Wer geht schon gern ins Krankenhaus. Wer hat keine Angst vor Pflegebedürftigkeit. Die Sorgen gelten aber nicht allein der Krankheit und dem körperlich-geistigen Verfall, sondern vor allem auch den Institutionen, denen man dann ausgeliefert ist. Denn nicht erst die Corona-Pandemie hat die unhaltbaren, teilweise menschenunwürdigen Verhältnisse im Gesundheitswesen sichtbar gemacht.
Ein Betroffener schildert bei einer Kundgebung am Internationalen Tag der Pflege seine Gefühle: Er habe Angst, dass er in eine Maschinerie gerät, deren Regeln nicht an Bedürfnissen von Patienten und Pflegenden ausgerichtet sind. Angst bereite ihm auch die Vorstellung, dass er in dem durchökonomisierten Wirtschaftsbetrieb Klinik ein »Fall« ist, der auf dem hart umkämpften Markt taxiert wird: Ist er ein guter Kranker, der Gewinn bringt, oder ein schlechter, weil er mehr Kosten verursacht? Das wird seine Diagnose beeinflussen und auch die Behandlung – zum Beispiel ob er operiert wird, weil das für die Klinik profitabel ist. Er befürchte, dass die Ökonomisierung und die Einsparungen auf seinem Rücken stattfinden – und auf dem Rücken der Pflegepersonen, die unter Dauerstress arbeiten. Ein persönliches Gespräch, Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Empathie seien unter den Bedingungen von Stress und Hetze unmöglich. Gespart habe man in Kliniken an Pflegekräften. Geduld, Verständnis, Fachlichkeit sowie Zuwendung können aber nur Menschen aufbringen beziehungsweise leisten, die Zeit haben und Anerkennung finden. Mit seiner Enkelin gehe er gern in den Stadtgarten und beobachte: Im Zoo reden die Tierpfleger mit den Tieren, weil es den Tieren guttut und weil der Zoo noch nicht privatisiert ist.
Mit der Behauptung, wir können uns das Gesundheitssystem – trotz unverändertem Anteil am Bruttosozialprodukt – nicht mehr leisten, haben Bund und Länder mit einem neoliberalen Diktat ein System geschaffen, das teuer ist, aber nicht primär der Gesundheit dient. Bund und Landesregierungen haben die Gesundheit zur Ware gemacht und die Daseinsvorsorge Großinvestoren ausgeliefert. Kern des Systems sind »Fallpauschalen« (Diagnosis Related Groups – DRG), die die Kliniken unabhängig vom konkreten Bedarf und Verlauf pro Patient bekommen. Dafür wird Pflegepersonal auf ein Mindestmaß reduziert, werden Patienten zu früh entlassen, während lukrative Eingriffe zu oft erfolgen – nicht zuletzt auch bei Geburten in Form von Kaiserschnitten: Laut Statistischem Bundesamt liegt der Anteil der Entbindungen per Kaiserschnitt im bundesdeutschen Durchschnitt bei circa 31 Prozent. 1991 war er halb so hoch. Die Weltgesundheitsorganisation hält eine Kaiserschnittrate von über 15 Prozent für medizinisch nicht indiziert (vgl. dazu https://www.gerechte-geburt.de/wissen/kaiserschnitt-info/). Die »Reform« hat die Übernahme in private, das heißt profitorientierte Hand begünstigt. Inzwischen ist etwa jede dritte Klinik privatisiert, die Zahl der Kliniken insgesamt eingedampft. Statt in das Gesundheitssystem zu investieren, fördern Bund und Länder Krankenhausschließungen mit jährlich bis zu einer Milliarde Euro. Die Ökonomisierung, die Konkurrenz und der Zwang, die Behandlung an betriebswirtschaftlichen Kriterien auszurichten, schaffen einen immensen Druck für das Pflegepersonal. Der Profit der Investoren wächst nicht zuletzt durch Einsparungen bei den Menschen (vgl. dazu den informativen Artikel von Werner Rügemer in ver.di publik: »Was sich in der Krise bitter rächt«).
Monika Knobloch, die als Krankenschwester und Fachkraft für Anästhesie und Intensivpflege mehr als dreißig Jahre lang in einer großen Klinik durchgehalten hat, ist damit eine Ausnahme. Denn viele Pflegekräfte halten die Dauerbelastung bei geringer Bezahlung nicht aus; viele kündigen nach fünf bis sechs Jahren. Monika Knobloch berichtet als Krankenschwester von einer extrem verdichteten Arbeit am Limit: »Alles ist mehr geworden, nur wir nicht.« Vieles, was für die Genesung wichtig wäre, könne nicht geleistet werden – was wiederum zu Gewissenskonflikten und Selbstvorwürfen führt.
Die examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin auf einer hämatoonkologischen Station, Christina Zacharias, berichtet ebenfalls über eine chronische Krise. Sie weist auf die bekannte Tatsache hin, dass Pflege weiblich und prekär ist und oft als unbezahlte Arbeit geleistet wird. Das bedeute für die Frauen nicht nur Stress und Überlastung, sondern oft auch Altersarmut. Und als hätten diejenigen, die für die belastenden und beschämenden Verhältnisse verantwortlich sind, Angst vor einem Streik der Frauen in den Pflegeberufen bekommen, griffen sie während der Corona-Pandemie schnell zum Euphemismus: Ihr seid Helden! Angesichts der katastrophalen Verhältnisse, die seit vielen Jahren bestehen und bekannt sind und bewusst herbeigeführt wurden, kam das bei den Betroffenen überwiegend als geheuchelte Anbiederung und als Zynismus an.
