Dass Richter Klassenjustiz betreiben, halten manche für ein reines Thema der Historiker. Neuere Entscheidungen der Gerichte zeigen jedoch: Gerade für prekär Beschäftigte ist es auch heute schwer, ihre Rechte durchzusetzen
Das mussten die Arbeiter des Lieferdienstes Gorillas erfahren. In der Branche übliche Ungerechtigkeiten wollte die Belegschaft nicht mehr hinnehmen – und entschied sich, für ihre Forderungen nach besseren Arbeits- und Lohnbedingungen zu streiken. Eine Gewerkschaft war an dem Arbeitskampf nicht beteiligt, weshalb das Unternehmen dies als sogenannten »wilden Streik« bemängelte. Es sprach deshalb die Kündigung für die Initiatoren der Aktion aus – aus Sicht des Landesarbeitsgerichtes Berlin-Brandenburg zurecht, so das Urteil vom 25.04.2023. Nach einer uralten Rechtsprechung aus den 50er Jahren rechtfertigt die Teilnahme am »wilden Streik« die fristlose Kündigung. Weder das Grundgesetz noch EU-Recht sehen ein solches Verbot vor, für die zweithöchste Instanz im deutschen Arbeitsrecht ist das aber kein Problem, der Kündigungsschutz wird verwehrt.
Auch ein weiterer Fall verwundert – denn die Lehrbücher der Arbeitsrechtler betonen, EU-Recht hat Vorrang von nationalen Gesetzen. Der immer auf Seiten der Beschäftigten stehende Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler erkannte eine Möglichkeit für Leiharbeiter, den gleichen Lohn durchzusetzen wie für andere im Betrieb Tätige. Das ist heute noch anders, sie verdienen 20 oder 30 Prozent weniger als vergleichbare Stammbeschäftigte, ermöglicht durch Tarifverträge zur Leiharbeit, die nach unten abweichen – durchgesetzt haben auch dies die Hartz-Gesetze, und seit bald zwanzig Jahren hält der DGB daran fest, mit dem Argument, sonst würden christliche Schein-Gewerkschaften noch schlechtere Regelungen treffen.
Diese Tarifverträge widersprechen EU-Recht, so Däubler. Da er aber kein Klagerecht hat, mussten Betroffene motiviert werden, für ihre Rechte zu streiten. Das erforderte einige Aktivitäten. Gemeinsam mit labournet.de und der TV-Sendung »Die Anstalt« wurde nach mutigen Leiharbeitern gesucht, die mit dem Bremer Juristen den Weg durch die Instanzen gehen. Und sie hatten auf EU-Ebene Erfolg.
Die EU-Richtlinie sieht vor, dass die Tarifparteien zwar vom Grundsatz der gleichen Bezahlung (»Equal Pay«) abweichen können, aber nur, wenn der »Gesamtschutz« der Leiharbeiter beachtet wird. Mit Urteil vom 15. Dezember 2022 hat der Europäische Gerichtshof zum ersten Mal definiert, was dies bedeutet: Der Tarifvertrag kann zwar zum Beispiel in der Vergütung nach unten abweichen, muss dann aber die Leiharbeiter in einem anderen Punkt besserstellen, ihnen also einen »Ausgleich« gewähren, etwa mehr Urlaubstage. Die Gerichte müssten kontrollieren können, ob es sich um eine angemessene Ausgleichsleistung handelt. Ein wegweisendes Urteil – das für die Beschäftigten aber nichts ändert, denn Entscheidungen dazu treffen die nationalen Gerichte.
Das Bundesarbeitsgericht setzt sich aber mit Urteil vom 31. Mai 2023 darüber hinweg. Es argumentiert, die Kompensation liege darin, dass die Vergütung auch in den »verleihfreien Zeiten« gezahlt wird, in denen sich kein Entleiher findet. Dass Unternehmen Lohn fortbezahlen müssen, wenn vorübergehend keine Arbeit anfällt, ist eine Selbstverständlichkeit und im BGB geregelt, so Däubler (junge Welt vom 06.06.2023): »Wenn im Restaurant keine oder weniger Kunden als sonst zu bedienen sind, kann der Eigentümer den Lohn seiner Beschäftigten nicht etwa kürzen.« Dies ist kein Ausgleich, den ein Tarifvertrag vorsieht, wie es der EuGH verlangt. Der lange Weg durch die Instanzen wurde so für die Betroffenen zur großen Enttäuschung.
Dazu passt das Rechtsverständnis des Verwaltungsgerichts Hannover. Es lässt die »ununterbrochene Erhebung« von Leistungsdaten der Arbeiter zu, so das Urteil vom 09.02.2023. Ein Ausliefer-Lager eines amerikanischen Online-Unternehmens setzt Handscanner ein, die ununterbrochen die Wege der Beschäftigten verfolgen und begründet dies mit der Steuerung der Logistikprozesse. Die Datenschutzbehörde hielt den Einsatz für datenschutzwidrig und untersagte die minutengenaue Überwachung. Gegen den Bescheid klagte das Unternehmen – und bekam vom Gericht Recht.
Angesichts der Datenmengen, die als »Big Data« heute Kontrolle pur ermöglichen, ist dieses Urteil ein Skandal, der in den Medien kaum eine Rolle spielt. Die Arbeit mit mobilen Endgeräten führt zu einer enormen Verschärfung des Arbeitsdrucks. Jeder Schritt kann überwacht werden, Arbeiter sind stets lokalisierbar und beobachtbar. Dies alles erfolgt vor dem Hintergrund zunehmender Kontrolle der Beschäftigten. Wenn die Produktion der Industrie 4.0 als großes Netzwerk organisiert wird, wirkt das direkt auf die Beschäftigten. Die Vernetzung der IT-Systeme ermöglicht den Unternehmen eine dauernde Überwachung der Arbeitsleistung und des Verhaltens der Beschäftigten.
Die Sorge des Kapitals, dass die Belegschaften diese Ungerechtigkeiten und ein Hoffen auf bessere Gesetze leid sind und auf Dauer Streiks als passende Antwort einsetzen, zeigt sich auch in den Gerichten. Im Mai argumentierte das Arbeitsgericht Frankfurt so weitgehend im Sinne des Vortrages des Bahn-Vorstandes, dass die EVG auf den angekündigten Streik verzichtete und durch einen Gerichtsvergleich eine Entscheidung zum Streik-Verbot vermied. Kapitalvertreter und CDU-Abgeordnete fordern weitere Einschränkungen des Streik-Rechtes.