Vielleicht erinnern Sie sich noch, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, an meine Rezension des Buches »Das Prachtboot – Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten« von Götz Aly? Der Autor hatte seinem Text das folgende, von mir zitierte Motto vorangestellt: »Im Allgemeinen wird man ohne Übertreibung von sehr vielen Kolonien Folgendes behaupten können: Prügeln, Rauben, Schänden, Brennen, Morden nehmen einen großen Anteil der Arbeitskraft europäischer Beamter, Offiziere, Kaufleute und Forschungsreisender in Anspruch« (siehe Ossietzky 12/2021, »Und bist du nicht willig …«).
Das immer noch in der ersten Etage des Humboldt Forums in Berlin zu besichtigende Boot stammt von der nur sechs Quadratkilometer großen Insel Luf, einem Atoll der Hermit-Inseln, in der Südsee gelegen nahe einem Archipel, der immer noch den Namen Bismarck trägt. Die Inselgruppe war von 1884 bis 1914 eine Kolonie des deutschen Kaiserreichs.
In eben dieser Kolonie fand in den Jahren 1908 bis 1910 eine »völkerkundliche« Unternehmung statt: Hamburger Kaufleute und der Senat der Hansestadt hatten das Forschungsschiff Peiho für eine Expedition ausgerichtet. An ihrem Verlauf hat der 2019 gestorbene deutsche Ethnologe Hans Fischer schon 1981 die Verflechtung von Wirtschafts- und Forschungsinteressen, von Kolonialpolitik und Rassismus beispielhaft aufgezeigt.
Sein Buch »Die Hamburger Südsee-Expedition – Über Ethnographie und Kolonialismus« erschien zu einer Zeit, als der kolonialistischen Praxis noch wenig Aufmerksamkeit beschieden war – und in der sich Ethnologinnen und Ethnologen in den Museen noch nicht auf eine Provenienzforschung konzentrierten, um die Herkunft von Objekten aufzudecken. Es war halt »all mien«, wie man in Hamburg gern sagt.
Fischers Buch ist schon längst ein Standardwerk. Seine Auseinandersetzung mit der kolonialen und später mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Ethnologie regte weitere Forschungen an, zum Beispiel zu den Menschenzoos des Hamburger Tierparks Hagenbeck, offiziell »ethnologisch-zoologische Ausstellungen« genannt, in denen Angehörige fremder Völker wie Tiere ausgestellt wurden und gegen Eintrittsgebühr zu besichtigen waren.
Fischer lehrte von 1967 bis 1998 als Professor am Seminar für Völkerkunde (heute: Institut für Ethnologie) der Universität Hamburg. Von 1967 bis 1971 war er Direktor des Hamburgischen Museums für Völkerkunde (heute: MARKK, Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt) und von 1973 bis 1975 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (heute: Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie).
Die geänderten Benennungen sind kein Zufall. Sie spiegeln den jeweiligen Zeitgeist wider und sind das Ergebnis eines immer noch nicht abgeschlossenen Diskussionsprozesses. Daher ist es auch kein Zufall, dass sich zurzeit in der Handelsstadt Hamburg zwei Senatskommissionen mit Straßen und Plätzen beschäftigen, deren Namensgeber historisch belastet sind: zum einen aus der NS-Zeit, zum anderen mit Bezug zur Kolonialzeit.
Im März dieses Jahres ist im Berenberg Verlag eine überarbeitete Neuausgabe der Fallstudie Fischers erschienen, mit einem ausführlichen und einordnenden Vorwort von Bettina Beer, die seit Jahren als empirisch arbeitende Sozialwissenschaftlerin im Einzugsgebiet großer Kupfer- und Gold-Minen in Papua-Neuguinea forscht.
