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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kinderarmut: Gestohlenes Leben

Im Febru­ar hal­bier­te Bun­des­fa­mi­li­en­mi­ni­ste­rin Fran­zis­ka Gif­fey (SPD) die Kin­der­ar­mut in Deutsch­land – und kein ein­zi­ges Publi­ka­ti­ons­or­gan von Bedeu­tung inter­es­sier­te sich dafür.

Das kam so: Von 13 Mil­lio­nen Kin­dern in Deutsch­land sei­en vier Mil­lio­nen (gut 30 Pro­zent) arm oder von Armut bedroht, so die Mini­ste­rin wäh­rend der ersten Lesung zum soge­nann­ten Star­ke-Fami­li­en-Gesetz im Ple­num des Bun­des­ta­ges am 14. Febru­ar (Ori­gi­nal­re­de nach: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/mediathek/dr--franziska-giffey-spricht-zum-starke-familien-gesetz/133770). Im dar­auf­fol­gen­den Bun­des­tags­pro­to­koll wur­den weni­ge Tage spä­ter aus den vier Mil­lio­nen zwei Mil­lio­nen arme bezie­hungs­wei­se armuts­ge­fähr­de­te Kin­der (Ple­nar­pro­to­koll 19/​80, S. 9281). Zwi­schen der gehal­te­nen Rede der Mini­ste­rin und der Manu­skript­ab­ga­be weni­ge Tage spä­ter muss­te also ein Wun­der gesche­hen sein. Doch obwohl ich in der weni­ge Wochen spä­ter statt­fin­den­den par­la­men­ta­ri­schen Anhö­rung des Fami­li­en­aus­schus­ses des Deut­schen Bun­des­ta­ges auf das Mira­kel hin­wies (vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/627816/e52bd1307ede1582c1e9717903e89976/19-13-36h_Klundt-data.pdf), fand die bemer­kens­wer­te Nach­richt von der kur­zer­hand um zwei Mil­lio­nen Kin­der hal­bier­ten Kin­der­ar­mut kei­ner­lei pres­se­tech­ni­schen Widerhall.

Der 5. und bis­lang aktu­ell­ste Armuts- und Reich­tums­be­richt der Bun­des­re­gie­rung vom April 2017 stellt das Aus­maß der Kin­der­ar­mut so dar, dass von den »ins­ge­samt rund 12,9 Mil­lio­nen Kin­dern unter 18 Jah­ren […] in Deutsch­land also je nach Daten­quel­le rund 1,9 bis 2,7 Mil­lio­nen Kin­der mit einem Armuts­ri­si­ko [leben], weil die Haus­hal­te, in denen sie leben, über weni­ger als 60 Pro­zent des Medi­an aller Net­to­äqui­va­lenz­ein­kom­men ver­fü­gen. Auch die Armuts­ri­si­ko­quo­te für Kin­der stieg bis Mit­te des ver­gan­ge­nen Jahr­zehnts an und ver­blieb anschlie­ßend in etwa auf die­sem Niveau« (BMAS 2017, S. 252). Doch dem stell­te noch der zwei­te Ent­wurf der Bun­des­re­gie­rung vom Dezem­ber 2016 ver­harm­lo­send und ver­fäl­schend vor­an: »Nur weni­ge Kin­der in Deutsch­land lei­den unter mate­ri­el­len Ent­beh­run­gen. Betrach­tet man den Anteil der Haus­hal­te mit einem beschränk­ten Zugang zu einem gewis­sen Lebens­stan­dard und den damit ver­bun­de­nen Gütern, so sind rund fünf Pro­zent der Kin­der unter 18 Jah­ren in Deutsch­land betrof­fen (EU28: neun Pro­zent)« (BMAS-DE 2016, S. 242). Aus einer will­kür­lich zusam­men­ge­wür­fel­ten Grup­pe von neun Gütern (Auto, Mie­te, Fern­se­her und so wei­ter), die wenig mit kind­li­chen Lebens­la­gen zu tun haben, soll die Unter­ver­sor­gung in min­de­stens drei Fäl­len als »mate­ri­el­le Ent­beh­run­gen« und in min­de­stens vier Fäl­len als »erheb­li­che mate­ri­el­le Ent­beh­run­gen« gekenn­zeich­net wer­den. Somit hat­te die Bun­des­re­gie­rung ein X für ein U ver­kauft. Denn sie hat­te die schön nied­ri­ge Zahl für »erheb­li­che mate­ri­el­le Ent­beh­run­gen« (fünf Pro­zent) genom­men und sie als Zahl für »mate­ri­el­le Ent­beh­run­gen« ver­kauft (die aber bei über elf Pro­zent lag). So konn­te sie damals die rela­ti­ve Kin­der­ar­mut von fast 20 Pro­zent nicht nur auf elf Pro­zent bei­na­he hal­bie­ren, son­dern sogar auf knapp fünf Pro­zent vier­teln. Und da sage noch einer, die Bun­des­re­gie­rung tue nichts gegen die hohe Kin­der­ar­mut im Lande.

