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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kindermund tut Wahrheit kund

Das gilt hin­sicht­lich des Kriegs in der Ukrai­ne offen­sicht­lich auch noch für Zwölft­kläss­ler des Ber­li­ner Walt­her Rathen­au-Gym­na­si­ums – wie es ein Haupt­sa­che Frie­den beti­tel­ter Arti­kel in der Zeit vom 21. April dan­kens­wer­ter Wei­se schil­der­te. An Stell­wän­den konn­ten die Schü­ler ihre Emo­tio­nen kund­tun. Autor Jan Rübel las »Been­det über­all den Krieg!« »Hal­tet durch« und »Nicht alle Rus­sen wol­len Krieg«, »Krieg ist blöd«. Und immer wie­der »Pray for Ukraine«.

Umge­trie­ben von der Sor­ge, dass sich in ihrer Schu­le Ukrai­ner und Rus­sen »ver­bal an die Gur­gel gehen« könn­ten – was in ande­ren Schu­len bereits der Fall ist – lud Rek­to­rin Solv­eig Kno­bels­dorf die Ost­eu­ro­pa­ex­per­tin­nen Corin­na Kuhr-Koro­lev und Katery­na Cher­nii vom »Leib­nitz-Zen­trum für zeit­hi­sto­ri­sche For­schung« ein, um mit den Abitu­ri­en­ten zu spre­chen. Nach­dem die bei­den Wis­sen­schaft­le­rin­nen eine histo­ri­sche Ein­füh­rung über den Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on und die selb­stän­dig gewor­de­nen Repu­bli­ken gege­ben hat­ten, war­fen die Schü­ler erstaun­li­che Fra­gen auf, die ihnen unter den Nägeln brannten.

Wie­so Abkömm­lin­ge von Rus­sen und Ukrai­nern sowie die Mäd­chen gene­rell zöger­ten, das Wort zu ergrei­fen, ist unklar. Hin­sicht­lich der Rus­sen ver­mu­tet die Rek­to­rin, dass sie »zwi­schen der Pro­pa­gan­da im rus­si­schen Staats­fern­se­hen« und »all dem, was drau­ßen auf sie ein­dringt« hin- und her­ge­ris­sen sei­en. Immer­hin äußer­te eine Syre­rin, dass ukrai­ni­sche Flücht­lin­ge bes­ser behan­delt wür­den als ihre Lands­leu­te im Jahr 2015.

Vor allem Schü­ler mit deut­schem Hin­ter­grund wag­ten sich vor. Gefragt wur­de, »ob das nun der drit­te Welt­krieg« sei und: »Ist das auch ein Krieg zwi­schen Russ­land und den USA?« Frau Kuhr-Kore­lev kon­ter­te: »Zuerst ist anzu­er­ken­nen, dass es ein Krieg gegen ukrai­ni­sche Trup­pen und gegen die Bevöl­ke­rung ist.« Und: »Russ­land will sei­ne ehe­ma­li­ge Stel­lung wie­der­ha­ben, auch gegen­über Amerika.«

Auf die Fra­ge »Scha­den die Sank­tio­nen nicht eher uns?« kam die Ant­wort, dass Russ­land schon jetzt sehr dar­un­ter lei­de. Und – wenig beru­hi­gend für die Schü­ler: »Es wird in Deutsch­land eine Kosten­ex­plo­si­on geben. Aber ich bin der Mei­nung, dass wir die­sen Preis bezah­len müs­sen – auf die Erpres­sungs­po­li­tik des Kremls soll­ten wir uns nicht einlassen.«

Die Teen­ager woll­ten auch wis­sen, »was pas­sie­ren wür­de, soll­te Russ­land den Krieg gewin­nen«. Gebe es kei­ne Wege, ihn fried­lich zu been­den? Wel­che Rol­le spie­le Chi­na? Und »Län­der wie Ame­ri­ka haben auch Krie­ge begon­nen und dafür kei­ne Sank­tio­nen erhal­ten. War­um nicht?« Dar­auf kann Frau Kuhr-Kore­lev nur seuf­zen: »Offen­bar funk­tio­niert die glo­ba­le Sicher­heits­ar­chi­tek­tur nicht gut. Da geht nicht immer alles gerecht zu.« Schließ­lich gibt sie zu, dass sie »als Ost­eu­ro­pa­hi­sto­ri­ke­rin über­fragt« sei. Ein Ein­ge­ständ­nis, dass die eige­ne Wis­sen­schaft nicht mehr als einen Tun­nel­blick bietet.

