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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kindermund tut Wahrheit kund

»In unse­rer Fami­lie gab es kei­ne Wör­ter für den Abschied. Mein Vater hat­te kei­ne und mei­ne Mut­ter auch nicht. Als wären sie ihnen mit der Zeit ver­lo­ren gegan­gen, aus dem Sprach­sack gefal­len, Buch­sta­be für Buch­sta­be, und irgend­wo lie­gen geblie­ben, wo sie nie­mand mehr fand. Oder sie schluck­ten sie ein­fach hin­un­ter, jedes Mal, wenn sie ihnen in den Mund kamen.«

Es ist der elf­jäh­ri­ge Ludi, der hier zu uns spricht. Sei­ne Gedan­ken, sei­ne Betrach­tun­gen, sei­ne Beob­ach­tun­gen, sei­ne Stim­me kom­men Sei­te für Sei­te zu uns und machen die Lek­tü­re die­ses Buches fern­ab jeg­li­cher aukt­oria­len Erzähl­wei­se zu einem berüh­rend-anrüh­ren­den Lese­er­leb­nis. Und auch der Titel, den der in Süd­ti­rol gebo­re­ne und in Meran leben­de Autor Sepp Mall für sei­nen Roman wähl­te, führt die Sicht des Kin­des fort. Es ist eine Zei­le aus einem alten Kin­der­lied, das wohl jeder kennt: »Ein Hund kam in die Küche«.

Meran/​Merano/​Südtirol/​Alto Adi­ge. Ein Schrift­stel­ler aus der nörd­lich­sten Pro­vinz Ita­li­ens mit der Haupt­stadt Bozen inner­halb der auto­no­men Regi­on Tren­ti­no-Süd­ti­rol. Ein Schrift­stel­ler, der in deut­scher Spra­che schreibt, die von 70 Pro­zent der Süd­ti­ro­ler Bevöl­ke­rung gespro­chen wird, des­sen Buch in einem öster­rei­chi­schen Ver­lag erschie­nen ist und der für den Deut­schen Buch­preis 2023 der Stif­tung Buch­kul­tur und Lese­för­de­rung des Bör­sen­ver­eins des Deut­schen Buch­han­dels nomi­niert wor­den war. Die­se Kon­stel­la­ti­on ist fast so etwas wie ein immer noch sicht­ba­res Zei­chen für all die geschicht­li­chen Kala­mi­tä­ten und poli­ti­schen Umbrü­che, die über die Regi­on und sei­ne Men­schen in den letz­ten 100 Jah­ren gekom­men sind und wie sie auch heu­te noch in vie­len Tei­len der Welt Ursa­che man­nig­fa­cher Unru­he sind.

Der Hin­ter­grund des Buches ist histo­risch. Nach dem Ersten Welt­krieg muss­te Öster­reich 1919 einen Teil der ehe­ma­li­gen Graf­schaft Tirol an Ita­li­en abtre­ten, obwohl deren Ein­woh­ner nur zu 3 Pro­zent Ita­lie­ner waren. Erklär­tes Ziel der Regie­rung in Rom war es, das Staats­ge­biet so aus­zu­deh­nen, dass die Alpen, der Bren­ner im Nor­den, die natür­li­che Gren­ze bil­den. In den fol­gen­den Jah­ren for­cier­te der Staat sei­ne Ita­lie­ni­sie­rungs­po­li­tik, gegen den Wider­stand der deutsch­spra­chi­gen Bevöl­ke­rungs­mehr­heit. Nach dem Anschluss Öster­reichs an Deutsch­land schlos­sen Hit­ler und Mus­so­li­ni 1939 den »Opti­ons­ver­trag«. Dadurch erhiel­ten Süd­ti­ro­ler das Opti­ons­recht auf die deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit, mit der die Aus­wan­de­rung aus Süd­ti­rol »heim ins Reich« ver­bun­den sein soll­te, eine Ent­schei­dungs­mög­lich­keit, deren Fol­gen noch heu­te in Süd­ti­rol zu spü­ren sind. Der Brock­haus Enzy­klo­pä­die ent­neh­me ich, dass von den 245 000 Abstim­mungs­be­rech­tig­ten etwa 210 000 für Deutsch­land optier­ten. Wegen des Krie­ges wur­den jedoch bis 1942 nur etwa 75 000 Per­so­nen tat­säch­lich umgesiedelt.

