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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Klassiker: Fünfzig Jahre Pferd Huppdiwupp

Vor kur­zem habe ich das klei­ne Buch im Kel­ler wie­der­ge­fun­den, unter den abge­leg­ten Sachen unse­res Soh­nes, als die­ser 1988 aus dem Eltern­haus ging: abge­grif­fen, mit Farb­stif­ten bemalt, das Titel­blatt her­aus­ge­ris­sen, will sagen: immer wie­der gele­sen, gebraucht, geliebt – »Das Pferd Hupp­di­wupp« von Hein­rich Han­no­ver. Das Buch, im poli­ti­schen Wen­de­jahr 1968 erst­mals in einem klei­nen öster­rei­chi­schen Ver­lag erschie­nen, dann einer der ersten und spä­te­ren Spit­zen-Titel in Rowohlts neu­er Rot­fuchs-Rei­he, wur­de das Buch einer gan­zen Gene­ra­ti­on. Einer Gene­ra­ti­on, die nicht mehr auf­wach­sen soll­te mit der Häs­chen­schu­le und Grimms Mär­chen, nicht mehr gegän­gelt von der Päd­ago­gik einer hei­len Kin­der­welt, son­dern als Gemein­schaft frei­er, selbst­be­wuss­ter, eman­zi­pier­ter Kin­der. Ein neu­er Wind, eher ein Sturm, weh­te damals durch die Kin­der- und Jugend­li­te­ra­tur, und einer der Väter die­ses Auf­be­geh­rend-Neu­en war Hein­rich Hannover.

Es war die Zeit der wei­ter­wir­ken­den Revol­te der Acht­und­sech­zi­ger-Bewe­gung und der anti­au­to­ri­tä­ren Kin­der­lä­den, und für uns waren die Kin­der­bü­cher des poli­ti­schen Anwalts und lin­ken Akti­vi­sten Hein­rich Han­no­ver – auch wenn sie sich schein­bar unpo­li­tisch gaben – natür­lich poli­ti­sche Kin­der­bü­cher. Schon der Ort ihres Erschei­nens war spek­ta­ku­lär. Zwei der ersten (»Die Bir­nen­die­be vom Boden­see«, 1970; »Der müde Poli­zist«, 1972) waren in schril­ler, post­gel­ber Auf­ma­chung im jun­gen, links­ra­di­ka­len Frank­fur­ter März-Ver­lag her­aus­ge­kom­men, zusam­men mit Gün­ter Amends »Sex­front« (1970) und Edgar Snows »Roter Stern über Chi­na« (1969). Und dann die Geschich­ten sel­ber: Sie prak­ti­zier­ten einen respekt­lo­sen Umgang mit Auto­ri­tä­ten (»Der müde Poli­zist«), lie­ßen Kin­der selbst­be­wusst auf­tre­ten und stürz­ten die Erwach­se­nen­welt der Ord­nung und des Anstands immer wie­der ins Cha­os (aus dem sie manch­mal nur eine Art Deus ex machi­na wie­der erlö­sen konn­te, wie in »Lis und Len in der Bade­wan­ne«, eine Geschich­te in der Tra­di­ti­on von Goe­thes Bal­la­de »Der Zau­ber­lehr­ling«). Ande­re wie­der arbei­te­ten mit den Mit­teln der Gro­tes­ke (»Der fau­le Mann Gau­li-Mau­li«), waren Tier-Sati­ren (»Der Affe am Steu­er«) oder Cow­boy-Per­si­fla­gen, wie­der ande­re rühr­ten an ver­bor­ge­ne Schich­ten des Unbe­wuss­ten (so die Geschich­te vom »Herrn Nein«, die vom Wun­der der Lie­be erzählt). Per­ma­nent jon­glier­te der Autor mit einem nar­ra­ti­ven Modus, der es in Deutsch­land nie leicht hat­te: dem Non­sen­se. Und selbst­ver­ständ­lich fehl­te auch nicht die mar­xi­sti­sche Para­bel auf den Kapi­ta­lis­mus und das bevor­ste­hen­de Ende der Aus­beu­tung (»Rie­sen haben kur­ze Bei­ne«, 1976), im Nach­wort ver­bun­den mit der Hoff­nung des Autors, dass aus den Kin­dern »ein­mal gute Sozia­li­sten wer­den« mögen.

