»In unserer Familie gab es keine Wörter für den Abschied. Mein Vater hatte keine und meine Mutter auch nicht. Als wären sie ihnen mit der Zeit verloren gegangen, aus dem Sprachsack gefallen, Buchstabe für Buchstabe, und irgendwo liegen geblieben, wo sie niemand mehr fand. Oder sie schluckten sie einfach hinunter, jedes Mal, wenn sie ihnen in den Mund kamen.«
Es ist der elfjährige Ludi, der hier zu uns spricht. Seine Gedanken, seine Betrachtungen, seine Beobachtungen, seine Stimme kommen Seite für Seite zu uns und machen die Lektüre dieses Buches fernab jeglicher auktorialen Erzählweise zu einem berührend-anrührenden Leseerlebnis. Und auch der Titel, den der in Südtirol geborene und in Meran lebende Autor Sepp Mall für seinen Roman wählte, führt die Sicht des Kindes fort. Es ist eine Zeile aus einem alten Kinderlied, das wohl jeder kennt: »Ein Hund kam in die Küche«.
Meran/Merano/Südtirol/Alto Adige. Ein Schriftsteller aus der nördlichsten Provinz Italiens mit der Hauptstadt Bozen innerhalb der autonomen Region Trentino-Südtirol. Ein Schriftsteller, der in deutscher Sprache schreibt, die von 70 Prozent der Südtiroler Bevölkerung gesprochen wird, dessen Buch in einem österreichischen Verlag erschienen ist und der für den Deutschen Buchpreis 2023 der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels nominiert worden war. Diese Konstellation ist fast so etwas wie ein immer noch sichtbares Zeichen für all die geschichtlichen Kalamitäten und politischen Umbrüche, die über die Region und seine Menschen in den letzten 100 Jahren gekommen sind und wie sie auch heute noch in vielen Teilen der Welt Ursache mannigfacher Unruhe sind.
Der Hintergrund des Buches ist historisch. Nach dem Ersten Weltkrieg musste Österreich 1919 einen Teil der ehemaligen Grafschaft Tirol an Italien abtreten, obwohl deren Einwohner nur zu 3 Prozent Italiener waren. Erklärtes Ziel der Regierung in Rom war es, das Staatsgebiet so auszudehnen, dass die Alpen, der Brenner im Norden, die natürliche Grenze bilden. In den folgenden Jahren forcierte der Staat seine Italienisierungspolitik, gegen den Widerstand der deutschsprachigen Bevölkerungsmehrheit. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland schlossen Hitler und Mussolini 1939 den »Optionsvertrag«. Dadurch erhielten Südtiroler das Optionsrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit, mit der die Auswanderung aus Südtirol »heim ins Reich« verbunden sein sollte, eine Entscheidungsmöglichkeit, deren Folgen noch heute in Südtirol zu spüren sind. Der Brockhaus Enzyklopädie entnehme ich, dass von den 245 000 Abstimmungsberechtigten etwa 210 000 für Deutschland optierten. Wegen des Krieges wurden jedoch bis 1942 nur etwa 75 000 Personen tatsächlich umgesiedelt.
Es ist vor allem Ludis Vater, der, von der deutschen Propagandawelle übermannt,1942 den »Wandern« genannten Schritt vorantreibt. Eindrücklich schildert der Elfjährige die letzten Tage im Heimatdorf, den schmerzhaften Abschied von der gewohnten Umgebung, von den Spielgefährten. Bei den Eltern überwiegt die Hoffnung, endlich ein gleichberechtigtes Leben als Deutsche unter Deutschen führen zu können.
In Innsbruck, der ersten Station im Deutschen Reich, muss sich die ganze Familie einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, und das Unheil nähert sich auf leisen Sohlen. Ein Uniformierter, der hinter einem Schreibtisch sitzt, meint, mit einem Blick auf Ludis vierjährigen Bruder Hanno, »man müsse einiges noch genauer anschauen«. Sie sollen sich in drei Tagen im Universitätsspital einfinden.
Hanno ist behindert, kann nicht richtig laufen und sprechen. Nach der Untersuchung im Krankenhaus wird den Eltern mitgeteilt, dass sie den Jungen in ein Kinderheim bringen sollen. Dies übernehmen Mutter und Bruder. Eine Ordensschwester nimmt sie an der Pforte des Sankt-Josef-Hauses in Empfang, und während die Mutter am Tresen diverse Blätter unterschreiben muss, beobachtet Ludi, wie Hanno weggebracht wird, ohne dass es die Mutter bemerkt.
