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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kommentare statt Strategien

Vie­le Bei­trä­ge in den pro­gres­si­ven Medi­en beschäf­ti­gen sich mit der Wer­tung von Ereig­nis­sen – ob zu den aktu­el­len mili­tä­ri­schen Kon­flik­ten, der wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung, zur Gerech­tig­keit in unse­rer Gesell­schaft oder zu wei­te­ren The­men. Das ist äußerst wich­tig, auch, um fal­schen Nar­ra­ti­ven eine ana­ly­ti­sche Betrach­tung ent­ge­gen­zu­set­zen. Im Zuge des­sen zei­gen sol­che Bei­trä­ge auch: Es gibt die kri­ti­schen Stim­men, die sich den Bestre­bun­gen zur »Ver­ein­heit­li­chung« oder »Glät­tung« von Mei­nun­gen entgegenstellen.

Doch was stellt die­se Art von Äuße­run­gen dar? Letzt­end­lich sind sie eine Bewer­tung von Ver­gan­ge­nem, von Vor­gän­gen und Abläu­fen, die von ande­ren aus­ge­löst und vor­an­ge­trie­ben wer­den. Und dann fra­ge ich mich: Ist das die Rol­le der pro­gres­si­ven Kräf­te, die Ent­wick­lung zu betrach­ten, zu ana­ly­sie­ren und zu kom­men­tie­ren? Bezieht man dies auf all­ge­mei­ne histo­ri­sche Ten­den­zen, resul­tiert dar­aus die Fra­ge: Hat sich auf die­se Wei­se die mensch­li­che Gesell­schaft vor­wärts­ent­wickelt – indem die Ver­än­de­run­gen abge­war­tet wur­den? Viel­leicht mal ein paar Bei­spie­le dazu:

Die Regie­rungs­chefs meh­re­rer Ost­see-Anrai­ner­staa­ten haben eine gewal­ti­ge Russ­land-Pho­bie. Kam dies aus dem Nir­gend­wo, urplötz­lich? Oder sind dafür jahr­zehn­te­lan­ge mili­tä­ri­sche, finan­zi­el­le oder ander­wei­ti­ge Attacken »der Rus­sen« der Aus­lö­ser? Bei­des kann ver­neint wer­den, das Gegen­teil ist der Fall: Auch Polen und die bal­ti­schen Staa­ten haben bei­spiels­wei­se bil­li­ge Ener­gie aus Russ­land erhal­ten, es gab kei­ne gegen sie gerich­te­te Sank­tio­nen oder Straf­zöl­le (ver­gleich­bar mit denen von den USA). Also woher kam die­se poli­ti­sche – man könn­te fast sagen: Hass­stim­mung? Aus mei­ner Sicht: von »oben« oktroy­iert – von der gei­sti­gen »Umar­mung« durch den Wer­te­we­sten. Ob das durch Finanz­sprit­zen aus dem (mitt­ler­wei­le exor­bi­tant über­schul­de­ten) US-Haus­halt geschah bzw. geschieht oder durch die »Neu­aus­rich­tung« jun­ger Polit-Kader im Rah­men des »Young Glo­bal Leader«-Programms und deren Instal­la­ti­on in den jewei­li­gen Par­tei­en: Die west­li­chen Regie­run­gen – und damit das inter­na­tio­na­le Groß­ka­pi­tal – nah­men sich ihre Talen­te »zur Brust«, berei­te­ten sie auf ihre künf­ti­gen Auf­ga­ben vor und brach­ten sie in die ent­spre­chen­den Positionen.

Und nun sind sie an den Schalt­he­beln der Macht in ihren Län­dern, auch schon in der EU. Und in wes­sen Sin­ne wir­ken ihre Aktio­nen für ihre rela­tiv klei­nen Län­der? Statt gute Kon­tak­te zu gro­ßen Nach­bar­län­dern zu pfle­gen, suchen sie, ent­ge­gen jeder poli­tisch-diplo­ma­ti­schen Erfah­rung, die Kon­fron­ta­ti­on! Ob das ihren Län­dern zugu­te­kom­men wird, scheint völ­lig egal: Sie schei­nen ihrer vor­ge­be­te­ten ideo­lo­gi­schen Linie zu fol­gen. Und die etwas kri­ti­sche­re Welt kann nur zuse­hen, wie die­se Kräf­te die ver­in­ner­lich­te Ideo­lo­gie in kon­se­quen­te­ster Wei­se umset­zen. Das Ergeb­nis sehen wir hier­zu­lan­de in ein­deu­ti­ger und zeit­lich rasan­ter Art und Wei­se: Fir­men bre­chen zusam­men, der Export­mo­tor stot­tert, gro­ße Fir­men schie­ben ihre Inve­sti­tio­nen in die USA– aber ein Nach­den­ken über mög­li­che Wege zum Frie­den scheint im Wer­te­we­sten ver­bo­ten zu sein! Dass die­se Poli­tik bereits jetzt sozia­le Span­nun­gen erzeugt, ist längst deut­lich geworden.

