Wenn ich ein Buch über Russland schreiben würde, so müsste es die erloschene Revolution darstellen, einen Brand, der ausglüht, glimmende Überreste und sehr viel Feuerwehr.
Joseph Roth (1894-1939)
»Notiz« vom 10. Oktober 1926
JOSEPH ROTH Brief aus Polen 1928 (gekürzt):
»(…) während ich mich anschicke, Ihnen über das Volk der Ukrainer zu schreiben, habe ich den Klang seiner Lieder im Ohr und vor meinem Auge das Angesicht seiner Dörfer. Meine ständige Bemühung, Ihnen lieber eine statistische Tatsache als einen lyrischen Eindruck zu vermitteln und bei der Schilderung einer Stadt etwa über der Beschreibung ihrer Atmosphäre die Zahl ihrer Einwohner nicht zu vergessen, störte in diesem Fall der besondere Charakter einer Nation, die niemals dazu kommt, ihre eigenen Statistiken selbst anzulegen, sondern das Unglück hat, von Völkern, von denen sie regiert wird, gezählt, eingeteilt und überhaupt ›behandelt‹ zu werden. In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es den europäischen und amerikanischen Kennern der Geographie nicht passieren dürfen, dass ein großes Volk von 30 Millionen in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe. Zwingt man sich (wider sein besseres Wissen) zu jener naiven Anschauung, dass die Nationen in Europa in säuberlich voneinander getrennten Gebieten leben, wie auf Schachbrettern, so ist nicht einzusehen, weshalb man ein großes Volk einfach vergaß und weshalb man das Gebiet, auf dem es lebt, nicht zusammenzuschließen versuchte, sondern neuerlich aufteilte. Die Ukrainer, die in Russland, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Rumänien vorhanden sind, verdienten gewiss einen eigenen Staat, wie jedes ihrer Wirtsvölker. Aber sie kommen in den Lehrbüchern, aus denen die Weltaufteiler ihre Kenntnisse beziehen, weniger ausführlich vor als in der Natur – und das ist ihr Verhängnis.«
Joseph Roth, 12. August 1928 (Frankfurter Zeitung), ein Brief aus der Serie »Briefe aus Polen«
2015 wurde der Brief vom C.H. Beck Verlag nachgedruckt in: Joseph Roth: Reisen in die Ukraine und nach Russland. Hg. von Jan Bürger (5. Auflage 2022). S. 9-14.