Viele Beiträge in den progressiven Medien beschäftigen sich mit der Wertung von Ereignissen – ob zu den aktuellen militärischen Konflikten, der wirtschaftlichen Entwicklung, zur Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft oder zu weiteren Themen. Das ist äußerst wichtig, auch, um falschen Narrativen eine analytische Betrachtung entgegenzusetzen. Im Zuge dessen zeigen solche Beiträge auch: Es gibt die kritischen Stimmen, die sich den Bestrebungen zur »Vereinheitlichung« oder »Glättung« von Meinungen entgegenstellen.
Doch was stellt diese Art von Äußerungen dar? Letztendlich sind sie eine Bewertung von Vergangenem, von Vorgängen und Abläufen, die von anderen ausgelöst und vorangetrieben werden. Und dann frage ich mich: Ist das die Rolle der progressiven Kräfte, die Entwicklung zu betrachten, zu analysieren und zu kommentieren? Bezieht man dies auf allgemeine historische Tendenzen, resultiert daraus die Frage: Hat sich auf diese Weise die menschliche Gesellschaft vorwärtsentwickelt – indem die Veränderungen abgewartet wurden? Vielleicht mal ein paar Beispiele dazu:
Die Regierungschefs mehrerer Ostsee-Anrainerstaaten haben eine gewaltige Russland-Phobie. Kam dies aus dem Nirgendwo, urplötzlich? Oder sind dafür jahrzehntelange militärische, finanzielle oder anderweitige Attacken »der Russen« der Auslöser? Beides kann verneint werden, das Gegenteil ist der Fall: Auch Polen und die baltischen Staaten haben beispielsweise billige Energie aus Russland erhalten, es gab keine gegen sie gerichtete Sanktionen oder Strafzölle (vergleichbar mit denen von den USA). Also woher kam diese politische – man könnte fast sagen: Hassstimmung? Aus meiner Sicht: von »oben« oktroyiert – von der geistigen »Umarmung« durch den Wertewesten. Ob das durch Finanzspritzen aus dem (mittlerweile exorbitant überschuldeten) US-Haushalt geschah bzw. geschieht oder durch die »Neuausrichtung« junger Polit-Kader im Rahmen des »Young Global Leader«-Programms und deren Installation in den jeweiligen Parteien: Die westlichen Regierungen – und damit das internationale Großkapital – nahmen sich ihre Talente »zur Brust«, bereiteten sie auf ihre künftigen Aufgaben vor und brachten sie in die entsprechenden Positionen.
Und nun sind sie an den Schalthebeln der Macht in ihren Ländern, auch schon in der EU. Und in wessen Sinne wirken ihre Aktionen für ihre relativ kleinen Länder? Statt gute Kontakte zu großen Nachbarländern zu pflegen, suchen sie, entgegen jeder politisch-diplomatischen Erfahrung, die Konfrontation! Ob das ihren Ländern zugutekommen wird, scheint völlig egal: Sie scheinen ihrer vorgebeteten ideologischen Linie zu folgen. Und die etwas kritischere Welt kann nur zusehen, wie diese Kräfte die verinnerlichte Ideologie in konsequentester Weise umsetzen. Das Ergebnis sehen wir hierzulande in eindeutiger und zeitlich rasanter Art und Weise: Firmen brechen zusammen, der Exportmotor stottert, große Firmen schieben ihre Investitionen in die USA– aber ein Nachdenken über mögliche Wege zum Frieden scheint im Wertewesten verboten zu sein! Dass diese Politik bereits jetzt soziale Spannungen erzeugt, ist längst deutlich geworden.
Was kann man derartigen Fakten entnehmen? Aus meiner Sicht mehrere Dinge:
- Diejenigen politischen Kräfte, die diese Entwicklung als negativ betrachten, können den im »parlamentarischen Betrieb« dominierenden Kräften nichts entgegensetzen.
- Es sind von ihnen auch keine Strategien erkennbar, um einen politischen Kurswechsel zu erzwingen.
- Politische, wirtschaftliche oder gewerkschaftliche Kräfte finden zwar mahnende Worte, aber keine Aktionen, um die erkennbare »Talfahrt« zu unterbinden.
- Die Entscheider z. B. in den Printmedien sind zwar im Großkapital verankert, dienen – im Falle der aktuellen Deindustrialisierung – jedoch wenig ihren Kapital-Kollegen, sondern passen in gewissem Maße ihre Meinung der offiziellen Regierungs-Rhetorik an.
- Generell ist eine Kooperation aller negativ Betroffenen nicht erkennbar; jede politische Kraft wird nur für sich wirksam.
Wie die jüngste Vergangenheit zeigt, verpuffen auch Demos mit sechsstelligen Teilnehmerzahlen wirkungslos; auch die Traktor-Demos zu Jahresbeginn hatten nur einen geringen Erfolg. Aus solchen Abläufen und Zusammenhängen sollte eigentlich eine Lernkurve erwachsen: Welche Aktionen haben Erfolg und welche werden von den Herrschenden schlankweg ignoriert? Allein die letzten hundert Jahre der gesellschaftlichen Entwicklung hierzulande bieten ausreichend Stoff zum Analysieren.
Doch welche Hoffnung gibt es hierfür – wenn sich jede politische oder gesellschaftliche Gruppe nur auf den eigenen »Bauchnabel« konzentriert? Die Gewerkschaft kümmert sich nur um Löhne/Gehälter, Arbeitszeiten und Arbeitszeitmodelle; die Großbetriebe orientieren sich strikt am eigenen Gewinn; die linken Parteien (ob man dazu die SPD und das früher demokratisch angelegte Bündnis noch zählen kann?) bewegen sich voneinander weg (sind es mittlerweile 5 oder 6 verschiedene?).
Und inzwischen machen die Regierenden weiter, als wäre nichts geschehen – ob Kliniken sterben, die Infrastruktur sich verschlechtert, die Energiepreise exorbitant steigen … Lieber mal noch ein dickes Millionenpaket für die Ukraine loseisen – nein, falsch: für Waffen, die die deutschen oder internationalen Rüstungsfirmen dann letztendlich der Ukraine verkaufen, jedoch von unseren Steuern bezahlt werden!
Wer war da noch der kluge Kopf, der sagte: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern«?
Um etwas zu verändern, sind Strategien erforderlich. Eine Gedankenkette hierzu könnte folgendermaßen aussehen: Wohin könnte die Entwicklung laufen, und ist dies ein positiver Weg? Falls nicht: Wie könnte man dagegen steuern und welche politischen Kräfte haben ein Interesse daran? Und wie kann man wen hierfür einbeziehen? Welche Einzelschritte sind dafür erforderlich?
Wie gesagt: Natürlich ist es wichtig, dass Ereignisse gewertet werden! Und manchmal bin ich froh, wenn ich lese, dass auch andere eine ähnlich differenzierte Sichtweise haben wie ich. Aber reicht das?