Ein Schü­ler wirft ein: »Die Sank­tio­nen sind doch gegen unse­re Sicher­heit, weil Putin Kon­se­quen­zen ange­droht hat.«

Der für den Arti­kel zeich­nen­de Jour­na­list beob­ach­te­te einen mit »jeder Minu­te« wach­sen­den »Abstand zwi­schen den Jugend­li­chen und den bei­den Exper­tin­nen«. Ein Schü­ler wag­te sogar, die Idee eines raschen Kriegs­en­des durch Nach­ge­ben der Kie­wer Regie­rung in Erwä­gung zu zie­hen: »War­um stimmt die Ukrai­ne nicht ein­fach zu und gibt das Land im Osten ab?« Katery­na Cher­nii, die um ukrai­ni­sche Ver­wand­te ban­gen muss, kann nur ner­vös ant­wor­ten: »Sol­chen Regi­men wie Russ­land reicht es nie. Wenn wir jetzt nach­ge­ben, wol­len sie immer mehr.« Der Schü­ler hakt jedoch nach: »Aber bes­ser, als Men­schen ster­ben zu lassen.«

Weil die Dis­kus­si­on zu ent­glei­sen droht, ver­sucht Frau Cher­nii, die Emo­tio­nen der Schü­ler mit dem Zitat der ersten Zei­le der ukrai­ni­schen Natio­nal­hym­ne zu wecken: »Noch sind wir nicht gestor­ben.« Dann behaup­tet sie, Russ­land sei immer der Aggres­sor gewe­sen, gegen den jetzt anti­fa­schi­sti­scher Wider­stand mobi­li­siert wer­den müs­se: Wenn sich hier­zu­lan­de Nazis »an die Macht put­schen wür­den, wür­den dann vie­le Deut­sche sich damit abfin­den und nichts unternehmen«?

Spä­ter zie­hen die bei­den Exper­tin­nen bei der Rek­to­rin eine ernüch­ter­te Abschluss­bi­lanz. Frau Cher­nii kam sich manch­mal vor »wie in einer rus­si­schen Klas­se«. Und auch sie beharrt dar­auf, dass der Krieg in ihrer Hei­mat nicht im Zusam­men­hang mit geo­po­li­ti­schen Kon­stel­la­tio­nen beur­teilt wer­den dür­fe: »Was kön­nen wir für all die Ver­bre­chen, die auf der Welt began­gen werden.«

Frau Kuhr-Kore­lev, die einen rus­si­schen Ehe­mann und lan­ge in Russ­land gelebt hat, zeig­te mehr Ver­ständ­nis für die Schü­ler, denn in der Gesell­schaft wäre die Ansicht ver­brei­tet, dass sich »Russ­land von der Nato bedroht« füh­le. Außer­dem gebe es »eine grund­sätz­li­che Abnei­gung gegen­über den USA«.

Dass Rek­to­rin Kno­bels­dorf die Mei­nungs­frei­heit der Schü­ler mit dem Argu­ment ver­tei­dig­te, hier wir­ke ein »Erbe der Frie­dens­be­we­gung« nach, ist eine Hal­tung, die nicht an allen deut­schen Schu­len herrscht und des­halb leb­haft zu begrü­ßen ist.

Schul­lei­tung und Schü­ler schei­nen sich des Erbes ihres Namens­pa­trons bewusst zu sein: War es doch Außen­mi­ni­ster Walt­her Rathen­au, der 1922 den Ver­trag in Rapal­lo schloss, mit dem Ita­li­en und Deutsch­land als erste west­li­che Staa­ten die Sowjet­uni­on diplo­ma­tisch aner­kann­ten, um eine Ära der Zusam­men­ar­beit zu eröff­nen. Der Ver­hand­lungs­füh­rer Rathen­au bezahl­te das mit sei­nem Leben. Anstel­le der geplan­ten weit­ge­steck­ten wirt­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit kam es dann nur zu zwei­fel­haf­ten mili­tä­ri­schen Koope­ra­tio­nen, womit sich das durch den Ver­sailler Ver­trag gede­mü­tig­te deut­sche Heer gehei­me Trai­nings­mög­lich­kei­ten sicherte.

Im Jahr vor dem Rapal­lo-Ver­trag hat­te Mar­schall Jósef Pił­sud­ski im pol­nisch-sowje­ti­schen Krieg das heu­ti­ge Gebiet der West­ukrai­ne erobert. Es gehör­te zwar einst zur pol­nisch-litaui­schen Adels­re­pu­blik, war aber nach dem 1. Welt­krieg Sowjet­russ­land zuge­spro­chen wor­den, weil die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit dort aus Ukrai­nern bestand. Im Zwi­schen­kriegs­po­len waren die Ukrai­ner eine stark unter­drück­te Bevöl­ke­rungs­grup­pe, wes­halb sich dort die Unab­hän­gig­keits­be­we­gung des Ste­pan Ban­de­ra ent­wickel­te. 1939 sicher­te Sta­lin das Gebiet im »Deutsch-sowje­ti­schen Freund­schafts­ver­trag« als Ein­fluss­zo­ne und besetz­te es zwei Wochen nach dem Ein­fall der Wehr­macht in Polen. Mit weni­gen Abwei­chun­gen stellt die 1919 in inter­na­tio­na­ler Über­ein­kunft aus­ge­han­del­te Cur­zon-Linie seit­dem die aner­kann­te West­gren­ze der Ukrai­ne, Weiß­russ­lands und Litau­ens dar.

Möge der Mei­nungs­streit an der Walt­her-Rathen­au-Schu­le wei­ter gewalt­frei vor sich gehen.