Nach Prognosen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung wird die Zahl alter Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, bis 2030 um 20 Prozent steigen. Bei der gegenwärtigen Bezahlung wird es schwer sein, genügend Personal zu bekommen. Zwar soll der Mindestlohn für ungelernte Pflegekräfte ab Juli erhöht werden; dennoch müssten sie bei einer 35-Stunden-Woche 53 Jahre ununterbrochen arbeiten, um eine Rente in Höhe der Grundsicherung von 814 Euro zu erhalten, wie das Bundesarbeitsministerium auf eine parlamentarische Anfrage der Linken-Fraktion bekanntgab. Arbeiten sie nur 30 Stunden in der Woche, werden sie 62 Jahre lang schuften müssen. So viel ist Deutschland die Arbeit von Frauen für alte Menschen wert.
In der Misere der Pflegeberufe erkennt man ein Strukturmerkmal kapitalistischer und patriarchalischer Verhältnisse. Schon vor zehn Jahren hatte die New Economics Foundation, eine unabhängige Denkfabrik, die sich einer Ökonomie verpflichtet fühlt, »als ob die Menschheit und der Planet zählen würden«, eine Studie vorgelegt: »A Bit Rich«. Die Autoren verglichen den gesellschaftlichen Nutzen von sechs verschiedenen Berufsgruppen und stellten dabei ein krasses Missverhältnis fest: Während die enorm hoch dotierten VIP-Steuerberater und Bankmanager einen großen Schaden für die Gesellschaft anrichten, reicht das Einkommen der Menschen in der Krankenhausreinigung und Kinderpflege oder in der Müllentsorgung kaum zum Überleben. Für die Gesellschaft schaffen aber gerade sie einen grundlegenden Nutzen, der jedoch wenig Anerkennung findet, geschweige denn angemessen honoriert wird. Das Ergebnis überrascht nicht wirklich – eher schon die Gleichgültigkeit, mit der die Bevölkerung diese Ungerechtigkeit hinnimmt. (Die menschlichen Folgen der erbarmungslosen Konkurrenz und Vermarktung sind in dem ebenso sensiblen wie erschütternden Spielfilm »Sorry We Missed You« von Ken Loach zu sehen.)
Die Fernseh-Politsatiresendung »Die Anstalt« widmete sich im Mai dem Thema »Wie funktioniert eigentlich so ein Krankenhaus«. Dabei tauchte auch die Frage auf, wer die für die Bevölkerung derart schädliche Gesundheits-»Reform« ausgearbeitet und durchzusetzen geholfen hat. Die enge Verflechtung von Akteuren wie der Bertelsmann-Stiftung, einigen wenigen Gesundheitsökonomen sowie Aufsichtsräten privater Klinikkonzerne wurde dort unter anderem herausgearbeitet (vgl. Faktencheck unter: https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/fakten-im-check-der-anstalt-118.html und Sendung im Archiv: https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-vom-5-mai-2020-100.html).
Ein Großteil der Bevölkerung lehnt die Profitorientierung und Privatisierung der Daseinsvorsorge ab, wie Umfragen zeigen – konsequenzlos. Aber auch Widerstand formiert sich, etwa im bundesweit aktiven Bündnis Krankenhaus statt Fabrik, das vor allem das Fallpauschalensystem kritisiert, und mit der privatisierungskritischen Organisation Gemeingut in BürgerInnenhand, die vor allem gegen die Schließungen regionaler Krankenhäuser kämpft. Die Grundposition der Kritiker lautet: Gesundheit ist Menschenrecht und keine Ware! Das System der Fallpauschalen und der Profitorientierung im Gesundheitswesen ist menschenfeindlich und muss abgeschafft werden. Eine bessere Versorgung müsste aber noch ganz andere Fehlkonstruktionen unseres Systems beseitigen, wie der politische Aktivist Wolfram Treiber, selbst ein Betroffener, bei der Kundgebung am Tag der Pflege skizzierte: Private Kliniken und Pflegedienste dienen sicher genauso wenig einer besseren Versorgung wie private Krankenkassen. Auch nicht die enormen Beträge, die Pharmakonzerne für Marketing ausgeben; sie gehören vergesellschaftet, damit Gesundheitsversorgung für alle zu guten Bedingungen verfügbar wird. Nur in einem Gesundheitssystem ohne Fallpauschale und Profitorientierung werden Menschen im Mittelpunkt stehen.
Die fünfte, erweiterte und komplett überarbeitete Neuauflage der Broschüre »Krankenhaus statt Fabrik – bedarfsgerecht, gemeinwohlorientiert. Das Fallpauschalensystem und die Ökonomisierung der Krankenhäuser – Kritik und Alternativen« ist abrufbar unter www.krankenhaus-statt-fabrik.de.