Überall im Osten werden Kirchgebäude aufgegeben. Die katholische Kirche verliert an Gläubigen, zunehmend erleiden aber auch die evangelischen Gemeinden einen Mitgliederschwund. Allzu viele Menschen sind freilich nicht vom Rückzug der großen Glaubensgemeinschaften betroffen. Beispiel Merseburg: Hier sind gerade einmal zwölf Prozent der Bevölkerung an eine Kirchgemeinde gebunden. Religion findet für die große Mehrheit längst nicht mehr statt.
Und trotzdem! Auch für diese gläubige Minderheit ist es eine enorme Verlusterfahrung, wenn der Gottesdienst nicht mehr an jedem Sonntag durchgeführt werden kann, weil der Pfarrer mehrere Gemeinden betreut. Wenn zu Ostern keine Taufen mehr stattfinden, weil der Nachwuchs fehlt. Wenn das Weihnachtsfest in einer anderen Kirche gefeiert werden muss.
Besonders dramatisch ist es aber zu erleben, dass die Kirche, in der man Kindheit, Jugend und frühe Erwachsenenjahre verbracht hat, ganz aufgegeben, entweiht und verkauft wird. Für viele Gläubige ist es eine bedrückende Erfahrung, wenn der einst geweihte Raum, in dem das Abendmahl als höchste religiöse Handlung zelebriert wurde, nun plötzlich nur noch ein Bauwerk aus Holz, Beton und Linoleum sein soll.
Nicht immer entfremden sich die Gläubigen von der Gemeinde, so dass eine Kirche nicht mehr tragfähig zu sein scheint. Oft rührt der Bevölkerungsschwund aus dem wirtschaftlichen Stillstand in weiten Teilen Ostdeutschlands her. Wenn die Arbeiter abwandern, wenn ihre Kinder an fernen Ausbildungsplätzen heimisch werden, dann leidet das soziale Leben der Zurückgebliebenen, zu dem im städtischen Raum und oft stärker noch auf dem Land auch die Kirche gehört. Gerade wenn auf dem Dorf das kulturelle Leben eher schwach ausgeprägt ist, hat die Kirche als Ort der Begegnung auch für Nichtgläubige eine große Bedeutung. Man muss nicht an Gott glauben, um an einem Dorffest im Pfarrgarten teilzunehmen. Die Schließung des Gebäudes trifft dann alle.
Wieder Beispiel Merseburg: Die Kirche Sankt Ulrich im Süden der Stadt war ein kultureller Mittelpunkt für die Menschen aus den umliegenden Arbeitersiedlungen und den Dörfern im Saaletal. Vor fünf Jahren wurde die Kirche aufgegeben. Seitdem steht das Gebäude leer und wartet auf seinen Verfall. Für die Menschen gibt es keinen Ort, den sie stattdessen aufsuchen können. Und so verliert ihr Leben ein Stück Miteinander und die Straße tauscht ein Stück Geschichte gegen einen künftigen Schandfleck.