1.
»Der Kaiser von Abessinien ist entthront worden, man hat an seine Stelle seine Schwester gesetzt, er selbst aber ist in die Berge gegangen und Räuberhauptmann geworden.
Aber das ist eigentlich nichts Märchenhaftes, sondern etwas Naturgemäßes, da ja zwischen Königtum und Räuberwesen eine Beziehung und Verwandtschaft vorliegt. Alle Staaten sind ursprünglich Banditentrupps, alle Könige zuerst Räuberhauptleute gewesen, wie sich noch aus manchen alten Fabeln erkennen lässt, so aus der Sage von der Gründung Roms.
Wenn der Räuberhauptmann genug Viehherden gestohlen und alle schwächeren Nachbarn abgeschlachtet hat, nennt er sich Von Gottes Gnaden und schafft sich einen Oberhofprediger an, sowie Universitätsprofessoren, die seine Thronrechte in Paragraphen festlegen. Bis die unvermeidliche Revolution kommt und die ganze Herrlichkeit über den Haufen wirft.
Dann fängt der Monarch von vorn an, er wird Räuberhauptmann oder er schreibt seine Memoiren, was ungefähr dasselbe ist.«
Aus: Victor Aubertin, »Märchen von heute« (1922).
2.
»Kolonisierung ist hier überhaupt das wichtigste Paradigma. Als das polnische Commonwealth im 16. Jahrhundert in die Ukraine einrückte, war das eine Kolonisierung. Als Österreich und Deutschland 1917 und 1918 in die Ukraine einmarschierten, war das eine Kolonisierung – oder zumindest ein Kolonisierungsversuch. Dahinter steckte die Idee des ›Brotkorbs‹. Also dass die Ukraine all die Lebensmittel liefern würde, die die deutsche Armee für den Sieg im Ersten Weltkrieg benötigen würde. Letztendlich ist das nicht geschehen, aber es war eine koloniale Idee.
Stalins Programm zur Modernisierung der Sowjetunion war in Bezug auf die Ukraine sogar ganz explizit kolonial. Stalin war der Meinung, dass die Sowjetunion alle Phasen des Kapitalismus durchlaufen müsse, einschließlich der imperialen Phase. Und er sagte ausdrücklich, dass die Sowjetunion ein Programm der Selbstkolonisierung haben müsse. Das bedeutete, dass die fruchtbaren Böden der Ukraine ausgebeutet werden mussten, um den Rest zu industrialisieren. Das führte zu einer Hungersnot, bei der etwa vier Millionen Ukrainer getötet wurden.
Auch Hitler hatte ein koloniales Bild von der Ukraine. Er dachte, dass die Ukrainer ein primitives Volk seien, das von ›der jüdischen Führung der Sowjetunion‹ ausgebeutet wird. Deswegen glaubte Hitler, dass Deutschland nur einmarschieren und den sowjetischen Staat zerstören müsse – und die Ukrainer würden sich freuen. Doch Hitlers Plan war ebenfalls, die ukrainischen Lebensmittel zu nutzen und damit das Großdeutsche Reich zu errichten. Putins Art und Weise, über die Ukraine zu sprechen, ist also nur die jüngste Runde imperialer Rhetorik, die gegen die Ukraine gerichtet ist. Der Unterschied ist, dass die Ukrainer sich diesmal wehren.«
Timothy Snyder, 52, Professor für Geschichte, im Gespräch mit Daniel Erk, Auszug aus: Der Tagesspiegel, 14. April 2022, S. 3.
3.
»Aber für die meisten Kriege und Reichsgründungen stimmt es in der Tat, sie sind nur Manipulationen zur Herbeischaffung des Essbaren gewesen, gewaltsame Einkäufe für die Küche. Also beispielsweise der dritte Punische Krieg ist nicht viel anderes, als wenn ich in ein Feinkostgeschäft gehe und mir ein halbes Viertel Landleberwurst kaufe. Nur dass in dem dritten Punischen Krieg alles viel ruhmvoller verlaufen ist als bei mir und meiner Leberwurst.«
Aus: Victor Aubertin, »Das Frühstück der Klio« (um 1920).