Die eine Geschichte: Im März 2014 wurde Uli Hoeneß, langjähriger Präsident des FC Bayern München und Vorsitzender des Aufsichtsrates der FC Bayern München AG, wegen seiner Steuerhinterziehung von 28.5 Millionen Euro zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Anfang Juni 2014 trat er in Landsberg am Lech seine Haftstrafe an, schon an Weihnachten und zu Silvester erhielt er im Rahmen des zuvor erstellten großzügigen Vollzugsplans Hafturlaub und durfte die Tage bei seiner Familie verbringen, und genau sieben Monate nach Haftantritt, am 2. Januar 2015, wurde Uli Hoeneß zum Freigänger. Tagsüber arbeitete er in der Jugendabteilung des FC Bayern München, nachts musste er in der Regel zurück in die Zelle, aber die Anstaltsleitung bewies dem prominenten Häftling ihre Menschlichkeit und erlaubte ihm regelmäßig Übernachtungen in seinem Haus am Tegernsee. Ein gutes Jahr später, im Februar 2016, wurde Uli Hoeneß ganz aus der Haft entlassen. Nach Verbüßung der halben Haftstrafe. Bei der Entscheidung, Hoeneß zu entlassen, seien unter anderem seine Persönlichkeit und sein Vorleben gewürdigt worden, sagte der Gerichtssprecher. Auch bei der milden Verurteilung zu dreieinhalb Jahren Haft hatten die Richter dem Angeklagten sein ach so vorbildliches Leben zugutegehalten: sein soziales Engagement, seine Karriere als Fußballspieler und FC Bayern-Manager, sein Geständnis. Von seiner trickreichen Rücksichtlosigkeit, von seiner Härte in Machtfragen oder von seiner Geldgier war nicht die Rede.
Die andere Geschichte: Im Mai dieses Jahres stand im sächsischen Döbeln eine bisher unbescholtene Frau vor Gericht. Der Grund: Die Hartz-IV-Empfängerin hatte dem Jobcenter verschwiegen, dass sie sich gut drei Jahre lang eine Wohnung mit ihrem Lebenspartner geteilt, dass sie also nicht allein, sondern in einer »Bedarfsgemeinschaft« gelebt hatte, wie es in der Sprache der Hartz-IV-Gesetzgebung heißt. Der 36-Jährigen, die zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung wohnungslos war, wurde Sozialbetrug vorgeworfen. Durch das Verschweigen der Lebensgemeinschaft habe sie die Staatskasse um 21.398 Euro betrogen.
Kurze Erklärung: Lebt ein erwerbsfähiger Hartz-IV-Empfänger mit anderen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfängern zusammen, geht der Gesetzgeber davon aus, dass man sich gegenseitig Unterhalt leistet und mit noch weniger Geld auskommen kann. Alle Mitglieder dieser Bedarfsgemeinschaft erhalten nur noch 90 Prozent des Regelsatzes. Lebt ein Hartz-IV-Empfänger in Lebensgemeinschaft mit einem Menschen zusammen, der arbeitet und ein eigenes Einkommen hat, können die Ansprüche bis auf Null sinken. Der Hartz-IV-Empfänger wird zum bloßen Anhängsel, abhängig und auf seinen Partner angewiesen.
Sie habe niemanden betrügen wollen, sagte die ohne Rechtsbeistand vor Gericht erschienene Angeklagte. Ihre damalige Situation habe sie dazu gebracht. Welche Situation das war, konnte sie unter den Blicken von Richterin und Staatsanwalt nur in Halbsätzen stottern. Doch wer genauer hinhörte, verstand trotzdem: Sie wollte ein bisschen Eigenes haben. Sie wollte eben nicht abhängig sein in einer über die ganze Zeit brüchigen Beziehung. Sie wollte den Partner nicht in die Situation bringen, für die Berechnung ihres Hartz-IV-Anspruchs seine sämtlichen Finanzen gegenüber dem Jobcenter offen legen zu müssen, und ihn dadurch vielleicht noch schneller wieder zu verlieren. Sie wollte niemandem zur Last fallen. Aber »ich will das jetzt nicht noch einmal alles aufwühlen«.
Das bisschen Hartz IV für die kleine Unabhängigkeit. Trotzdem immer noch nah dran an der Hungergrenze. Ein Auto oder eine Reise, Friseurbesuche oder schöne Klamotten, Kulturveranstaltungen oder Restaurantbesuche – alles außer Reichweite. Man wird nicht reich durch das »betrügerische Verschweigen einer Bedarfsgemeinschaft«.
»Ich schlafe seit Monaten nicht mehr«, sagte die Angeklagte mit zitternder Stimme, sie wolle endlich alles vom Tisch haben und das Geld in Raten abstottern. »Auch wenn ich mit meinem Einkommen unter der Pfändungsgrenze liege.« Unter Tränen verzichtete die Frau auf eine Verteidigung. Und auf ein Schlusswort.
