Erfreulich früh gedachte die Stadt Bernau bei Berlin ihres Ehrenbürgers Konrad Wolf. Der Geburtstag des großartigen Filmregisseurs und langjährigen Präsidenten der Akademie der Künste der DDR jährt sich erst im Oktober zum 100. Mal. Nun hat die URANIA Barnim im überfüllten Rathaussaal einen Auftakt für die Besinnung auf sein Werk geschaffen, das in der DDR jeder kannte, in der Nationalkultur der Bundesrepublik Deutschland hingegen noch immer nicht den ihm gebührenden Platz einnimmt. Zu unverzeihlich scheint Wolfs nie verleugnete Bindung an den sozialistischen Staat im Osten zu sein und zu wenig bekannt sein innerer Konflikt zwischen Gesinnungstreue und der Zurückweisung kulturpolitischer Borniertheit. Von den kommunistischen Einstellungen des Elternhauses und der proletarisch orientierten Kunst seines Vaters, Friedrich Wolf, von den Bildungsjahren im sowjetischen Exil und vom antifaschistischen Kampf in den Reihen der Roten Armee geprägt, lebte und arbeitete er in seiner Wahlheimat DDR (seit 1952) offensiv nach den gewonnenen Überzeugungen. Falsche kulturpolitische Entscheidungen, wie die Biermann-Ausbürgerung, verurteilte er nicht, versuchte aber, ihre negativen Auswirkungen zu dämpfen. Seine Parteilichkeit war und blieb sensibel für Verwerfungen in der gesellschaftlichen Ordnung, der er errungenen Fortschritt und veritable Zukunftsfähigkeit zusprach. Er erinnerte die im Moskauer Umfeld erlebten Stalinschen »Säuberungen« mit Trauer, und er hatte in den Entwicklungsphasen der DDR offenbar gewordene Konfliktstoffe streitbar in die Kunstproduktion eingebracht. Ärger und Verzweiflung über enge kulturpolitische Echos konnten dann quälende Amplituden um sein Verständnis von Linie schlagen. Konrad Wolf sprach leise davon.
Wieder sah ich »Sonnensucher«, Konrad Wolfs 1958 fertiggestellten, aber bis 1972 verbotenen Film über den von der Sowjetischen Militäradministration kontrollierten Uranbergbau der SDAG WISMUT. Sepp Wenig, hier selbst Brigadier, Obersteiger und einer der ersten Aktivisten der DDR, hatte den Film für ein prokapitalistisches Skandalstück gehalten. Hinter seinem Wort formierte sich die Verbotsphalanx. Na ja, da macht sich das kommunistische Urgestein Jupp König mit einer Prostituierten gemein, die ihn einst vor faschistischer Verfolgung geschützt hat, und die blutjunge Lotte heiratet den ehrgeizigen Obersteiger, der als Genosse seine faschistische Vergangenheit verbirgt, und liebt am Ende doch den heimkehrenden sowjetischen Ingenieur Sergej. Ein charakterlich und in den politischen Ansichten wenig homogenes Volk schuftet unter Tage und prügelt sich oben im Wirtshaus untereinander und mit der Polizei. Raue, wahre Zeitzeichen, die Konrad Wolf nicht schminken mochte. Weil sie ausgestanden werden mussten im Ringen um mehr Uran, das die Sowjetunion nach den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki dringend für die Sicherung des Weltfriedens benötigte.
Als ich hörte, wie zufällig Konrad Wolf seine junge Darstellerin der Lotte, Ulrike Germer, gecastet hatte, dachte ich an ein eigenes Erlebnis mit dem Regisseur, der offenbar gern etwas mit jungen Leuten ausprobierte. Als Konrad Wolf seinen autobiografisch angelegten Film »Ich war neunzehn« vorbereitete, hatte ich gerade das Abitur gemacht und war Volontär bei einer Tageszeitung. Dort erreichte mich die Aufforderung, zu Probeaufnahmen für die Hauptrolle des Gregor Hecker nach Babelsberg zu kommen. Wegen des bevorstehenden Studiums wollte ich ablehnen, kriegte aber das Drehbuch mit der Bemerkung zugestellt, Konrad Wolf lehne man nichts unbesehen ab. Also ging ich hin und saß im Rotarmistenrock, als Konrad Wolf dazu kam und Werner Bergmanns Kamera zu surren begann. Ehe wir die – wie ich noch heute finde – schwierigste Szene des Films probierten, erzählte Konrad Wolf von seiner ersten Wiederbegegnung mit Deutschland in jener Uniform, die ich gerade übergestreift hatte. Wie zwei Heimaten in seiner Seele kämpften, weil man als Besatzungsoffizier mit deutschen Wurzeln je nach Ansicht des Gegenübers ein Verräter, Rächer oder Befreier war. Damals auch in Bernau, als dessen sowjetischer Stadtkommandant er für ein paar Tage eingesetzt war und das ihm 1975 die Ehrenbürgerschaft verlieh. Leise erzählte er auch, wie seine Abteilung unterwegs aus Gefängnissen und KZs befreiten Antifaschisten begegnete und wegen deren Verfassung einen kräftigen Händedruck scheute. Und dass man trotzdem den Hass auf die Faschisten nicht auf alle Deutschen übertragen durfte. Auch dass er, der das Wesen der Russen so gut kannte, geahnt hatte, dass Freundschaft Zeit brauchen, aber aus einem neuen Leben heraus entstehen würde. Ich war auch neunzehn und merkte mir solche Sätze. Dann probten wir die bewusste Szene, in der Gregor Hecker einen gerade aus dem Zuchthaus befreiten alten Kommunisten überzeugt, gegen seine Furcht, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, Bürgermeister eines Dorfes zu werden. Gezeichnet von der Haft, steht er den misstrauischen Bewohnern gegenüber. Das ist der Anbeginn. Heckers Trupp spielt ihm zum Abschied das geliebte Interbrigadisten-Lied von der Jarama-Front in Ernst Buschs unvergleichlichem Gesang. Konrad Wolf sprach in der Probe den Antifaschisten, ich Gregors Part, wobei ich merkte, dass ich kein Schauspieler werden würde. Dafür hatte ich eine bis heute präsente, warmherzig vorgetragene Geschichtslektion erhalten. Wenn wir uns später sahen, sprachen wir manchmal über die Babelsberger Stunde.
Dem Freund Ernst Busch war Konrad Wolfs letzte Filmproduktion gewidmet. Das mehrteilige Werk »Busch singt«, für das ihm die Gesamtleitung übertragen war und für dessen dritten und fünften Teil er noch selbst Regie geführt hatte, konnte er nicht mehr in Gänze erleben. Er war am 7. März 1982 in Berlin gestorben. Nicht nur wer etwas mit Songs zu tun hat, spürt in »Busch singt« Wolfs tiefes Verständnis von der Wirkkraft politischer Liedkunst in den Kämpfen der Zeit. Ein Denkmal für den Arbeitersänger, eine Collage von Zeitzeichen in Liedern, die Geschichtswahrheit abbildet, so wie die bedeutenden anderen Arbeiten Konrad Wolfs, die uns die Erinnerung nennt: Lissy; Sterne; Professor Mamlock; Der geteilte Himmel; Goya; Der nackte Mann auf dem Sportplatz; Mama, ich lebe; Solo Sunny.
So früh vor dem Jahrestag eine Erinnerung? Unbedingt! Die Erinnerung an Konrad Wolfs Vermächtnis braucht keinen Anlass. Heute nicht, morgen nicht und erst recht nicht zu besserer, aufgeklärter Zeit.