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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Krieg in mir und um mich«

Mit Till Sai­lers »Der Krieg mei­nes Vaters. Eine Annä­he­rung« (Mit­tel­deut­scher Ver­lag) und Rein­hold Beck­manns »Aen­ne und ihre Brü­der. Die Geschich­te mei­ner Mut­ter« (Pro­py­lä­en) sind zur glei­chen Zeit zwei auch ange­sichts der aktu­el­len Kriegs­er­eig­nis­se wich­ti­ge Bücher erschie­nen, die sich anhand der Fami­li­en­ge­schich­te der Autoren mit der Dik­ta­tur im Nazi-Regime aus­ein­an­der­set­zen und im Zusam­men­spiel ihrer Gemein­sam­kei­ten, aber auch ihrer fun­da­men­ta­len Unter­schie­de ein­an­der ergän­zen. Die Prot­ago­ni­sten, der Vater des einen Autors und die vier Onkel des ande­ren, gehö­ren alle zu den direk­ten Opfern die­ses Regimes. Sie fie­len im Zwei­ten Welt­krieg. Und sie stam­men alle aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen. Der ent­schei­den­de Unter­schied aber ist, dass der Vater Till Sai­lers als zwar schlecht bezahl­ter Erzie­her einer NS-Eli­te­schu­le in eine ande­re sozia­le Schicht auf­ge­stie­gen ist und gleich­zei­tig zu den Tätern zähl­te, zu denen, die das Volk ideo­lo­gisch auf den Krieg vor­be­rei­te­ten und bis zuletzt den Hel­den­tod für das Vater­land als das Erstre­bens­wer­te pro­pa­gier­ten. Noch an dem Tag, an dem Albert Speer den Krieg gegen­über Hit­ler als »unwi­der­ruf­lich ver­lo­ren« bezeich­ne­te, am 30. Janu­ar 1945, schrieb er: »Ich gebe noch nichts ver­lo­ren. Wir müss­ten nur die letz­te Kraft zusam­men­raf­fen (…). Wenn ich das nicht mehr glau­ben könn­te, hät­te das Leben sei­nen Sinn ver­lo­ren.« Die Brü­der von Aen­ne jedoch, der Mut­ter Rein­hold Beck­manns, zogen ledig­lich in den Krieg, weil ihnen nichts ande­res übrig­blieb, wobei sie immer hoff­ten, dass »die­ser Schwin­del« doch end­lich aufhöre.

Bei­de Autoren, Sai­ler Jahr­gang 1942 und Beck­mann 1956, zei­gen Krieg und Frie­den im Leben ihrer Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in der Zeit von 1933 bezie­hungs­wei­se bei Sai­ler von 1939 bis 1945. Der Vater des einen, Her­bert Sai­ler, und die Onkel des ande­ren, Franz, Hans und Alfons Haber sowie Wil­li Höl­scher, star­ben im Krieg, wäh­rend bei­der Müt­ter noch rela­tiv lan­ge nach Kriegs­aus­bruch ihr nor­ma­les Leben fort­füh­ren konn­ten und nach 1945 in einer neu­en Gesell­schaft ihren Platz fan­den, Sai­lers Mut­ter im Osten Deutsch­lands, Beck­manns im Westen. Den Ereig­nis­sen im pri­va­ten Leben wird bei bei­den die geschicht­li­che Wirk­lich­keit gegen­über­ge­stellt, eine Par­al­le­li­tät im »erschrecken­den Neben­ein­an­der von nor­ma­lem All­tags­le­ben und der zeit­glei­chen Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit«, schreibt Sai­ler. Rein­hold Beck­mann bezieht dabei die Rol­le der Katho­li­schen Kir­che mit ein, die in dem klei­nen Dorf, in dem sei­ne Vor­fah­ren leb­ten, das Den­ken und Han­deln bestimm­te. Die Authen­ti­zi­tät der Lebens­bil­der neh­men bei­de, die sozu­sa­gen die »Nach­ge­bo­re­nen« sind, aus den Brie­fen der fünf Män­ner, bei Rein­hold Beck­mann kom­men noch die Erin­ne­run­gen vor allem sei­ner Mut­ter hin­zu, bei Till Sai­ler, des­sen Vater Her­bert sich gleich­zei­tig als Dich­ter einen Namen mach­te, Tage­bü­cher, Erzäh­lun­gen und Gedichte.

