Das gilt hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine offensichtlich auch noch für Zwölftklässler des Berliner Walther Rathenau-Gymnasiums – wie es ein Hauptsache Frieden betitelter Artikel in der Zeit vom 21. April dankenswerter Weise schilderte. An Stellwänden konnten die Schüler ihre Emotionen kundtun. Autor Jan Rübel las »Beendet überall den Krieg!« »Haltet durch« und »Nicht alle Russen wollen Krieg«, »Krieg ist blöd«. Und immer wieder »Pray for Ukraine«.
Umgetrieben von der Sorge, dass sich in ihrer Schule Ukrainer und Russen »verbal an die Gurgel gehen« könnten – was in anderen Schulen bereits der Fall ist – lud Rektorin Solveig Knobelsdorf die Osteuropaexpertinnen Corinna Kuhr-Korolev und Kateryna Chernii vom »Leibnitz-Zentrum für zeithistorische Forschung« ein, um mit den Abiturienten zu sprechen. Nachdem die beiden Wissenschaftlerinnen eine historische Einführung über den Zusammenbruch der Sowjetunion und die selbständig gewordenen Republiken gegeben hatten, warfen die Schüler erstaunliche Fragen auf, die ihnen unter den Nägeln brannten.
Wieso Abkömmlinge von Russen und Ukrainern sowie die Mädchen generell zögerten, das Wort zu ergreifen, ist unklar. Hinsichtlich der Russen vermutet die Rektorin, dass sie »zwischen der Propaganda im russischen Staatsfernsehen« und »all dem, was draußen auf sie eindringt« hin- und hergerissen seien. Immerhin äußerte eine Syrerin, dass ukrainische Flüchtlinge besser behandelt würden als ihre Landsleute im Jahr 2015.
Vor allem Schüler mit deutschem Hintergrund wagten sich vor. Gefragt wurde, »ob das nun der dritte Weltkrieg« sei und: »Ist das auch ein Krieg zwischen Russland und den USA?« Frau Kuhr-Korelev konterte: »Zuerst ist anzuerkennen, dass es ein Krieg gegen ukrainische Truppen und gegen die Bevölkerung ist.« Und: »Russland will seine ehemalige Stellung wiederhaben, auch gegenüber Amerika.«
Auf die Frage »Schaden die Sanktionen nicht eher uns?« kam die Antwort, dass Russland schon jetzt sehr darunter leide. Und – wenig beruhigend für die Schüler: »Es wird in Deutschland eine Kostenexplosion geben. Aber ich bin der Meinung, dass wir diesen Preis bezahlen müssen – auf die Erpressungspolitik des Kremls sollten wir uns nicht einlassen.«
Die Teenager wollten auch wissen, »was passieren würde, sollte Russland den Krieg gewinnen«. Gebe es keine Wege, ihn friedlich zu beenden? Welche Rolle spiele China? Und »Länder wie Amerika haben auch Kriege begonnen und dafür keine Sanktionen erhalten. Warum nicht?« Darauf kann Frau Kuhr-Korelev nur seufzen: »Offenbar funktioniert die globale Sicherheitsarchitektur nicht gut. Da geht nicht immer alles gerecht zu.« Schließlich gibt sie zu, dass sie »als Osteuropahistorikerin überfragt« sei. Ein Eingeständnis, dass die eigene Wissenschaft nicht mehr als einen Tunnelblick bietet.