Die eine Geschichte: Uli Hoeneß hat nie Reue gezeigt, hat sich nicht entschuldigt. Er hat geglaubt, mit seiner Popularität, seinem Charme und dem Charisma des Erfolgsmenschen aus dem Schlamassel herauszukommen. Er hat sich nicht wie ein Täter benommen, sondern wie ein Opfer – wie einer, dem Staatsanwälte, Steuerfahnder und Öffentlichkeit Ungebührliches antun, weil sie Aufklärung von ihm wollen. Aufklärung darüber, wie viele Millionen Euro, Franken oder Dollar er in der Schweiz versteckt hat, und darüber, wo die dreistelligen Millionenbeträge herkommen, mit denen er jonglierte. Mit der Wahrheit hat Hoeneß immer nur taktiert. Seine erste, nach einer Warnung in Eile gebastelte Selbstanzeige, war unvollständig. Die hinterzogenen Steuern waren um ein Vielfaches höher als eingeräumt. Die Fahnder, die von ihm seine Schweizer Kontounterlagen wollten, hielt Hoeneß hin – vielleicht in der Hoffnung, er könne die belastenden Papiere ganz aus dem Prozess heraushalten. Hoeneß hat den Staat über Jahre betrogen – und am Ende nur eine äußerst milde Strafe erhalten.
Die andere Geschichte: Das Urteil für die wohnungslose Frau in Döbeln: eineinhalb Jahre Freiheitsstrafe auf (drei Jahre) Bewährung. Dazu 100 Stunden gemeinnützige Arbeit beim Sozialen Dienst. »Wer mehrfach falsche Angaben zu seinen Lebens- und Wohnumständen macht, der handelt bewusst«, begründete die Richterin ihr Urteil. Solche Handlungen könnten nicht ohne Konsequenzen bleiben, da der Gesellschaft durch sie großer Schaden zugefügt würde. Von der Lebenslage der Angeklagten war nicht die Rede, nicht von ihrer Biografie aus fehlenden Chancen, nicht von den täglichen Demütigungen der Armut. Hätte die Frau nicht wegen Hartz-IV-Betrug, sondern wegen Steuerhinterziehung vor Gericht gestanden, wäre ihre Strafe deutlich geringer ausgefallen. Bei einer Schadenssumme von 21.398 Euro wäre das Verfahren wohl einfach eingestellt worden. Kein öffentlicher Prozess, kein Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis, nur eine Geldstrafe.
Die eine Geschichte: 2008 hat der Bundesgerichtshof einen Stufen-Straftarif für Steuerhinterziehung vorgegeben: Erst ab 100.000 Euro sei eine Freiheitsstrafe auf Bewährung zu verhängen. Und erst jenseits von einer Million Euro seinen Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren und ohne Bewährung angemessen.
Die andere Geschichte: Eine interne Faustregel gegen Hartz-IV-Betrüger bei der Staatsanwaltschaft Berlin lautet: Nur bis zu einem Schaden von 500 Euro werden Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt. Und bis zu 1000 Euro gegen Auflagen, zum Beispiel Sozialstunden. Bei über 1000 Euro wird angeklagt. Für Menschen, die bei der Beantragung von Hartz IV schummeln, gilt in voller Härte der allgemeine Betrugsparagraph des Strafgesetzbuches. Zudem gehen Gerichte bei einer zu Unrecht erhaltenen Hartz-IV-Leistung, die regelmäßig jeden Monat aufs Konto kommt, von »gewerbsmäßigem Betrug« aus. Der vorgesehene Strafrahmen: sechs Monate bis zehn Jahre Haft.
Die eine Geschichte: Steuerbetrüger werden vor den Härten des allgemeinen Betrugsparagraphen durch spezielle Steuertatbestände geschützt. Die sind milder und eröffnen außerdem Auswege. Wer mit einer Selbstanzeige reinen Tisch macht, kann einer Bestrafung entgehen. Der Staat hofft so, an Geld zu kommen, das sonst nie gemeldet worden wäre. Und auch jenseits von Paragraphen: Den »Leistungsträgern« unserer Gesellschaft wird auf den roten Teppichen der Prominenz eine Steuerhinterziehung schnell verziehen. Schließlich haben sie dem Staat nur ihr selbst erwirtschaftetes Geld vorenthalten. Doch ist es tatsächlich weniger verwerflich, den Staat aus der Position der Stärke übers Ohr zu hauen? Schadet ein Betrüger wie Uli Hoeneß der Gesellschaft weniger als die Angeklagte aus Döbeln?
Die ganze Geschichte: 50 Milliarden Euro jährlich sind es, die dem Staat durch Steuerhinterziehung entgehen. Dazu kommen weitere 50 Milliarden, die durch legale und halb legale Steuervermeidungskonstruktionen verloren gehen. Dafür könnte man schon ein paar Krankenhäuser oder Schulen oder Jugendtreffpunkte bauen. Der Schaden durch Hartz-IV-Betrug betrug nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im vergangenen Jahr 57,3 Millionen.
Die eine Geschichte: Uli Hoeneß wurde von den Bayern-München-Mitgliedern mit Applaus ins Gefängnis verabschiedet. Und nach seiner Entlassung mit Applaus begrüßt. Der Eintrag ins polizeiliche Führungszeugnis ist in seiner Position nicht relevant. Kaum raus aus dem Knast war Hoeneß – mit fast 100 Prozent der Stimmen – auch schon wieder Bayern-Präsident und Aufsichtsratsvorsitzender. Und immer noch Millionär.
Die andere Geschichte: Die Angeklagte aus Döbeln Frau gilt nun als vorbestraft und wird in einer Reihe von Berufen keine Chance mehr haben: Im Einzelhandel zum Beispiel oder bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten war sie wohnungslos. Ersparnisse gibt es nicht.