Mit Till Sailers »Der Krieg meines Vaters. Eine Annäherung« (Mitteldeutscher Verlag) und Reinhold Beckmanns »Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter« (Propyläen) sind zur gleichen Zeit zwei auch angesichts der aktuellen Kriegsereignisse wichtige Bücher erschienen, die sich anhand der Familiengeschichte der Autoren mit der Diktatur im Nazi-Regime auseinandersetzen und im Zusammenspiel ihrer Gemeinsamkeiten, aber auch ihrer fundamentalen Unterschiede einander ergänzen. Die Protagonisten, der Vater des einen Autors und die vier Onkel des anderen, gehören alle zu den direkten Opfern dieses Regimes. Sie fielen im Zweiten Weltkrieg. Und sie stammen alle aus einfachen Verhältnissen. Der entscheidende Unterschied aber ist, dass der Vater Till Sailers als zwar schlecht bezahlter Erzieher einer NS-Eliteschule in eine andere soziale Schicht aufgestiegen ist und gleichzeitig zu den Tätern zählte, zu denen, die das Volk ideologisch auf den Krieg vorbereiteten und bis zuletzt den Heldentod für das Vaterland als das Erstrebenswerte propagierten. Noch an dem Tag, an dem Albert Speer den Krieg gegenüber Hitler als »unwiderruflich verloren« bezeichnete, am 30. Januar 1945, schrieb er: »Ich gebe noch nichts verloren. Wir müssten nur die letzte Kraft zusammenraffen (…). Wenn ich das nicht mehr glauben könnte, hätte das Leben seinen Sinn verloren.« Die Brüder von Aenne jedoch, der Mutter Reinhold Beckmanns, zogen lediglich in den Krieg, weil ihnen nichts anderes übrigblieb, wobei sie immer hofften, dass »dieser Schwindel« doch endlich aufhöre.
Beide Autoren, Sailer Jahrgang 1942 und Beckmann 1956, zeigen Krieg und Frieden im Leben ihrer Familienangehörigen in der Zeit von 1933 beziehungsweise bei Sailer von 1939 bis 1945. Der Vater des einen, Herbert Sailer, und die Onkel des anderen, Franz, Hans und Alfons Haber sowie Willi Hölscher, starben im Krieg, während beider Mütter noch relativ lange nach Kriegsausbruch ihr normales Leben fortführen konnten und nach 1945 in einer neuen Gesellschaft ihren Platz fanden, Sailers Mutter im Osten Deutschlands, Beckmanns im Westen. Den Ereignissen im privaten Leben wird bei beiden die geschichtliche Wirklichkeit gegenübergestellt, eine Parallelität im »erschreckenden Nebeneinander von normalem Alltagsleben und der zeitgleichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, schreibt Sailer. Reinhold Beckmann bezieht dabei die Rolle der Katholischen Kirche mit ein, die in dem kleinen Dorf, in dem seine Vorfahren lebten, das Denken und Handeln bestimmte. Die Authentizität der Lebensbilder nehmen beide, die sozusagen die »Nachgeborenen« sind, aus den Briefen der fünf Männer, bei Reinhold Beckmann kommen noch die Erinnerungen vor allem seiner Mutter hinzu, bei Till Sailer, dessen Vater Herbert sich gleichzeitig als Dichter einen Namen machte, Tagebücher, Erzählungen und Gedichte.
