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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ketzer, Pfaffenwürger und Prangeresel

Die bei­den Tou­ri­sten aus Köln sind not amu­sed. Sie haben eine lan­ge Rei­se hin­ter sich, sind im Ber­li­ner Haupt­bahn­hof in die Regio­nal­bahn nach Anger­mün­de gestie­gen und dort erst nach Stun­den ange­kom­men – in die­ser Klein­stadt mit dem qua­dra­ti­schen Grund­riss, deren Grün­dung um 1233 ange­nom­men wird und die sich im Lau­fe der Jahr­hun­der­te zu einer soli­den Acker­bür­ger- und Hand­wer­ker­stadt ent­wickel­te. Heu­te gilt der Ort als »Tor zur Uckermark«.

Das inter­es­siert die Besu­cher mit den knur­ren­den Mägen aber in die­sem Moment herz­lich wenig, denn alles, was sie jetzt wol­len, ist eine opu­len­te regio­na­le Mahl­zeit. Herr »Hassan« am Bahn­hof kann den Bewoh­nern einer Mil­lio­nen­stadt, wo man gefühlt an jeder Ecke einen Döner kau­fen kann, daher nur ein müdes Lächeln abrin­gen. Auch den Inder am Markt­platz und den Ita­lie­ner in der Ber­li­ner Stra­ße igno­rie­ren sie. Und dann end­lich fin­den sie, wonach sie gesucht haben: ein Restau­rant mit regio­na­ler Küche im Schat­ten des legen­dä­ren »Hun­ger­steins«, der der Sage nach auf einer Sand­bank unter der Was­ser­ober­flä­che lag und immer bei Dür­ren und Hun­gers­nö­ten zu sehen war. Sie bestel­len den »Pfaf­fen­wür­ger«, und der Sau­er­bra­ten, der sich hin­ter die­sem auf­säs­si­gen anti­kle­ri­ka­len Namen ver­birgt, ist vorzüglich.

Aber das Kar­ma scheint nun irgend­wie schlecht zu sein. Als die bei­den näm­lich im Lau­fe der Urlaubs­wo­che mehr­mals Ein­lass in die mäch­ti­ge, im 13. Jahr­hun­dert erbau­te Stadt­kir­che St. Mari­en begeh­ren, kom­men sie jedes Mal zu spät, die Tür ist ver­schlos­sen. Und sie wer­den irgend­wann abrei­sen, ohne die­ses trut­zi­ge Wahr­zei­chen der Stadt je von innen gese­hen zu haben. Immer­hin zählt die Mari­en­kir­che zu den größ­ten Feld­stein-Stadt­kir­chen Bran­den­burgs und lässt auch das Herz von Orgel­fans höher­schla­gen, weil sich im Inne­ren die­ses Kolos­ses ein »Pro­spekt« ver­birgt. Das hat nichts mit Son­der­an­ge­bo­ten gewis­ser Super­markt­ket­ten zu tun, son­dern stellt das äuße­re Erschei­nungs­bild einer Orgel dar. Und erschaf­fen hat die­ses ganz beson­de­re barocke Exem­plar Joa­chim Wag­ner (1690-1749), der zu den bedeu­tend­sten Orgel­bau­ern der Mark Bran­den­burg zähl­te. Eben­so wer­den die bei­den Köl­ner auch nicht das Inne­re der alt­ehr­wür­di­gen, um 1250 mit Feld­stei­nen errich­te­ten und im 15. Jahr­hun­dert mit Back­stei­nen fer­tig gestell­ten Klo­ster­kir­che der Fran­zis­ka­ner besich­ti­gen kön­nen, die eigent­lich als Kul­tur­stät­te genutzt wird. Sie ist der­zeit aus Sicher­heits­grün­den ein­ge­rü­stet und auf unbe­stimm­te Zeit nicht begehbar.