Ob sie es gewor­den sind, sei dahin­ge­stellt. Was die­se Geschich­ten (zu denen bald auch noch Gedich­te und Bal­la­den kamen) an Ver­än­de­run­gen tat­säch­lich bewirkt haben, ist die Erneue­rung einer Gat­tung der Kin­der- und Jugend­li­te­ra­tur, näm­lich deren Öff­nung gegen­über der gesell­schaft­li­chen Rea­li­tät. Und, damit ver­bun­den, die Anbah­nung eines neu­en Ver­hält­nis­ses von Erwach­se­nen und Kin­dern, nicht zuletzt von Vätern und Kin­dern – ver­mit­telt durch den Akt des Erzäh­lens, den Hein­rich Han­no­ver immer wie­der als Para­dig­ma eines sol­chen neu­en Ver­hält­nis­ses dar­ge­stellt hat, bei dem Kin­der ernst genom­men wer­den, in das Gesche­hen ein­grei­fen, die Abläu­fe kor­ri­gie­ren dür­fen, kurz­um sel­ber zu Akteu­ren wer­den konn­ten. Bei­des ist, in ganz neu­en For­men, bis heu­te eine der Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten unse­rer Kin­der­li­te­ra­tur, unse­rer Erzie­hungs­vor­stel­lun­gen und unse­res Lebens geworden.

Ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter muss man dar­an erin­nern, wie neu, wie umwer­fend das alles war in einer Zeit, in der das, was heu­te Umwelt heißt, in der Kin­der­li­te­ra­tur weit­ge­hend tabu war. Dass da Geschich­ten für klei­ne Kin­der auf ein­mal in einer Anwalts­kanz­lei spiel­ten, beim Zahn­arzt oder auf einer Stra­ße, die tat­säch­lich Schwach­hau­ser Ring hieß. Ohne dass die­se Bücher doch Sach­bü­cher gewe­sen wären, im Gegen­teil. Die Geschich­ten stan­den quer zu allen dama­li­gen Kate­go­rien der Lite­ra­tur­kri­tik. Ich habe für sie den Begriff des magi­schen Rea­lis­mus geprägt, das ruft die Tra­di­ti­on der Mär­chen von Hans Chri­sti­an Ander­sen in den Sinn oder von Her­my­nia Zur Müh­len. Da greift die Mücke zum Tele­fon­hö­rer, und der Hase seift den Jäger ein. Pro­sa und Reim flie­ßen inein­an­der, Sprach­spie­le und spre­chen­de Namen fär­ben die Rede ein. Das Rea­le gerät ins Vibrie­ren, die Welt steht auf dem Kopf, die Phan­ta­sie ergreift die Macht (Jean Paul Sart­re, 1968).

Wie leben­dig ist das noch immer! Die offi­zi­el­le Lite­ra­tur­kri­tik mag sich mit Hein­rich Han­no­ver schwer­ge­tan haben (erst 2019 ist sein kin­der­li­te­ra­ri­sches Werk zum ersten Mal mit einem Preis bedacht wor­den), die Kin­der haben es geliebt. »Das Pferd Hupp­di­wupp«, bis heu­te rund 300.000-mal ver­kauft, ins Tür­ki­sche (2014) und ins Fran­zö­si­sche (1980) über­setzt [Hop-là le che­val, und aus Lis und Len sind hier Lise et Léon gewor­den]. Erst 2017 ist die Rot­fuchs-Aus­ga­be von 1972 wie­der neu auf­ge­legt wor­den, fast unver­än­dert. Nur Fräu­lein Woh­lers ist jetzt zu Frau Woh­lers gewor­den (»Die Mücke Pieks«), und der Mond legt sich nicht mehr zu den Kin­dern ins Dop­pel­bett, son­dern ins Stock­bett (»Der Mond im Stock­bett«). Alles ande­re liest heu­te mei­ne Enke­lin genau­so wie damals mein Sohn. Lie­ber Hein­rich, Du bist ein Klas­si­ker geworden!

 

Der Text basiert auf der Lau­da­tio für Hein­rich Han­no­ver aus Anlass sei­ner Ehrung als Kin­der­buch­au­tor. Die­ter Rich­ter wur­de 1972 als Pro­fes­sor für Kri­ti­sche Lite­ra­tur­ge­schich­te und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Metho­den­leh­re an die Uni­ver­si­tät Bre­men beru­fen. Seit 2004 ist Rich­ter eme­ri­tiert und frei­be­ruf­lich tätig. Zuletzt von ihm erschie­nen: »Fon­ta­ne in Ita­li­en«, Wagen­bach, 144 Sei­ten, 18 €.