Beide Bücher sind anrührend in ihrer Ehrlichkeit und Menschlichkeit und erschütternd in ihrer schrecklichen Realisierung einer schrecklichen Zeit. Bei Till Sailer kommt ein besonderer Aspekt hinzu: der Mut, sich zu diesem Vater zu bekennen, zu dem Nazi, den er sich nicht zu einem »guten Nazi zurechtbiegen« will, auch wenn es sein Vater ist. Darf er das, oder ist er ein Nestbeschmutzer? Nicht nur diese Frage stellte er sich, sondern die noch viel wichtigere: Darf man das Gedankengut eines solchen Menschen überhaupt in die Welt tragen? Die ihm mit dem Tod seiner Mutter zugekommenen Dokumente hat er immer mit tiefstem Abscheu gemieden und erst jetzt als fast 80-Jähriger gelesen. Till Sailer ist zu der Erkenntnis gekommen: Das Beispiel einer »individuellen Entwicklung ist nicht repräsentativ, aber aussagefähig.«
Es stellt sich immer wieder die Frage, wie das zusammenpasst, dass ein gebildeter und musisch-feingeistiger Mensch sich zu so einer Begeisterung für ein menschenfeindliches Regime hat verführen lassen können. Welche Mechanismen haben da gewirkt? Warum konnte er sich diesen nicht entziehen? Eigentlich wollte auch der Vater nicht den Krieg. Herbert Sailer hat den Friedensvertrag Hitlers mit Russland bejubelt und sogar mit dem sogenannten Feind, einem »verratenen Volk«, Mitgefühl gehabt. In einem Gedicht sagt er 1942, »Herr des Landes ist, wer Frieden bringt«, am 18. Dezember 1943 wünscht er »uns alle(n) ein Stück näher zum Frieden«, und am 1. Oktober 1944 denkt er in einem Brief über den Sinn des Krieges nach, biegt ihn sich aber zurecht. Der Krieg war auch für ihn kein Abenteurer. Im Gedicht »Unkenlied« klagt er: »Schlafen will ich / warm im Hause / regennasses Zelt / kalte Sterne.« Warum beneidete er die Verwundeten und drängte doch immer wieder, sich als Soldat bewähren zu dürfen?
In dieser Entwicklung spielte das Gefühl mit, berufen zu sein, »auf starker Hand eine Welt zu tragen«, eine Aufgabe im Leben zu haben, »am Ewigen teilhaben« zu können, das zu verkörpern, was »uns erst eigentlich zum Deutschen macht«. Er fühlte eine tiefe Achtung vor dem Idealbild des Soldaten, egal ob Kamerad oder Feind. Trotz eigener Verwundung schreibt er noch am 7./8. April 1945 in einem Brief: »Es ist richtig wieder Soldatenzeit und Krieg in mir und um mich. Das lässt alles Schwere leichter tragen.« Am 13. April starb der 32-Jährige, der schon immer in seinen Gedichten Todessehnsucht und 1943 auch Todesahnung äußerte. Das Psychogramm gibt einen übersteigerten, ja, fanatischen Ehrgeiz zu erkennen, der sich in allen seinen Bemühungen als deutscher Volksgenosse, Soldat, Dichter und Erzieher äußert. Dazu gesellen sich Versagensängste. Beides führte zu ständigem Müde- und Überarbeitet-, ja, Überfordertsein. Über jede militärische Karrierestufe, die er erreicht hatte, war er überglücklich: »Sie brachten mir, wenn ich von der EK-Verleihung im Vorjahr absehe, den schönsten Tag meines Soldatenlebens als Geschenk: am Heiligabend die friedliche Beförderung zum Leutnant«, schrieb er 1944 an seine Ehefrau. Die Familie mit den drei Söhnen gehörte in seine Welt nicht wirklich hinein, zumal er sie in einer einvernehmlichen Dreierbeziehung mit seiner Geliebten teilte. Ein widersprüchliches Leben, ein tragisches Leben, in dem zumindest einmal die Erkenntnis einer Manipulation aufblitzte: »Man gehört sich nicht selbst.« Auch dieses Leben gibt uns nicht die letzte Antwort, wie so etwas wie der Hitler-Faschismus passieren konnte – aber es regt zum Nachdenken, zu Vergleichen und zur Wachsamkeit an.
Till Sailer: Der Krieg meines Vaters. Eine Annäherung, Mitteldeutscher Verlag 2023, 308 S., zahlreiche SW-Abb., 20 €. Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter, Propyläen-Verlag 2023, 345 S., zahlreiche SW-Abb., 26 €.