Es ist Anfang Juni und kurz vor der Euro­pa­wahl. Noch ist das Wet­ter nicht sehr som­mer­lich, von einem gro­ßen Tou­ri­sten­an­sturm ist noch nichts zu bemer­ken. Das mag eine Woche spä­ter ganz anders aus­se­hen, weil dann hier das Stadt­fest statt­fin­den wird. Als die bei­den Tou­ri­sten an einem Vor­mit­tag auf dem Weg zum Bahn­hof in eine Ansamm­lung von Kund­ge­ben­den gera­ten, die in den Kreis­tag ein­zie­hen wol­len, ist dann hin­ge­gen mäch­tig etwas los. Kon­trast­pro­gramm, gro­ßes Geschrei. Mit­glie­der des rechts­extre­men »III. Weg« haben den Kreis­ver­kehr unweit des Bahn­hofs umzin­gelt und hal­ten rie­si­ge Wer­be­ban­ner in den Hän­den, eben­so ein Pla­kat, auf dem »Asyl­flut stop­pen« zu lesen ist. Auf der ande­ren Sei­te ste­hen die poli­ti­schen Geg­ner und skan­die­ren wie­der­um ihren Pro­test dage­gen. Die (noch?) weni­gen Tou­ri­sten huschen durch die Regen­bo­gen­schir­me hin­durch und mischen sich nicht ein.

Sie machen schließ­lich Urlaub, und Urlaub machen kann man in die­ser Gegend tat­säch­lich vor­züg­lich, der Frei­zeit­wert ist enorm hoch. Anger­mün­de hat seit 2003 23 ein­ge­mein­de­te Orts­tei­le, in denen sich zahl­rei­che kul­tur­hi­sto­ri­sche Ent­deckun­gen machen las­sen. Zur Krö­nung ist die ehe­ma­li­ge Kreis­stadt umrahmt von herr­li­cher Natur des Bio­sphä­ren­re­ser­vats Schorf­hei­de-Cho­rin, zu dem auch der Buchen­wald »Grum­sin« gehört, wäh­rend sich im Süd­osten des Stadt­ge­bie­tes ein Teil des Natio­nal­parks Unte­res Oder­tal erstreckt. Aber auch für so ver­meint­lich bedau­erns­wer­te Geschöp­fe wie Men­schen ohne Autos, also auch die bei­den Prot­ago­ni­sten die­ses Tex­tes, soll es Bus und Bahn geben. Aber eigent­lich haben sie ja zwei Bei­ne und kön­nen Fahr­rä­der bestram­peln oder alter­na­tiv zu Fuß gehen. Am näch­sten Tag wan­dern sie daher am Mün­de­see ent­lang und wol­len in Dob­ber­zin den Bus zurück nach Anger­mün­de nehmen.

Ein freund­li­cher Seni­or lässt sich neben ihnen auf der War­te­bank mit Blick auf das wun­der­bar kla­re Was­ser nie­der und beginnt sofort ein Gespräch. Er lässt sie sein Alter raten, und sie schät­zen ihn deut­lich jün­ger als sei­ne 96 Jah­re. Wie es bei Men­schen in sei­nem Alter manch­mal so ist, erzählt auch er gern vom Krieg. Aus Königs­berg in der Neu­mark (heu­te: Cho­j­na) sei er Anfang 1945 nach Anger­mün­de geflo­hen, sei als Sol­dat mehr­mals ver­wun­det gewe­sen und habe auch Gra­nat­split­ter im Bein gehabt, die sich aber erst nach Jahr­zehn­ten bemerk­bar gemacht hät­ten, so dass man sie hät­te ent­fer­nen müs­sen. Sin­gen im Chor hal­te ihn jung, man müs­se sich ja irgend­wie beschäf­ti­gen, plau­dert er wei­ter und deu­tet mit sei­nem Stock auf die schö­ne Seen­land­schaft. Der Zufall will es so, dass die bei­den Tou­ri­sten ihn Tage spä­ter in einem Restau­rant am Mün­de­see wie­der tref­fen, in dem er gut gelaunt sei­nen 97. Geburts­tag fei­ert und natür­lich auch das ein oder ande­re Lied­chen anstimmt. Und das alles im Schat­ten des genau­so rüsti­gen »Haupt­manns von Köpe­nick«, der in Bild­form an der Wand hängt, weil der gute Mann näm­lich – damals noch als Wil­helm Voigt – Ende Janu­ar 1887 auf dem Post­amt Anger­mün­de wegen Scheck­be­tru­ges fest­ge­nom­men wur­de und dafür gera­de mal einen Tag im ört­li­chen Gefäng­nis ver­brin­gen musste.