Es ist vor allem Ludis Vater, der, von der deut­schen Pro­pa­gan­da­wel­le übermannt,1942 den »Wan­dern« genann­ten Schritt vor­an­treibt. Ein­drück­lich schil­dert der Elf­jäh­ri­ge die letz­ten Tage im Hei­mat­dorf, den schmerz­haf­ten Abschied von der gewohn­ten Umge­bung, von den Spiel­ge­fähr­ten. Bei den Eltern über­wiegt die Hoff­nung, end­lich ein gleich­be­rech­tig­tes Leben als Deut­sche unter Deut­schen füh­ren zu können.

In Inns­bruck, der ersten Sta­ti­on im Deut­schen Reich, muss sich die gan­ze Fami­lie einer ärzt­li­chen Unter­su­chung unter­zie­hen, und das Unheil nähert sich auf lei­sen Soh­len. Ein Uni­for­mier­ter, der hin­ter einem Schreib­tisch sitzt, meint, mit einem Blick auf Ludis vier­jäh­ri­gen Bru­der Han­no, »man müs­se eini­ges noch genau­er anschau­en«. Sie sol­len sich in drei Tagen im Uni­ver­si­täts­spi­tal einfinden.

Han­no ist behin­dert, kann nicht rich­tig lau­fen und spre­chen. Nach der Unter­su­chung im Kran­ken­haus wird den Eltern mit­ge­teilt, dass sie den Jun­gen in ein Kin­der­heim brin­gen sol­len. Dies über­neh­men Mut­ter und Bru­der. Eine Ordens­schwe­ster nimmt sie an der Pfor­te des Sankt-Josef-Hau­ses in Emp­fang, und wäh­rend die Mut­ter am Tre­sen diver­se Blät­ter unter­schrei­ben muss, beob­ach­tet Ludi, wie Han­no weg­ge­bracht wird, ohne dass es die Mut­ter bemerkt.

»Er wackel­te an der Hand der Schwe­ster über den glän­zend gewie­ner­ten Boden, sein lin­kes Bein war nach außen gedreht, und bereits an der ersten Trep­pen­stu­fe blieb er mit dem Absatz hän­gen. Die Schwe­ster fass­te ihn am Ober­arm und unter der Schul­ter, und so schau­kel­ten sie wei­ter, Schritt für Schritt den Gang ent­lang. Han­no wand sich wie eine Kat­ze, ein­mal nach links, ein­mal nach rechts, dann begriff ich, dass er sich nach uns umdre­hen woll­te, nach Mut­ter und mir.« Sie wer­den Han­no nicht wiedersehen.

Vier Tage spä­ter bringt ein Zug die nur noch drei­köp­fi­ge Fami­lie in einen klei­nen Ort im Ober­do­nau­gau in Ober­öster­reich. Jetzt sind sie im Reich ange­kom­men. Zwei Wochen spä­ter ist auch der Vater ver­schwun­den, ohne sich von Ludi zu ver­ab­schie­den. »Er muss­te nach Wien«, sag­te die Mut­ter, »mit dem ersten Zug. Er kommt dann nach Frank­reich, zum Bar­ras, zur Soldatenausbildung.«

Gera­de­zu sehn­süch­tig hat­te der Vater dem Tag ent­ge­gen­ge­fie­bert, an dem ihn das deut­sche Vater­land zu den Waf­fen ruft, an dem er end­lich Uni­form tra­gen darf, an dem er ein deut­scher Sol­dat ist. Und als es so weit war, »saß er auf dem Bett neben Mut­ter und sor­tier­te sein Rasier­zeug auf der Decke, dann rich­te­te er sich auf und sag­te, er sei jetzt ein Sol­dat, (…) weil es sei­ne Pflicht sei, und es kön­ne nicht lan­ge dau­ern, bis er wie­der zu uns zurück­keh­re. Das geht alles ruck­zuck, sag­te er, bei unse­rer Über­le­gen­heit, und Mama nick­te bloß.«