Die Südsee-Expedition schaffte in regelrechtem Sammler-Wetteifern zwischen Forschern, dem Kapitän und der Mannschaft des Expeditionsschiffes circa 15 000 Objekte nach Hamburg. Ihr »Erwerb« resultierte entweder aus Diebstahl, oder es wurde mit »kolonialer Münze« bezahlt: mit Stangentabak, Glasperlen, Messern, Äxten, Tüchern, Spiegeln, Nägeln, Flaschen. Und lokale Mittelsmänner verkauften die Kolonialwaren gegen Goldmark. Zu der »reichen materiellen Ausbeute« heißt es bei Fischer: »Dass das Sammeln für das Hamburgische Museum für Völkerkunde im Rahmen der Expedition eine besondere Rolle spielen würde und sollte, war eingeplant und vorherzusehen.«
Nimmt’s Wunder, »dass die Bevölkerung in den bereisten Gebieten zumindest im ersten Jahr kaum einen Unterschied zwischen wissenschaftlicher Expedition, Anwerbern von Plantagen und kolonialer Verwaltung erkennen konnte«, dass für sie »Forschungs-, Kriegs- und Anwerbeschiff nicht voneinander zu unterscheiden und gleichermaßen bedrohlich« waren (Beer)?
Fischers Verdienst ist es, die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Kolonialismus aufgezeigt zu haben. Er beschrieb akribisch, gestützt auf ein Konvolut von Akten, Briefen, Tagebüchern, Fotoplatten und eine 30-bändige Dokumentationsreihe, wie sich »kapitalistische Wirtschaftsinteressen und imperialistische Politik verbanden« (Beer). Er lieferte damit die Vorlage für die »heute an Museen dominierende Provenienzforschung«, von der es nur »ein kleiner Schritt zu Bestrebungen der Rückgabe von Gegenständen« ist.
In zwei zusammenfassenden Kapiteln zeigt Fischer, dass »niemand sich der kolonialen Gesamtsituation entziehen konnte« und wie selbst die Wissenschaftler mit einer »unreflektierten Überzeugung von der Überlegenheit der Europäer« (Beer) zu Werke gingen. Fischer: »Die Expeditionsteilnehmer scheinen nie überhaupt in Erwägung gezogen zu haben, dass sie in das Leben anderer Menschen eindrangen und dass diese vielleicht das Recht haben könnten, dieses Eindringen abzulehnen.«
Als sich 2010 die Südsee-Expedition zum 100. Mal jährte, konnte Fischer es sich einfach machen. In seinem Buch stehe halt »alles Wesentliche drin«, beantwortete er »leicht ironisch« (Beer) per E-Mail eine Anfrage der Leiterin der Südsee-Abteilung des damaligen Völkerkunde-Museums Hamburg.
Am Ende des Buches spannt Fischer den Bogen zur Gegenwart, begründet, warum die Völkerkunde als Wissenschaft von fremden Völkern von diesen häufig mit Kolonialismus in Verbindung gebracht wird: »Weil Wissenschaft insgesamt nicht isoliert von jeweiligen politischen und gesamtgesellschaftlichen Bedingungen sein kann.« Das Bemühen um eine wissenschaftliche »Objektivität« genüge nicht. Das Bewusstmachen der Beziehungen, Bedingungen und Abhängigkeiten sei wesentlicher Teil jeder Wissenschaft. »Und eben hierzu kann die Beschäftigung mit Vergangenem, mit Wissenschaftsgeschichte, beitragen.«
Hans Fischer: Die Hamburger Südsee-Expedition, Berenberg, Berlin 2022, 288 Seiten, 16 €. In der Mediathek von ARTE ist der Anfang April 2022 ausgestrahlte Dokumentarfilm »›Die Wilden‹ in den Menschenzoos« abrufbar. Bei Wikipedia sind unter dem Stichwort »Hamburger Südsee-Expedition« Karten der Südsee-Regionen Mikronesien und Melanesien zu finden sowie die Namen von Teilnehmern und eine Auflistung der Dokumentationsreihe mit den Forschungsergebnissen, die in großformatigen Bänden noch bis 1954 veröffentlicht wurden.