Die beiden Touristen aus Köln sind not amused. Sie haben eine lange Reise hinter sich, sind im Berliner Hauptbahnhof in die Regionalbahn nach Angermünde gestiegen und dort erst nach Stunden angekommen – in dieser Kleinstadt mit dem quadratischen Grundriss, deren Gründung um 1233 angenommen wird und die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer soliden Ackerbürger- und Handwerkerstadt entwickelte. Heute gilt der Ort als »Tor zur Uckermark«.
Das interessiert die Besucher mit den knurrenden Mägen aber in diesem Moment herzlich wenig, denn alles, was sie jetzt wollen, ist eine opulente regionale Mahlzeit. Herr »Hassan« am Bahnhof kann den Bewohnern einer Millionenstadt, wo man gefühlt an jeder Ecke einen Döner kaufen kann, daher nur ein müdes Lächeln abringen. Auch den Inder am Marktplatz und den Italiener in der Berliner Straße ignorieren sie. Und dann endlich finden sie, wonach sie gesucht haben: ein Restaurant mit regionaler Küche im Schatten des legendären »Hungersteins«, der der Sage nach auf einer Sandbank unter der Wasseroberfläche lag und immer bei Dürren und Hungersnöten zu sehen war. Sie bestellen den »Pfaffenwürger«, und der Sauerbraten, der sich hinter diesem aufsässigen antiklerikalen Namen verbirgt, ist vorzüglich.
Aber das Karma scheint nun irgendwie schlecht zu sein. Als die beiden nämlich im Laufe der Urlaubswoche mehrmals Einlass in die mächtige, im 13. Jahrhundert erbaute Stadtkirche St. Marien begehren, kommen sie jedes Mal zu spät, die Tür ist verschlossen. Und sie werden irgendwann abreisen, ohne dieses trutzige Wahrzeichen der Stadt je von innen gesehen zu haben. Immerhin zählt die Marienkirche zu den größten Feldstein-Stadtkirchen Brandenburgs und lässt auch das Herz von Orgelfans höherschlagen, weil sich im Inneren dieses Kolosses ein »Prospekt« verbirgt. Das hat nichts mit Sonderangeboten gewisser Supermarktketten zu tun, sondern stellt das äußere Erscheinungsbild einer Orgel dar. Und erschaffen hat dieses ganz besondere barocke Exemplar Joachim Wagner (1690-1749), der zu den bedeutendsten Orgelbauern der Mark Brandenburg zählte. Ebenso werden die beiden Kölner auch nicht das Innere der altehrwürdigen, um 1250 mit Feldsteinen errichteten und im 15. Jahrhundert mit Backsteinen fertig gestellten Klosterkirche der Franziskaner besichtigen können, die eigentlich als Kulturstätte genutzt wird. Sie ist derzeit aus Sicherheitsgründen eingerüstet und auf unbestimmte Zeit nicht begehbar.
Es ist Anfang Juni und kurz vor der Europawahl. Noch ist das Wetter nicht sehr sommerlich, von einem großen Touristenansturm ist noch nichts zu bemerken. Das mag eine Woche später ganz anders aussehen, weil dann hier das Stadtfest stattfinden wird. Als die beiden Touristen an einem Vormittag auf dem Weg zum Bahnhof in eine Ansammlung von Kundgebenden geraten, die in den Kreistag einziehen wollen, ist dann hingegen mächtig etwas los. Kontrastprogramm, großes Geschrei. Mitglieder des rechtsextremen »III. Weg« haben den Kreisverkehr unweit des Bahnhofs umzingelt und halten riesige Werbebanner in den Händen, ebenso ein Plakat, auf dem »Asylflut stoppen« zu lesen ist. Auf der anderen Seite stehen die politischen Gegner und skandieren wiederum ihren Protest dagegen. Die (noch?) wenigen Touristen huschen durch die Regenbogenschirme hindurch und mischen sich nicht ein.
Sie machen schließlich Urlaub, und Urlaub machen kann man in dieser Gegend tatsächlich vorzüglich, der Freizeitwert ist enorm hoch. Angermünde hat seit 2003 23 eingemeindete Ortsteile, in denen sich zahlreiche kulturhistorische Entdeckungen machen lassen. Zur Krönung ist die ehemalige Kreisstadt umrahmt von herrlicher Natur des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin, zu dem auch der Buchenwald »Grumsin« gehört, während sich im Südosten des Stadtgebietes ein Teil des Nationalparks Unteres Odertal erstreckt. Aber auch für so vermeintlich bedauernswerte Geschöpfe wie Menschen ohne Autos, also auch die beiden Protagonisten dieses Textes, soll es Bus und Bahn geben. Aber eigentlich haben sie ja zwei Beine und können Fahrräder bestrampeln oder alternativ zu Fuß gehen. Am nächsten Tag wandern sie daher am Mündesee entlang und wollen in Dobberzin den Bus zurück nach Angermünde nehmen.