Was kann man der­ar­ti­gen Fak­ten ent­neh­men? Aus mei­ner Sicht meh­re­re Dinge:

  • Die­je­ni­gen poli­ti­schen Kräf­te, die die­se Ent­wick­lung als nega­tiv betrach­ten, kön­nen den im »par­la­men­ta­ri­schen Betrieb« domi­nie­ren­den Kräf­ten nichts entgegensetzen.
  • Es sind von ihnen auch kei­ne Stra­te­gien erkenn­bar, um einen poli­ti­schen Kurs­wech­sel zu erzwingen.
  • Poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che oder gewerk­schaft­li­che Kräf­te fin­den zwar mah­nen­de Wor­te, aber kei­ne Aktio­nen, um die erkenn­ba­re »Tal­fahrt« zu unterbinden.
  • Die Ent­schei­der z. B. in den Print­me­di­en sind zwar im Groß­ka­pi­tal ver­an­kert, die­nen – im Fal­le der aktu­el­len Deindu­stria­li­sie­rung – jedoch wenig ihren Kapi­tal-Kol­le­gen, son­dern pas­sen in gewis­sem Maße ihre Mei­nung der offi­zi­el­len Regie­rungs-Rhe­to­rik an.
  • Gene­rell ist eine Koope­ra­ti­on aller nega­tiv Betrof­fe­nen nicht erkenn­bar; jede poli­ti­sche Kraft wird nur für sich wirksam.

Wie die jüng­ste Ver­gan­gen­heit zeigt, ver­puf­fen auch Demos mit sechs­stel­li­gen Teil­neh­mer­zah­len wir­kungs­los; auch die Trak­tor-Demos zu Jah­res­be­ginn hat­ten nur einen gerin­gen Erfolg. Aus sol­chen Abläu­fen und Zusam­men­hän­gen soll­te eigent­lich eine Lern­kur­ve erwach­sen: Wel­che Aktio­nen haben Erfolg und wel­che wer­den von den Herr­schen­den schlank­weg igno­riert? Allein die letz­ten hun­dert Jah­re der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung hier­zu­lan­de bie­ten aus­rei­chend Stoff zum Analysieren.

Doch wel­che Hoff­nung gibt es hier­für – wenn sich jede poli­ti­sche oder gesell­schaft­li­che Grup­pe nur auf den eige­nen »Bauch­na­bel« kon­zen­triert? Die Gewerk­schaft küm­mert sich nur um Löhne/​Gehälter, Arbeits­zei­ten und Arbeits­zeit­mo­del­le; die Groß­be­trie­be ori­en­tie­ren sich strikt am eige­nen Gewinn; die lin­ken Par­tei­en (ob man dazu die SPD und das frü­her demo­kra­tisch ange­leg­te Bünd­nis noch zäh­len kann?) bewe­gen sich von­ein­an­der weg (sind es mitt­ler­wei­le 5 oder 6 verschiedene?).

Und inzwi­schen machen die Regie­ren­den wei­ter, als wäre nichts gesche­hen – ob Kli­ni­ken ster­ben, die Infra­struk­tur sich ver­schlech­tert, die Ener­gie­prei­se exor­bi­tant stei­gen … Lie­ber mal noch ein dickes Mil­lio­nen­pa­ket für die Ukrai­ne los­ei­sen – nein, falsch: für Waf­fen, die die deut­schen oder inter­na­tio­na­len Rüstungs­fir­men dann letzt­end­lich der Ukrai­ne ver­kau­fen, jedoch von unse­ren Steu­ern bezahlt werden!

Wer war da noch der klu­ge Kopf, der sag­te: »Die Phi­lo­so­phen haben die Welt nur ver­schie­den inter­pre­tiert. Es kommt aber dar­auf an, sie zu verändern«?

Um etwas zu ver­än­dern, sind Stra­te­gien erfor­der­lich. Eine Gedan­ken­ket­te hier­zu könn­te fol­gen­der­ma­ßen aus­se­hen: Wohin könn­te die Ent­wick­lung lau­fen, und ist dies ein posi­ti­ver Weg? Falls nicht: Wie könn­te man dage­gen steu­ern und wel­che poli­ti­schen Kräf­te haben ein Inter­es­se dar­an? Und wie kann man wen hier­für ein­be­zie­hen? Wel­che Ein­zel­schrit­te sind dafür erforderlich?

Wie gesagt: Natür­lich ist es wich­tig, dass Ereig­nis­se gewer­tet wer­den! Und manch­mal bin ich froh, wenn ich lese, dass auch ande­re eine ähn­lich dif­fe­ren­zier­te Sicht­wei­se haben wie ich. Aber reicht das?