Der neue­ste Trend ver­sucht, die bis­he­ri­ge rela­ti­ve Bestim­mung der Armut(sgefährdung) in eine abso­lu­te Armuts­be­stim­mung umzu­wan­deln und damit zu ver­klei­nern bezie­hungs­wei­se zu ver­harm­lo­sen. Um zu zei­gen, wel­che Aus­wir­kun­gen in der media­len Öffent­lich­keit durch die Klein­rech­nung der Kin­der­ar­mut in Deutsch­land zu erzeu­gen sind, sei­en eini­ge Reak­tio­nen in ein paar rele­van­ten Medi­en­pro­duk­ten vor­ge­stellt. Da angeb­lich »95 Pro­zent der Kin­der […] kei­ne mate­ri­el­le Not« lit­ten, mel­de­te die Saar­brücker Zei­tung vom 24. Okto­ber 2016, dass der aktu­el­le (inner­halb der Bun­des­re­gie­rung noch in Abstim­mung befind­li­che) Armuts- und Reich­tums­be­richt der Bun­des­re­gie­rung ein »sehr gün­sti­ges Licht auf Kin­der­ar­mut« in Deutsch­land wer­fe (vgl. Saar­brücker Zei­tung vom 24.10.2016). Auf Spie­gel online wur­de die Regie­rungs­ver­si­on ohne kri­ti­schen Kom­men­tar fol­gen­der­ma­ßen wie­der­ge­ge­ben: »›Nur weni­ge Kin­der in Deutsch­land lei­den unter mate­ri­el­ler Not‹, heißt es dem­nach in dem Bericht. Wenn der Anteil der Haus­hal­te ›mit einem beschränk­ten Zugang zu einem gewis­sen Lebens­stan­dard und den damit ver­bun­de­nen Gütern‹ betrach­tet wer­de, dann sei­en fünf Pro­zent der Kin­der betrof­fen« (Spiegel.de vom 13.12.2016). Eben­so froh­lock­te die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung: »Der neue Armuts- und Reich­tums­be­richt, der sich inner­halb der Bun­des­re­gie­rung noch in der Abstim­mung befin­det, hält eine Rei­he erfreu­li­cher Bot­schaf­ten bereit« (FAZ vom 14.12.2016). Und die Zei­tung Die Welt konn­te beru­hi­gen: »[…] auch bei Kin­dern ist die ech­te Armut auf dem Rück­zug« (WELT.de vom 9.1.2017). Somit war bereits ein regel­rech­ter Ver­harm­lo­sungs­dis­kurs zum The­ma »Kin­der­ar­mut« im Gan­ge, noch ehe der end­gül­ti­ge Bericht über­haupt erschien, wel­cher wie sei­ne Vor­gän­ger auch durch das Bun­des­kanz­ler­amt von ver­schie­de­nen kri­ti­schen Erkennt­nis­sen über die Fol­gen von Armut und Reich­tum gesäu­bert wur­de (vgl. Klundt 2019, S. 134 ff.).

Dass als Rah­men­be­din­gung für Kin­der­ar­mut auch die durch Hartz IV und Agen­da 2010 vor­an­ge­trie­be­ne Ent­rech­tungs- und Lohn­dum­ping-Dyna­mik als bewusst ein­ge­setz­tes gesell­schafts­po­li­ti­sches Kon­zept zu beach­ten wäre, ist kein gro­ßes Geheim­nis. Der dama­li­ge Bun­des­kanz­ler Ger­hard Schrö­der for­der­te schon 1999 frei­mü­tig: »Wir müs­sen einen Nied­rig­lohn­sek­tor schaf­fen« (Frank­fur­ter Rund­schau vom 25.7.2013). Und der Jour­na­list Hans-Ulrich Jör­ges fei­er­te Zie­le und Inhal­te von Hartz IV: »Kein Arbeits­lo­ser kann künf­tig noch den Anspruch erhe­ben, in sei­nem erlern­ten Beruf wie­der Beschäf­ti­gung zu fin­den, er muss bewegt wer­den, den Job nach über­schau­ba­rer Frist zu wech­seln – und weni­ger zu ver­die­nen. Die Kür­zung des Arbeits­lo­sen­gel­des und die Absen­kung der Arbeits­lo­sen­hil­fe auf Sozi­al­hil­fe­ni­veau ver­fol­gen exakt die­sen Zweck. Und: Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger müs­sen unter Andro­hung der Ver­elen­dung zu Arbeit gezwun­gen wer­den« (Stern vom 11.9.2003)‏.