Ein freundlicher Senior lässt sich neben ihnen auf der Wartebank mit Blick auf das wunderbar klare Wasser nieder und beginnt sofort ein Gespräch. Er lässt sie sein Alter raten, und sie schätzen ihn deutlich jünger als seine 96 Jahre. Wie es bei Menschen in seinem Alter manchmal so ist, erzählt auch er gern vom Krieg. Aus Königsberg in der Neumark (heute: Chojna) sei er Anfang 1945 nach Angermünde geflohen, sei als Soldat mehrmals verwundet gewesen und habe auch Granatsplitter im Bein gehabt, die sich aber erst nach Jahrzehnten bemerkbar gemacht hätten, so dass man sie hätte entfernen müssen. Singen im Chor halte ihn jung, man müsse sich ja irgendwie beschäftigen, plaudert er weiter und deutet mit seinem Stock auf die schöne Seenlandschaft. Der Zufall will es so, dass die beiden Touristen ihn Tage später in einem Restaurant am Mündesee wieder treffen, in dem er gut gelaunt seinen 97. Geburtstag feiert und natürlich auch das ein oder andere Liedchen anstimmt. Und das alles im Schatten des genauso rüstigen »Hauptmanns von Köpenick«, der in Bildform an der Wand hängt, weil der gute Mann nämlich – damals noch als Wilhelm Voigt – Ende Januar 1887 auf dem Postamt Angermünde wegen Scheckbetruges festgenommen wurde und dafür gerade mal einen Tag im örtlichen Gefängnis verbringen musste.
So »milde« ist es nicht immer zugegangen. Es müssen dunkle Zeiten gewesen sein, als etwa die Glaubensflüchtlinge der Waldenser, die sich bis 1336 in dieser Gegend angesiedelt hatten, verfolgt wurden. Sogar Inquisitionsprozesse führte man gegen die »vom rechten Glauben abgefallenen Ketzer«, bei denen nahezu jeder dritte Angermünder zum Verhör anrücken musste. Am Ende wurden 1336 vierzehn Menschen zum Tode verurteilt und auf dem Marktplatz verbrannt. Und noch im 18. Jahrhundert gab es den »Prangeresel« vor dem 1699 erbauten barocken Rathaus, und das war eine hölzerne Nachbildung des vermeintlich dummen Tieres, auf das sich diejenigen Kaufleute zur Strafe setzen mussten, die verdorbene oder überteuerte Waren angeboten hatten.
Alles in allem durchaus raue Sitten in einer märkischen Kleinstadt, die sich bei einem »Stummen Rundgang«, geleitet von dunkelroten Emailleschildern gemächlich entdecken lässt, und die – von der Sonne angestrahlt – nichts mehr mit solcher Vergangenheit gemein hat. Die einstige Stadtmauer leuchtet in harmonischem Dunkelrot, auch sie dient nicht mehr der Feindesabwehr, sondern vor allem als Fotomotiv für Besucher. Dass sie und die Altstadt den Zweiten Weltkrieg überhaupt so gut überstanden haben, hat sie vor allem dem Bäckermeister Otto Miers und dem Juwelier Walter Kurt Nölte zu verdanken. Mit weißen Fahnen ausgestattet, gingen die beiden Männer am 27. April 1945 todesmutig den einmarschierenden Soldaten der Roten Armee entgegen und konnten so durch die kampflose Übergabe die historische Bausubstanz mehr oder weniger vor ihrer Zerstörung bewahren. Nach der Wende – und vor allem als Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft »Städte mit historischen Stadtkernen im Land Brandenburg« – konnte die Stadt zügig mit der Sanierung der Bauten beginnen. Das Ergebnis im Altstadtkern präsentiert sich heute in frischen und hellen Farben. Relikte aus der DDR-Vergangenheit sind fast nicht mehr zu sehen, als hätte es sie nie gegeben.
Auch in Wolletz, einem Ortsteil von Angermünde, der idyllisch am gleichnamigen See liegt, merkt man, wenn man es nicht wüsste, zunächst nicht, dass das Jagdhaus auf dem Gelände der Klinik ein Teil dieser jüngeren Vergangenheit war. Der letzte »Nutzer« war Stasi-Chef Erich Mielke; er kopierte in gewisser Weise die brandenburgischen Markgrafen, die in der waldreichen Umgebung nur zu gern auf die Jagd gingen, so auch von der Angermünder Burg aus, von der nur noch Fragmente übriggeblieben sind und die sich im Schatten der Alten Mälzerei am Mündesee befindet. Geht man ein Stück am Wolletzsee entlang, so sieht man noch die gebogenen Pfeiler des ehemaligen Abschirmzauns. Einen davon hat jemand – warum auch immer – liebevoll mit einer gehäkelten Kreation ummantelt. Doch ein Hinweisschild auf den letzten Bewohner des Jagdschlosses und dessen zahlreichen prominenten Gäste, die in der Umgebung nach Herzenslust ungestört Tiere erlegen konnten, gibt es vor dem Schloss nicht.
Doch Verdrängen bedeutet noch lange nicht Vergessen, dafür war die Geschichte zu prägnant. Was genauso auch für die jüdische Geschichte von Angermünde gilt. Mit dem »guten Ort« der ehemaligen jüdischen Bewohner, ist man in der Vergangenheit schändlich umgegangen ist. Nur ein einziges Bauwerk der Synagogengemeinde hat die Zeit physisch überdauert, es ist die ehemalige kleine Halle für den Leichenwagen, die sich – außerhalb der Stadtmauer – auf dem ehemaligen Friedhof in der Puschkinallee befindet. Das einzige Relikt der jüdischen Vergangenheit von Angermünde, seit 1681 Caspar Benedix Levi als erster Schutzjude seinen Bürgerbrief für Angermünde erhalten hatte. Die Geschichte der Juden in Angermünde, deren Gemeinde im Februar 1930 noch 80 Personen umfasste, endete 1942 mit der Deportation der beiden letzten verbliebenen jüdischen Familien. Es sind nicht einmal Grabsteine vorhanden, auf die man als Zeichen des Gedenkens Steine legen könnte – ein Vakuum, das zu füllen noch aussteht.