Ein Schüler wirft ein: »Die Sanktionen sind doch gegen unsere Sicherheit, weil Putin Konsequenzen angedroht hat.«
Der für den Artikel zeichnende Journalist beobachtete einen mit »jeder Minute« wachsenden »Abstand zwischen den Jugendlichen und den beiden Expertinnen«. Ein Schüler wagte sogar, die Idee eines raschen Kriegsendes durch Nachgeben der Kiewer Regierung in Erwägung zu ziehen: »Warum stimmt die Ukraine nicht einfach zu und gibt das Land im Osten ab?« Kateryna Chernii, die um ukrainische Verwandte bangen muss, kann nur nervös antworten: »Solchen Regimen wie Russland reicht es nie. Wenn wir jetzt nachgeben, wollen sie immer mehr.« Der Schüler hakt jedoch nach: »Aber besser, als Menschen sterben zu lassen.«
Weil die Diskussion zu entgleisen droht, versucht Frau Chernii, die Emotionen der Schüler mit dem Zitat der ersten Zeile der ukrainischen Nationalhymne zu wecken: »Noch sind wir nicht gestorben.« Dann behauptet sie, Russland sei immer der Aggressor gewesen, gegen den jetzt antifaschistischer Widerstand mobilisiert werden müsse: Wenn sich hierzulande Nazis »an die Macht putschen würden, würden dann viele Deutsche sich damit abfinden und nichts unternehmen«?
Später ziehen die beiden Expertinnen bei der Rektorin eine ernüchterte Abschlussbilanz. Frau Chernii kam sich manchmal vor »wie in einer russischen Klasse«. Und auch sie beharrt darauf, dass der Krieg in ihrer Heimat nicht im Zusammenhang mit geopolitischen Konstellationen beurteilt werden dürfe: »Was können wir für all die Verbrechen, die auf der Welt begangen werden.«
Frau Kuhr-Korelev, die einen russischen Ehemann und lange in Russland gelebt hat, zeigte mehr Verständnis für die Schüler, denn in der Gesellschaft wäre die Ansicht verbreitet, dass sich »Russland von der Nato bedroht« fühle. Außerdem gebe es »eine grundsätzliche Abneigung gegenüber den USA«.
Dass Rektorin Knobelsdorf die Meinungsfreiheit der Schüler mit dem Argument verteidigte, hier wirke ein »Erbe der Friedensbewegung« nach, ist eine Haltung, die nicht an allen deutschen Schulen herrscht und deshalb lebhaft zu begrüßen ist.
Schulleitung und Schüler scheinen sich des Erbes ihres Namenspatrons bewusst zu sein: War es doch Außenminister Walther Rathenau, der 1922 den Vertrag in Rapallo schloss, mit dem Italien und Deutschland als erste westliche Staaten die Sowjetunion diplomatisch anerkannten, um eine Ära der Zusammenarbeit zu eröffnen. Der Verhandlungsführer Rathenau bezahlte das mit seinem Leben. Anstelle der geplanten weitgesteckten wirtschaftlichen Zusammenarbeit kam es dann nur zu zweifelhaften militärischen Kooperationen, womit sich das durch den Versailler Vertrag gedemütigte deutsche Heer geheime Trainingsmöglichkeiten sicherte.
Im Jahr vor dem Rapallo-Vertrag hatte Marschall Jósef Piłsudski im polnisch-sowjetischen Krieg das heutige Gebiet der Westukraine erobert. Es gehörte zwar einst zur polnisch-litauischen Adelsrepublik, war aber nach dem 1. Weltkrieg Sowjetrussland zugesprochen worden, weil die Bevölkerungsmehrheit dort aus Ukrainern bestand. Im Zwischenkriegspolen waren die Ukrainer eine stark unterdrückte Bevölkerungsgruppe, weshalb sich dort die Unabhängigkeitsbewegung des Stepan Bandera entwickelte. 1939 sicherte Stalin das Gebiet im »Deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag« als Einflusszone und besetzte es zwei Wochen nach dem Einfall der Wehrmacht in Polen. Mit wenigen Abweichungen stellt die 1919 in internationaler Übereinkunft ausgehandelte Curzon-Linie seitdem die anerkannte Westgrenze der Ukraine, Weißrusslands und Litauens dar.
Möge der Meinungsstreit an der Walther-Rathenau-Schule weiter gewaltfrei vor sich gehen.