Wer sich also über die gra­vie­ren­de Kin­der­ar­mut auf­regt, muss wis­sen, dass sie poli­tisch beför­dert wur­de. Eltern soll­ten durch zu nied­ri­ge Regel­sät­ze oder -lei­stun­gen nach SGB II für sich und ihre Kin­der sowie durch ver­schärf­te Sank­tio­nen dazu gezwun­gen wer­den, jede Arbeit anzu­neh­men, auch wenn sie von die­sem Gehalt sich und ihre Fami­lie nicht ein­mal ernäh­ren kön­nen. Kein Wun­der, dass der Bun­des­kanz­ler dar­auf­hin stolz das Ergeb­nis sei­ner »Agen­da 2010« auf dem Wirt­schafts­fo­rum von Davos 2005 kund­tat: »Wir haben unse­ren Arbeits­markt libe­ra­li­siert. Wir haben einen der besten Nied­rig­lohn­sek­to­ren auf­ge­baut, den es in Euro­pa gibt« (Frank­fur­ter Rund­schau vom 8.2.2010). Sofern also der Kin­der­zu­schlag Eltern in den Nied­rig­lohn­sek­tor treibt und das Bil­dungs- und Teil­ha­be­pa­ket arme, pre­kä­re sowie erwerbs­lo­se Fami­li­en dann auch noch mit kol­lek­ti­vem Miss­brauchs­ver­dacht und kolos­sa­ler Büro­kra­tie dif­fa­mie­ren und demü­ti­gen soll­te, hät­ten bei­de Geset­ze seit über 14 bezie­hungs­wei­se acht Jah­ren erfolg­reich ihren Zweck erfüllt.

Auch durch das soge­nann­te Star­ke-Fami­li­en-Gesetz ent­wickelt sich indes für Fami­li­en und Kin­der in SGB-II-Haus­hal­ten wenig bis nichts Vor­teil­haf­tes. Außer­dem bedeu­ten die ver­spä­te­ten Ver­än­de­run­gen beim Kin­der­zu­schlag offen­bar nur sehr gerin­ge Ver­bes­se­run­gen bei den real Kin­der­zu­schlag-Bezie­hen­den. Wäh­rend immer noch vie­le Fami­li­en und Kin­der in ver­deck­ter Armut auch mit dem neu­en Modell aus dem Kreis der for­mal Berech­tig­ten aus­schei­den (vgl. https://portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo/pdf/2019/2019-01-29_Hintergrund_Kinderzuschlag_PS.pdf), rech­net der Gesetz­ge­ber selbst nur mit einem guten Drit­tel der Berech­tig­ten (35 Pro­zent), die ihre Lei­stung auch tat­säch­lich erhal­ten wer­den (Druck­sa­che Deut­scher Bun­des­tag 19/​7504, S. 26). Wie wirk­sam die Unter­halts­pro­ble­ma­tik und syste­ma­ti­sche Benach­tei­li­gung von Ein-Eltern-Fami­li­en (vor allem mit älte­ren Kin­dern) gelöst wor­den ist, wird im Gesetz nicht erkenn­bar. Eben­so wird auf eine alters- und ent­wick­lungs­spe­zi­fi­sche Ver­brauchs- und Bedarfs­dif­fe­ren­zie­rung beim Kin­der­zu­schlag wei­ter­hin ver­zich­tet. Beim Bil­dungs- und Teil­ha­be­pa­ket las­sen sich zudem kei­ne wirk­sa­men Opti­mie­run­gen für den nicht­schu­li­schen Bil­dungs- und Teil­ha­be­be­reich erken­nen. Viel­leicht haben die Mit­ar­bei­ten­den der Fami­li­en­mi­ni­ste­rin ja in der Pro­to­koll­ver­si­on des­halb aus vier Mil­lio­nen zwei Mil­lio­nen Kin­der gemacht, weil ihnen klar wur­de, dass die voll­mun­di­gen Ver­spre­chen der Mini­ste­rin, vier Mil­lio­nen Kin­der aus der Armut(snähe) zu holen, weder zu hal­ten, noch über­haupt beab­sich­tigt waren.