Und damit waren es nur noch zwei. Der Vater soll­te bis zum Ende des Krie­ges, außer zu einem Kurz­ur­laub, nicht mehr zurück­keh­ren und danach, von den Schrecken gezeich­net, die ihm wider­fah­ren waren und die er selbst ange­rich­tet hat­te, vor allem in Russ­land, nicht mehr zum gewohn­ten Fami­li­en­le­ben zurück­fin­den. Auch von Han­no kommt kei­ne Nach­richt, bis eines Tages ein Brief der Heil- und Pfle­ge­an­stalt Kauf­beu­ren-Irsee ein­trifft, wohin Han­no inzwi­schen ohne Wis­sen der Fami­lie von Inns­bruck aus über­führt wor­den war. In dem Schrei­ben wird Aus­kunft ersucht über Kran­ken­da­ten, ärzt­li­che Beschei­ni­gun­gen, gesund­heit­li­che Pro­ble­me und ver­schrie­be­ne Medi­ka­men­te des Kin­des. Ein hal­bes Jahr spä­ter lebt Han­no nicht mehr. Er sei an einer Lun­gen­ent­zün­dung gestor­ben, heißt es in einem form­lo­sen Schreiben.

Heu­te ist bekannt, dass die Heil- und Pfle­ge­an­stalt Kauf­beu­ren-Irsee im Zuge der »Eutha­na­sie« an der Ermor­dung zahl­rei­cher Pati­en­ten betei­ligt und ihr Direk­tor ein akti­ver Befür­wor­ter der Tötung gei­stig und kör­per­lich beein­träch­tig­ter Men­schen war.

Doch Han­no ist für Ludi nicht tot. Wenn er allein ist, taucht sein Bru­der unver­mit­telt auf. Han­no mate­ria­li­siert sich in sei­nen nächt­li­chen Träu­men und ist im Wach­sein gegen­wär­tig und, als Traum­bild, als Gesprächs­part­ner, als wär’s ein Stück von ihm. Ludi ist am Ende des Romans 14 Jah­re alt.

Die frü­he­re Hei­mat Süd­ti­rol hat wei­ter ihren Platz im Her­zen von Mut­ter und Sohn. Bei­de wis­sen: Für sie kann es nur eine Rich­tung, nur ein Ziel geben. Sepp Mall hat es als Mot­to sei­nem Roman vor­aus­ge­stellt: »Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hau­se« (aus: »Hein­rich von Ofter­din­gen« von Nova­lis). Eines Tages, nach­dem der Krieg vor­bei ist, bre­chen Mut­ter und Ludi auf, nichts hält sie mehr in die­sem »Nie­mands­land«, in dem sie zu kei­ner Stun­de hei­misch waren. Näch­tens las­sen sie sich über die Grü­ne Gren­ze von Öster­reich ins nahe Süd­ti­rol füh­ren. Sie haben ja nur deut­sche Papiere.

Doch in der alten Hei­mat wer­den sie nicht mit offe­nen Armen auf­ge­nom­men. Nichts ist mehr, wie es ein­mal war. Sie sind jetzt »Habe­nicht­se, die dem Hit­ler nach­ge­lau­fen waren«. Heim ins Reich, die­ser Irr­weg hat die Fami­lie Unter­we­ger zer­stört. Und nicht nur die­se. Sepp Mall hat ein Buch geschrie­ben, das man nicht ohne inne­re Rüh­rung aus der Hand legt.

 Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche, Ley­kam Buch­ver­lags­ge­sell­schaft, Graz-Wien-Ber­lin 2023, 192 S., 24 €.