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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Klassenjustiz heute

Dass Rich­ter Klas­sen­ju­stiz betrei­ben, hal­ten man­che für ein rei­nes The­ma der Histo­ri­ker. Neue­re Ent­schei­dun­gen der Gerich­te zei­gen jedoch: Gera­de für pre­kär Beschäf­tig­te ist es auch heu­te schwer, ihre Rech­te durchzusetzen

Das muss­ten die Arbei­ter des Lie­fer­dien­stes Goril­las erfah­ren. In der Bran­che übli­che Unge­rech­tig­kei­ten woll­te die Beleg­schaft nicht mehr hin­neh­men – und ent­schied sich, für ihre For­de­run­gen nach bes­se­ren Arbeits- und Lohn­be­din­gun­gen zu strei­ken. Eine Gewerk­schaft war an dem Arbeits­kampf nicht betei­ligt, wes­halb das Unter­neh­men dies als soge­nann­ten »wil­den Streik« bemän­gel­te. Es sprach des­halb die Kün­di­gung für die Initia­to­ren der Akti­on aus – aus Sicht des Lan­des­ar­beits­ge­rich­tes Ber­lin-Bran­den­burg zurecht, so das Urteil vom 25.04.2023. Nach einer uralten Recht­spre­chung aus den 50er Jah­ren recht­fer­tigt die Teil­nah­me am »wil­den Streik« die frist­lo­se Kün­di­gung. Weder das Grund­ge­setz noch EU-Recht sehen ein sol­ches Ver­bot vor, für die zweit­höch­ste Instanz im deut­schen Arbeits­recht ist das aber kein Pro­blem, der Kün­di­gungs­schutz wird verwehrt.

Auch ein wei­te­rer Fall ver­wun­dert – denn die Lehr­bü­cher der Arbeits­recht­ler beto­nen, EU-Recht hat Vor­rang von natio­na­len Geset­zen. Der immer auf Sei­ten der Beschäf­tig­ten ste­hen­de Arbeits­recht­ler Wolf­gang Däub­ler erkann­te eine Mög­lich­keit für Leih­ar­bei­ter, den glei­chen Lohn durch­zu­set­zen wie für ande­re im Betrieb Täti­ge. Das ist heu­te noch anders, sie ver­die­nen 20 oder 30 Pro­zent weni­ger als ver­gleich­ba­re Stamm­be­schäf­tig­te, ermög­licht durch Tarif­ver­trä­ge zur Leih­ar­beit, die nach unten abwei­chen – durch­ge­setzt haben auch dies die Hartz-Geset­ze, und seit bald zwan­zig Jah­ren hält der DGB dar­an fest, mit dem Argu­ment, sonst wür­den christ­li­che Schein-Gewerk­schaf­ten noch schlech­te­re Rege­lun­gen treffen.

Die­se Tarif­ver­trä­ge wider­spre­chen EU-Recht, so Däub­ler. Da er aber kein Kla­ge­recht hat, muss­ten Betrof­fe­ne moti­viert wer­den, für ihre Rech­te zu strei­ten. Das erfor­der­te eini­ge Akti­vi­tä­ten. Gemein­sam mit labournet.de und der TV-Sen­dung »Die Anstalt« wur­de nach muti­gen Leih­ar­bei­tern gesucht, die mit dem Bre­mer Juri­sten den Weg durch die Instan­zen gehen. Und sie hat­ten auf EU-Ebe­ne Erfolg.

Die EU-Richt­li­nie sieht vor, dass die Tarif­par­tei­en zwar vom Grund­satz der glei­chen Bezah­lung (»Equal Pay«) abwei­chen kön­nen, aber nur, wenn der »Gesamt­schutz« der Leih­ar­bei­ter beach­tet wird. Mit Urteil vom 15. Dezem­ber 2022 hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof zum ersten Mal defi­niert, was dies bedeu­tet: Der Tarif­ver­trag kann zwar zum Bei­spiel in der Ver­gü­tung nach unten abwei­chen, muss dann aber die Leih­ar­bei­ter in einem ande­ren Punkt bes­ser­stel­len, ihnen also einen »Aus­gleich« gewäh­ren, etwa mehr Urlaubs­ta­ge. Die Gerich­te müss­ten kon­trol­lie­ren kön­nen, ob es sich um eine ange­mes­se­ne Aus­gleichs­lei­stung han­delt. Ein weg­wei­sen­des Urteil – das für die Beschäf­tig­ten aber nichts ändert, denn Ent­schei­dun­gen dazu tref­fen die natio­na­len Gerichte.