Ein wirk­li­ches Maß­nah­men­pa­ket gegen Kin­der­ar­mut wird daher wei­ter­hin benö­tigt. Wie auch die Natio­na­le Armuts­kon­fe­renz ange­mahnt hat, las­sen sich Kin­der- und Fami­li­en­ar­mut am besten durch drei Maß­nah­men ver­mei­den. Neben einem armuts­fe­sten Min­dest­lohn, wirk­lich auf­ga­ben- und nicht aus­ga­ben­ori­en­tier­ter Kin­der- und Jugend­hil­fe und einer voll­stän­di­gen Gebüh­ren­frei­heit für früh­kind­li­che Bil­dung sowie einem kosten­lo­sen gesun­den Mit­tag­essen braucht es als erstes eine Neu­be­rech­nung des Exi­stenz­mi­ni­mums, da die momen­ta­ne Ermitt­lung nach­weis­lich nicht bedarfs­ge­recht ist. Zum Zwei­ten wird ein Abbau von Unge­rech­tig­kei­ten in der Fami­li­en­för­de­rung ver­langt, da der­zeit am mei­sten bekommt, wer am reich­sten ist. Drit­tens muss der Zugang zu Sozi­al­lei­stun­gen durch Bün­de­lung an einer Stel­le ein­fa­cher gestal­tet wer­den, um Büro­kra­tie, Stig­ma­ti­sie­rung, Demü­ti­gung und Unkennt­nis zu ver­mei­den (vgl. Klundt 2019, S. 166 f.).

Wich­tig ist bei allen Über­le­gun­gen – auch in Rich­tung Kin­der­grund­si­che­rung –, dass Kin­der und ihre Fami­li­en durch die anvi­sier­ten Maß­nah­men auch wirk­lich aus Armut und Hilfs­be­dürf­tig­keit befreit wer­den. Dabei soll­te man nicht der Illu­si­on ver­fal­len, Kin­der als anschei­nend »auto­nom« aus dem Fami­li­en­kon­text fik­tiv her­aus­zu­lö­sen und mit einer »eigen­stän­di­gen Kin­der­grund­si­che­rung« oder Ähn­li­chem schein­bar aus der Bedürf­tig­keit zu holen, wäh­rend der Rest der Fami­lie wei­ter­hin in der Hilfs­be­dürf­tig­keit ver­bleibt. Arme Kin­der sind in der Regel Kin­der armer Eltern und soll­ten nicht gegen sie aus­ge­spielt wer­den. Über­dies soll­te jede Kon­zep­ti­on, die pau­schal allen und damit auch vie­len nicht bedürf­ti­gen Eltern und Kin­dern mit enor­men Finanz­mit­teln unter die Arme grei­fen will, dar­auf­hin kri­tisch unter die Lupe genom­men wer­den, wie ihre effek­ti­ven Fol­gen für die Ver­hin­de­rung und Ver­min­de­rung von Kin­der­ar­mut aus­se­hen. Das heißt, die Ziel-Mit­tel-Rela­ti­on bedarf einer prä­zi­sen Ana­ly­se. Außer­dem ist es auch und gera­de für ein Ein­grei­fen in poli­ti­sche Dis­kur­se über sozia­le Pola­ri­sie­rung wich­tig, die Pri­mär­ver­tei­lung des gewach­se­nen gesell­schaft­li­chen Reich­tums bei allen sinn­vol­len For­de­run­gen von Maß­nah­men gegen Kin­der­ar­mut im Blick zu behal­ten. Schließ­lich kann ein sich selbst arm machen­der Staat nur schwer­lich Armut bekämp­fen (vgl. Klundt 2019, S. 173 f.).

Prof. Dr. Micha­el Klundt lehrt an der Hoch­schu­le Mag­de­burg-Stend­al am Fach­be­reich Ange­wand­te Human­wis­sen­schaf­ten. Vor weni­gen Wochen erschien sein Buch »Gestoh­le­nes Leben: Kin­der­ar­mut in Deutsch­land« (Papy­Ros­sa Ver­lag, 197 Sei­ten, 14,90 €).