Täglich wachen wir mit neuen Zahlen auf: Schon 2024 scheint sich die Erwärmung auf mehr als 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter hinaufgeschraubt zu haben. Noch nie war der Ausstoß von CO2 so groß wie jetzt. Und die Politik fast aller Länder ist unfähig oder unwillig, die Schrift auf den Computerbildschirmen oder den Charts der Klimaforscher als Anlass für energisches Handeln zu nehmen. Wer kann da helfen? Vielleicht die Gerichte?
Immer häufiger wird die Justiz in vielen Ländern mit Fragen des Klimaschutzes konfrontiert, auch weil die politisch Verantwortlichen, trotz der unbestreitbar global immer gefährlicher werdenden Lage, nur minimalinvasive Eingriffe in ihr Rechtssystem zulassen. Dabei hilft die Justiz den klagenden Parteien, die teilweise spektakuläre Ergebnisse erzielen. Das begann in Deutschland schon 2021 mit einer bahnbrechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Es erklärte, dass die von der Bundesregierung vormals in ihrem Klimaschutzgesetz ausgegebenen Klimaschutzziele nicht ausreichten und mit Blick auf künftige Generationen gegen das Grundgesetz verstießen. Diese Entwicklung setzte sich 2024 mit drei Entscheidungen verschiedener Gerichte fort.
Als erstes ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR; nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof der EU), der eine Institution des Europarates ist, gegen die Schweiz zu nennen. Hier hatten vier ältere Frauen und der Verein der Klimaseniorinnen erfolgreich geklagt. Das Gericht, das die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) auszulegen hat, stand bei seiner Entscheidung vor drei Problemen. Einmal musste es definieren, wer im Klimaschutz den Status eines »Opfers« hat und deshalb klagen kann. Dann musste es sich mit dem Argument auseinandersetzen, dass Gerichte im Rahmen der Gewaltenteilung nicht in die politische Sphäre »hineinregieren« dürften. Und schließlich war da noch die Frage der Subsidiarität, das heißt, dass zunächst alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft sein müssen, bevor der EGMR mit Erfolg angerufen werden kann. In allen drei Bereichen kommt der EGMR meines Erachtens im Ergebnis zu richtigen Feststellungen.
Die wichtigste Aussage ist zweifellos, dass aus Artikel 8 der EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben) Schutzpflichten (»positive obligations«) zur Bekämpfung des Klimawandels folgen. Dies wird auch die Auslegung nationaler Menschenrechte in vielen Rechtsordnungen beeinflussen. So genießt die EMRK etwa in Österreich Verfassungsrang, was für Deutschland bisher allerdings eher selten vertreten wird. Die schwächere deutsche Variante verhilft der EMRK gleichwohl zu gewissem Einfluss auf die Grundrechte des Grundgesetzes durch die Figur der völkerrechtsfreundlichen Auslegung.
Regierung und Parlament der Schweiz zeigten sich nicht erfreut, sondern kritisierten das Urteil scharf und erklärten, die Schweiz werde es nicht umsetzen – ein klarer Rechtsbruch. Man sprach von Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten, ein Argument, das sonst oft von autoritären Regimes verwendet wird, wenn ihrem Führungspersonal gerichtliche Urteile gegen den Strich gehen. Die Haltung erinnert aber auch an Markus Söder, der nach einer rechtskräftigen Entscheidung des Verwaltungsgerichts München zu weiteren Fahrverboten in München schlicht erklärte, man werde diese Entscheidung nicht umsetzen, und ihn erst der Europäische Gerichtshof vor Beugehaft bewahrte.
Der zweite Fall betrifft wiederum das Klimaschutzgesetz des Bundes und stammt vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. Hier hatte unter anderem die Deutsche Umwelthilfe auf Grund der Vorschriften des nach der Entscheidung des BVerfG noch 2021 novellierten deutschen Klimaschutzgesetzes geklagt. Es sah bis Juli 2024 vor, dass bei Nichterreichen der im Gesetz vorgesehenen Klimaziele Sofortmaßnahmen in jedem Bereich zu treffen seien, der hiervon betroffen war. Das galt konkret für Verkehr und Wohnbebauung. Das Gericht verurteilte die Bundesregierung, derartige Sofortmaßnahmen zu ergreifen. Dazu fand sich die Ampel jedoch nicht bereit und verwässerte das Gesetz ihrer Vorgängerregierung, indem nunmehr keine bereichsspezifische Betrachtungsweise mehr zulässig ist und nur auf das Gesamtergebnis geschaut werden muss. So sind Verkehr und Bauen zunächst einmal aus der Schusslinie – schlicht ein Armutszeugnis für die mit so großen Ambitionen im Klimaschutz angetretene Koalition.