Das Bun­des­ar­beits­ge­richt setzt sich aber mit Urteil vom 31. Mai 2023 dar­über hin­weg. Es argu­men­tiert, die Kom­pen­sa­ti­on lie­ge dar­in, dass die Ver­gü­tung auch in den »ver­leih­frei­en Zei­ten« gezahlt wird, in denen sich kein Ent­lei­her fin­det. Dass Unter­neh­men Lohn fort­be­zah­len müs­sen, wenn vor­über­ge­hend kei­ne Arbeit anfällt, ist eine Selbst­ver­ständ­lich­keit und im BGB gere­gelt, so Däub­ler (jun­ge Welt vom 06.06.2023): »Wenn im Restau­rant kei­ne oder weni­ger Kun­den als sonst zu bedie­nen sind, kann der Eigen­tü­mer den Lohn sei­ner Beschäf­tig­ten nicht etwa kür­zen.« Dies ist kein Aus­gleich, den ein Tarif­ver­trag vor­sieht, wie es der EuGH ver­langt. Der lan­ge Weg durch die Instan­zen wur­de so für die Betrof­fe­nen zur gro­ßen Enttäuschung.

Dazu passt das Rechts­ver­ständ­nis des Ver­wal­tungs­ge­richts Han­no­ver. Es lässt die »unun­ter­bro­che­ne Erhe­bung« von Lei­stungs­da­ten der Arbei­ter zu, so das Urteil vom 09.02.2023. Ein Aus­lie­fer-Lager eines ame­ri­ka­ni­schen Online-Unter­neh­mens setzt Hand­scan­ner ein, die unun­ter­bro­chen die Wege der Beschäf­tig­ten ver­fol­gen und begrün­det dies mit der Steue­rung der Logi­stik­pro­zes­se. Die Daten­schutz­be­hör­de hielt den Ein­satz für daten­schutz­wid­rig und unter­sag­te die minu­ten­ge­naue Über­wa­chung. Gegen den Bescheid klag­te das Unter­neh­men – und bekam vom Gericht Recht.

Ange­sichts der Daten­men­gen, die als »Big Data« heu­te Kon­trol­le pur ermög­li­chen, ist die­ses Urteil ein Skan­dal, der in den Medi­en kaum eine Rol­le spielt. Die Arbeit mit mobi­len End­ge­rä­ten führt zu einer enor­men Ver­schär­fung des Arbeits­drucks. Jeder Schritt kann über­wacht wer­den, Arbei­ter sind stets loka­li­sier­bar und beob­acht­bar. Dies alles erfolgt vor dem Hin­ter­grund zuneh­men­der Kon­trol­le der Beschäf­tig­ten. Wenn die Pro­duk­ti­on der Indu­strie 4.0 als gro­ßes Netz­werk orga­ni­siert wird, wirkt das direkt auf die Beschäf­tig­ten. Die Ver­net­zung der IT-Syste­me ermög­licht den Unter­neh­men eine dau­ern­de Über­wa­chung der Arbeits­lei­stung und des Ver­hal­tens der Beschäftigten.

Die Sor­ge des Kapi­tals, dass die Beleg­schaf­ten die­se Unge­rech­tig­kei­ten und ein Hof­fen auf bes­se­re Geset­ze leid sind und auf Dau­er Streiks als pas­sen­de Ant­wort ein­set­zen, zeigt sich auch in den Gerich­ten. Im Mai argu­men­tier­te das Arbeits­ge­richt Frank­furt so weit­ge­hend im Sin­ne des Vor­tra­ges des Bahn-Vor­stan­des, dass die EVG auf den ange­kün­dig­ten Streik ver­zich­te­te und durch einen Gerichts­ver­gleich eine Ent­schei­dung zum Streik-Ver­bot ver­mied. Kapi­tal­ver­tre­ter und CDU-Abge­ord­ne­te for­dern wei­te­re Ein­schrän­kun­gen des Streik-Rechtes.