt: Der ventilierte Ukraine-Krieg ist eine Simulation eines Krieges um Gas.«
Wie schrieb Tucholsky, als er vor fast hundert Jahren (1924) seinen Blick über die verwüsteten Schlachtfelder von Verdun schweifen ließ? »Weit dahinten am Horizont raucht das, was dem deutschen Idealismus 1914 so sehr gefehlt hat: das Erzlager von Briey.«