»Er wackelte an der Hand der Schwester über den glänzend gewienerten Boden, sein linkes Bein war nach außen gedreht, und bereits an der ersten Treppenstufe blieb er mit dem Absatz hängen. Die Schwester fasste ihn am Oberarm und unter der Schulter, und so schaukelten sie weiter, Schritt für Schritt den Gang entlang. Hanno wand sich wie eine Katze, einmal nach links, einmal nach rechts, dann begriff ich, dass er sich nach uns umdrehen wollte, nach Mutter und mir.« Sie werden Hanno nicht wiedersehen.
Vier Tage später bringt ein Zug die nur noch dreiköpfige Familie in einen kleinen Ort im Oberdonaugau in Oberösterreich. Jetzt sind sie im Reich angekommen. Zwei Wochen später ist auch der Vater verschwunden, ohne sich von Ludi zu verabschieden. »Er musste nach Wien«, sagte die Mutter, »mit dem ersten Zug. Er kommt dann nach Frankreich, zum Barras, zur Soldatenausbildung.«
Geradezu sehnsüchtig hatte der Vater dem Tag entgegengefiebert, an dem ihn das deutsche Vaterland zu den Waffen ruft, an dem er endlich Uniform tragen darf, an dem er ein deutscher Soldat ist. Und als es so weit war, »saß er auf dem Bett neben Mutter und sortierte sein Rasierzeug auf der Decke, dann richtete er sich auf und sagte, er sei jetzt ein Soldat, (…) weil es seine Pflicht sei, und es könne nicht lange dauern, bis er wieder zu uns zurückkehre. Das geht alles ruckzuck, sagte er, bei unserer Überlegenheit, und Mama nickte bloß.«
Und damit waren es nur noch zwei. Der Vater sollte bis zum Ende des Krieges, außer zu einem Kurzurlaub, nicht mehr zurückkehren und danach, von den Schrecken gezeichnet, die ihm widerfahren waren und die er selbst angerichtet hatte, vor allem in Russland, nicht mehr zum gewohnten Familienleben zurückfinden. Auch von Hanno kommt keine Nachricht, bis eines Tages ein Brief der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee eintrifft, wohin Hanno inzwischen ohne Wissen der Familie von Innsbruck aus überführt worden war. In dem Schreiben wird Auskunft ersucht über Krankendaten, ärztliche Bescheinigungen, gesundheitliche Probleme und verschriebene Medikamente des Kindes. Ein halbes Jahr später lebt Hanno nicht mehr. Er sei an einer Lungenentzündung gestorben, heißt es in einem formlosen Schreiben.
Heute ist bekannt, dass die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee im Zuge der »Euthanasie« an der Ermordung zahlreicher Patienten beteiligt und ihr Direktor ein aktiver Befürworter der Tötung geistig und körperlich beeinträchtigter Menschen war.
Doch Hanno ist für Ludi nicht tot. Wenn er allein ist, taucht sein Bruder unvermittelt auf. Hanno materialisiert sich in seinen nächtlichen Träumen und ist im Wachsein gegenwärtig und, als Traumbild, als Gesprächspartner, als wär’s ein Stück von ihm. Ludi ist am Ende des Romans 14 Jahre alt.
Die frühere Heimat Südtirol hat weiter ihren Platz im Herzen von Mutter und Sohn. Beide wissen: Für sie kann es nur eine Richtung, nur ein Ziel geben. Sepp Mall hat es als Motto seinem Roman vorausgestellt: »Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause« (aus: »Heinrich von Ofterdingen« von Novalis). Eines Tages, nachdem der Krieg vorbei ist, brechen Mutter und Ludi auf, nichts hält sie mehr in diesem »Niemandsland«, in dem sie zu keiner Stunde heimisch waren. Nächtens lassen sie sich über die Grüne Grenze von Österreich ins nahe Südtirol führen. Sie haben ja nur deutsche Papiere.
Doch in der alten Heimat werden sie nicht mit offenen Armen aufgenommen. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Sie sind jetzt »Habenichtse, die dem Hitler nachgelaufen waren«. Heim ins Reich, dieser Irrweg hat die Familie Unterweger zerstört. Und nicht nur diese. Sepp Mall hat ein Buch geschrieben, das man nicht ohne innere Rührung aus der Hand legt.
Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche, Leykam Buchverlagsgesellschaft, Graz-Wien-Berlin 2023, 192 S., 24 €.