Diesmal lassen wir uns gerne das üblicherweise tadelnd gemeinte oder spöttisch konnotierte Etikett vom Besserwisser anhängen. Unter der Überschrift »Gauckeleien« hatte sich Ossietzky am 2. November 2024 mit einem Interview-Auftritt des damals 84-jährigen Alt-Bundespräsidenten Joachim Gauck in dem zur Funke Mediengruppe gehörenden Hamburger Abendblatt beschäftigt – sowie mit der späteren Weigerung der Tageszeitung, einen kritischen Leserbrief dazu zu veröffentlichen.
Eine Aussage Gaucks war den Redakteuren als so wichtig erschienen, dass sie als Anreißer auf Seite 1 gehoben worden war: »In Deutschland werden zu wenig Kinder geboren, und es gibt einfach zu wenig arbeitsfähige und arbeitswillige Bio-Deutsche.«
Die Wortwahl schockierte zwei Hamburger Abendblatt-Leser, die, verwundert über die »unkritische Verwendung dieser rassistischen Formulierung«, einen Leserbrief an die Redaktion schickten. Ohne Erfolg. Kein Abdruck, keine Reaktion.
Drei Monate später durften sich die beiden über eine Klatsche für Gauck und eine Ohrfeige für die Journalisten freuen: Der Ausdruck »biodeutsch« wurde von Sprachwissenschaftlern zum »Unwort des Jahres 2024« gewählt. Ihre Begründung: Das Wort sei im Jahr 2024 »im öffentlichen und gesellschaftlichen Sprachgebrauch und insbesondere in den Sozialen Medien verstärkt verwendet (worden), um Menschen vor dem Hintergrund vermeintlich biologischer Abstammungskriterien einzuteilen, zu bewerten und zu diskriminieren.«
Herrn Gauck und dem Hamburger Abendblatt sei das Votum ins Stammbuch geschrieben: »Mit dem Wort biodeutsch wird eine rassistische, biologistische Form von Nationalität konstruiert. Ursprünglich ironisch als satirischer Ausdruck verwendet, der mit dem Bio-Siegel als Güte-Siegel für ökologischen Anbau spielte, ist für biodeutsch seit mehreren Jahren eine sehr gedankenlose und unreflektierte, nicht-satirische, also wörtlich gemeinte Verwendung festzustellen. Dabei wird ›Deutschsein‹ naturbezogen begründet, um eine Abgrenzung und Abwertung von Deutschen mit Migrationsbiografie vorzunehmen. Biodeutsch steht zusammen mit den zugehörigen Substantiven Biodeutsche, Biodeutscher in einer Reihe mit weiteren Wörtern wie Passdeutsche oder echte Deutsche, die dazu dienen, Menschengruppen, die vor dem Gesetz gleich sind, ungleiche Eigenschaften zuzuschreiben und sie somit hierarchisch zu klassifizieren. Diese mit dem Gebrauch von biodeutsch einhergehende Unterteilung in angeblich ›echte‹ Deutsche und in Deutsche zweiter Klasse ist eine Form von Alltagsrassismus.«
Die Sprachkritiker kritisierten nicht den ironisch-satirischen, sondern den diskriminierenden Wortgebrauch, »weil er gegen die Idee von demokratischer Gleichheit und Inklusion verstößt und eine Privilegierung der imaginären Gemeinschaft der ›Biodeutschen‹ gegenüber Gruppen darstellt, die aus dem rassistischen Konstrukt der vermeintlichen ›Biodeutschen‹ ausgeschlossen werden. Durch die nicht-ironische Verwendung des Wortes wird ein biologischer Zusammenhang von Nationalität und ›Deutschsein‹ imaginiert, den es nicht gibt.«
Mit Shakespeare rufen wir daher der Jury zu: »Gut gebrüllt, Löwe.« Für Joachim Gauck halten wir ebenfalls ein passendes Zitat von Shakespeare parat, Kleopatra sei Dank: »Alter schützt vor Torheit nicht.« Und Ossietzky darf sich, bildlich gesprochen, auf die Schultern klopfen.
Und wie reagierte das Hamburger Abendblatt? Am Tag nach der Bekanntgabe steht eine Kurzmeldung auf Seite 1: »Es wir oft nationalistisch und rassistisch verwendet: Experten wählten ›biodeutsch‹ zum Unwort des Jahres.« So aber haben die Sprachkritiker nicht geurteilt. Für sie gehört das Wort – siehe oben – in die Kategorie »Alltagsrassismus« und wird nicht einfach nur »oft rassistisch verwendet«.
Informationen zu der institutionell unabhängigen und ehrenamtlichen Aktion »Unwort des Jahres« gibt es auf der Homepage www.unwortdesjahres.net.