Bei­de Bücher sind anrüh­rend in ihrer Ehr­lich­keit und Mensch­lich­keit und erschüt­ternd in ihrer schreck­li­chen Rea­li­sie­rung einer schreck­li­chen Zeit. Bei Till Sai­ler kommt ein beson­de­rer Aspekt hin­zu: der Mut, sich zu die­sem Vater zu beken­nen, zu dem Nazi, den er sich nicht zu einem »guten Nazi zurecht­bie­gen« will, auch wenn es sein Vater ist. Darf er das, oder ist er ein Nest­be­schmut­zer? Nicht nur die­se Fra­ge stell­te er sich, son­dern die noch viel wich­ti­ge­re: Darf man das Gedan­ken­gut eines sol­chen Men­schen über­haupt in die Welt tra­gen? Die ihm mit dem Tod sei­ner Mut­ter zuge­kom­me­nen Doku­men­te hat er immer mit tief­stem Abscheu gemie­den und erst jetzt als fast 80-Jäh­ri­ger gele­sen. Till Sai­ler ist zu der Erkennt­nis gekom­men: Das Bei­spiel einer »indi­vi­du­el­len Ent­wick­lung ist nicht reprä­sen­ta­tiv, aber aussagefähig.«

Es stellt sich immer wie­der die Fra­ge, wie das zusam­men­passt, dass ein gebil­de­ter und musisch-fein­gei­sti­ger Mensch sich zu so einer Begei­ste­rung für ein men­schen­feind­li­ches Regime hat ver­füh­ren las­sen kön­nen. Wel­che Mecha­nis­men haben da gewirkt? War­um konn­te er sich die­sen nicht ent­zie­hen? Eigent­lich woll­te auch der Vater nicht den Krieg. Her­bert Sai­ler hat den Frie­dens­ver­trag Hit­lers mit Russ­land beju­belt und sogar mit dem soge­nann­ten Feind, einem »ver­ra­te­nen Volk«, Mit­ge­fühl gehabt. In einem Gedicht sagt er 1942, »Herr des Lan­des ist, wer Frie­den bringt«, am 18. Dezem­ber 1943 wünscht er »uns alle(n) ein Stück näher zum Frie­den«, und am 1. Okto­ber 1944 denkt er in einem Brief über den Sinn des Krie­ges nach, biegt ihn sich aber zurecht. Der Krieg war auch für ihn kein Aben­teu­rer. Im Gedicht »Unken­lied« klagt er: »Schla­fen will ich /​ warm im Hau­se /​ regen­nas­ses Zelt /​ kal­te Ster­ne.« War­um benei­de­te er die Ver­wun­de­ten und dräng­te doch immer wie­der, sich als Sol­dat bewäh­ren zu dürfen?

In die­ser Ent­wick­lung spiel­te das Gefühl mit, beru­fen zu sein, »auf star­ker Hand eine Welt zu tra­gen«, eine Auf­ga­be im Leben zu haben, »am Ewi­gen teil­ha­ben« zu kön­nen, das zu ver­kör­pern, was »uns erst eigent­lich zum Deut­schen macht«. Er fühl­te eine tie­fe Ach­tung vor dem Ide­al­bild des Sol­da­ten, egal ob Kame­rad oder Feind. Trotz eige­ner Ver­wun­dung schreibt er noch am 7./8. April 1945 in einem Brief: »Es ist rich­tig wie­der Sol­da­ten­zeit und Krieg in mir und um mich. Das lässt alles Schwe­re leich­ter tra­gen.« Am 13. April starb der 32-Jäh­ri­ge, der schon immer in sei­nen Gedich­ten Todes­sehn­sucht und 1943 auch Todes­ah­nung äußer­te. Das Psy­cho­gramm gibt einen über­stei­ger­ten, ja, fana­ti­schen Ehr­geiz zu erken­nen, der sich in allen sei­nen Bemü­hun­gen als deut­scher Volks­ge­nos­se, Sol­dat, Dich­ter und Erzie­her äußert. Dazu gesel­len sich Ver­sa­gens­äng­ste. Bei­des führ­te zu stän­di­gem Müde- und Über­ar­bei­tet-, ja, Über­for­dert­sein. Über jede mili­tä­ri­sche Kar­rie­re­stu­fe, die er erreicht hat­te, war er über­glück­lich: »Sie brach­ten mir, wenn ich von der EK-Ver­lei­hung im Vor­jahr abse­he, den schön­sten Tag mei­nes Sol­da­ten­le­bens als Geschenk: am Hei­lig­abend die fried­li­che Beför­de­rung zum Leut­nant«, schrieb er 1944 an sei­ne Ehe­frau. Die Fami­lie mit den drei Söh­nen gehör­te in sei­ne Welt nicht wirk­lich hin­ein, zumal er sie in einer ein­ver­nehm­li­chen Drei­er­be­zie­hung mit sei­ner Gelieb­ten teil­te. Ein wider­sprüch­li­ches Leben, ein tra­gi­sches Leben, in dem zumin­dest ein­mal die Erkennt­nis einer Mani­pu­la­ti­on auf­blitz­te: »Man gehört sich nicht selbst.« Auch die­ses Leben gibt uns nicht die letz­te Ant­wort, wie so etwas wie der Hit­ler-Faschis­mus pas­sie­ren konn­te – aber es regt zum Nach­den­ken, zu Ver­glei­chen und zur Wach­sam­keit an.

Till Sai­ler: Der Krieg mei­nes Vaters. Eine Annä­he­rung, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2023, 308 S., zahl­rei­che SW-Abb., 20 €. Rein­hold Beck­mann: Aen­ne und ihre Brü­der. Die Geschich­te mei­ner Mut­ter, Pro­py­lä­en-Ver­lag 2023, 345 S., zahl­rei­che SW-Abb., 26 €.