Im dritten Urteil trifft das Landgericht Erfurt eine mutige Entscheidung und sieht die Natur als Rechtsträgerin an, die folglich auch klagebefugt sei. Die Frage, ob Flüsse, Tiere oder Berge Träger von Rechten sein können, die es ihnen gestatten, vor Gerichten »aufzutreten«, wird in letzter Zeit immer häufiger diskutiert. Einen ersten Versuch in Deutschland gab es schon 1988. Damals ging es um Robben. Ihre Klage richtete sich gegen die Verklappung von Schadstoffen in der Nordsee. Sie blieb vor dem Landgericht Hamburg ohne Erfolg, und die Diskussion verebbte zunächst.
In verschiedenen Staaten ist sie aber in den letzten Jahren wieder präsent. In Ecuador schaffte es die Natur sogar 2008 in die Verfassung des südamerikanischen Landes.
Das LG Erfurt hat nun die EU-Grundrechte-Charta als Ausgangspunkt für seine Überlegungen gewählt. Das ist nicht erstaunlich, kommentiert der erkennende Richter Borowski die Vorschriften dieses Werkes doch in einem einschlägigen juristischen Kommentar. Bizarr mutet allerdings an, dass es in den zwei vorliegenden Entscheidungen gar nicht um die Natur als Klägerin ging, sondern sie die gerichtliche Bühne quasi durch die Hintertür in einem Dieselverfahren betrat, bei dem der zugebilligte Schadensersatzanspruch für den getäuschten Dieselkäufer mit der Begründung erhöht wurde, dass der nicht den Normen entsprechende Dieselausstoß auch die Natur verletze.
Es wird kaum verwundern, dass dieses Urteil gleichfalls Kritik herausfordert, besonders pointiert vom Leipziger Verfassungsrechtler Christoph Degenhart, sekundiert vom FAZ-Chefkommentator in juristischen Fragen Reinhard Müller, der gleich Gerichte und NGOs in denselben Sack tut und dann kräftig draufdrischt: »Ob all dies Umwelt und Klima hilft, sei dahingestellt, nicht aber, was es für den demokratischen Rechtsstaat bedeutet, wenn Gerichte in exzessiver Inanspruchnahme ihrer Kompetenzen, oft auf Veranlassung demokratisch nicht legitimierter NGOs, Umweltpolitik betreiben und sich in ihrem Sendungsbewusstsein zu rechtsmethodisch und argumentativ so fragwürdigen Entscheidungen wie der des LG Erfurt hinreißen lassen.«
Es gibt aber auch seriösere Kritiker, die einerseits die entflammte Diskussion begrüßen, jedoch konstruktive Mängel der Entscheidung erkennen. Sie verweisen unter anderem auf die bereits heute bestehende Möglichkeit der Verbandsklage im Naturschutzrecht für entsprechende Vereinigungen, übrigens ein weiteres Argument gegen die oben zitierten Ausbrüche der Herren Degenhardt und Müller, die offenbar das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz und § 64 Bundesnaturschutzgesetz und die entsprechenden Landesgesetze nicht kennen oder nicht kennen wollen.
Weitere Verfahren bescherten den Klägern teilweise Rückschläge, so in den Niederlanden, wo ein mutiges erstinstanzliches Urteil gegen Shell von einem Berufungsgericht vor kurzem aufgehoben wurde, die Sache sich aber jetzt dort in der Revision befindet, oder in Norwegen, wo ein erstinstanzliches Gericht die Klage von Umweltorganisationen abwies, die sich dagegen wehrten, dass die Regierung einem Bergbauunternehmen gestattet hatte, den Grubenabfall seiner geplanten Mineralgewinnung in einem Fjord zu entsorgen. Nun ist das Verfahren auf seiner Reise in Luxemburg angekommen. Dort soll geklärt werden, ob die Genehmigungen gegen die EU-Wasserrahmenrichtlinie, die auch für Norwegen gilt, verstießen. Ab dem 2. Dezember beschäftigt sich außerdem der Internationale Gerichtshof im Rahmen eines von Inselstaat Vanuatu angestrengten Verfahrens im Wege eines Rechtsgutachtens mit Fragen des Umweltschutzes.
Man darf gespannt sein, wie insgesamt die Entwicklung auf dem Feld des Rechts weitergeht, auch wenn das Klima sicher nicht auf gerichtliche Urteile wartet.