Anders als ihre Konkurrenten Cannes und Venedig versteht sich die Berlinale als politisches und Publikumsfestival (489.791 Tickets wurden 2018 verkauft) und drohte dabei auch in ihrem 69. Jahrgang fast aus allen Nähten zu platzen. Von Diskussionen bis zum »Kulinarischen Kino«, vor Jahren von Festivaldirektor Dieter Kosslick eingeführt, der diesmal in seinem letzten Amtsjahr, dem 18., immer wieder als Stargast gefeiert wurde. Täglich 200 Gäste lockte die Kombination von Starkoch-Menü mit einem passenden Film. Sparsamer verlief die Berlinale-Gründung in Titania-Palast zu Kalten-Kriegs-Zeiten 1951.
Im aktuellen Jahrgang nahmen 400 Filme teil, von denen 37 Prozent von Frauen stammten – eine Folge der im vergangenen Jahr leidenschaftlich geführten Me-Too-Debatten.
Zum ersten Mal gelangten gleich drei deutsche Filme in den Wettbewerb. Kontrastreicher konnten sie nicht sein. Aktuell und zweimal Probleme alleinerziehender junger Mütter. Angela Schanelec erlangte mit ihrem Film »Ich war zuhause, aber« als Vertreterin der Berliner Schule endlich die verdiente Anerkennung, die sie bisher im Ausland mehr genoss als hierzulande, wo sie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) studierte. Gleich erfolgreich war mit ihrem Erstling »Systemsprenger« (Fachausdruck für Kinder, die radikal jede Regel brechen) Nora Fingscheidt. Sie erhielt den nach dem Berlinale-Gründer Alfred Bauer genannten Preis. Gäbe es eine Auszeichnung für den ekligsten Film, hätte sie sich Fatih Akin für sein auf dem Kriminalroman von Heinz Strunk basierendes Porträt eines Massenmörders, »Der Goldene Handschuh«, verdient. Der Titel zitiert eine verkommene Hamburger Kaschemme, aus der der Serienmörder seine weiblichen Opfer abschleppte, um sie in seiner Dachgeschosswohnung zu erschlagen und zu zerstückeln.
Anders als dieser authentische Fall aus den 1970er Jahren wagte sich François Ozon in »Grâce à Dieu« an ein ganz aktuelles Thema: die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche. Die wollte seinen Film auch verbieten lassen, aber sieben Angeklagte stehen in Lyon zurzeit vor Gericht.
Leichter konnte eine neue chinesische Behörde die vorgesehene Berlinale-Aufführung eines Films verhindern, weil es darin um das ungeliebte Thema von Maos Kulturrevolution ging.
Immerhin schaffte es der chinesische Beitrag »Di jiu tian chang« von Wang Xiaoshuai in den Wettbewerb, in dem das freilich nicht mehr ganz so heikle Thema der Ein-Kind-Politik keine kleine Rolle spielt. Auch eine Betriebsversammlung mit der Ankündigung von Massenentlassungen fehlt nicht. Frau und Mann dieses mehr als dreistündigen Familiendramas konnten je einen Silberbär als beste Darsteller mit nach Hause nehmen.
Unverständlich dagegen der Goldene Bär für Nadav Lapid und seinen Film »Synonymes«. Ein junger Israeli in Paris auf der Suche nach einer neuen Identität als französischer Staatsbürger. Unangenehmes spart der Film aus. Das lieferte gerade während der Berlinale Frankreichs Innenminister Christophe Castaner nach: Sein Ministerium hat im vergangenen Jahr 541 antisemitische Übergriffe registriert. Das entspricht einem Anstieg von 74 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Antisemitismus breitet sich aus wie ein Gift.