So »mil­de« ist es nicht immer zuge­gan­gen. Es müs­sen dunk­le Zei­ten gewe­sen sein, als etwa die Glau­bens­flücht­lin­ge der Wal­den­ser, die sich bis 1336 in die­ser Gegend ange­sie­delt hat­ten, ver­folgt wur­den. Sogar Inqui­si­ti­ons­pro­zes­se führ­te man gegen die »vom rech­ten Glau­ben abge­fal­le­nen Ket­zer«, bei denen nahe­zu jeder drit­te Anger­mün­der zum Ver­hör anrücken muss­te. Am Ende wur­den 1336 vier­zehn Men­schen zum Tode ver­ur­teilt und auf dem Markt­platz ver­brannt. Und noch im 18. Jahr­hun­dert gab es den »Pran­ge­re­sel« vor dem 1699 erbau­ten barocken Rat­haus, und das war eine höl­zer­ne Nach­bil­dung des ver­meint­lich dum­men Tie­res, auf das sich die­je­ni­gen Kauf­leu­te zur Stra­fe set­zen muss­ten, die ver­dor­be­ne oder über­teu­er­te Waren ange­bo­ten hatten.

Alles in allem durch­aus raue Sit­ten in einer mär­ki­schen Klein­stadt, die sich bei einem »Stum­men Rund­gang«, gelei­tet von dun­kel­ro­ten Email­le­schil­dern gemäch­lich ent­decken lässt, und die – von der Son­ne ange­strahlt – nichts mehr mit sol­cher Ver­gan­gen­heit gemein hat. Die ein­sti­ge Stadt­mau­er leuch­tet in har­mo­ni­schem Dun­kel­rot, auch sie dient nicht mehr der Fein­des­ab­wehr, son­dern vor allem als Foto­mo­tiv für Besu­cher. Dass sie und die Alt­stadt den Zwei­ten Welt­krieg über­haupt so gut über­stan­den haben, hat sie vor allem dem Bäcker­mei­ster Otto Miers und dem Juwe­lier Wal­ter Kurt Nöl­te zu ver­dan­ken. Mit wei­ßen Fah­nen aus­ge­stat­tet, gin­gen die bei­den Män­ner am 27. April 1945 todes­mu­tig den ein­mar­schie­ren­den Sol­da­ten der Roten Armee ent­ge­gen und konn­ten so durch die kampf­lo­se Über­ga­be die histo­ri­sche Bau­sub­stanz mehr oder weni­ger vor ihrer Zer­stö­rung bewah­ren. Nach der Wen­de – und vor allem als Grün­dungs­mit­glied der Arbeits­ge­mein­schaft »Städ­te mit histo­ri­schen Stadt­ker­nen im Land Bran­den­burg« – konn­te die Stadt zügig mit der Sanie­rung der Bau­ten begin­nen. Das Ergeb­nis im Alt­stadt­kern prä­sen­tiert sich heu­te in fri­schen und hel­len Far­ben. Relik­te aus der DDR-Ver­gan­gen­heit sind fast nicht mehr zu sehen, als hät­te es sie nie gegeben.

Auch in Wol­letz, einem Orts­teil von Anger­mün­de, der idyl­lisch am gleich­na­mi­gen See liegt, merkt man, wenn man es nicht wüss­te, zunächst nicht, dass das Jagd­haus auf dem Gelän­de der Kli­nik ein Teil die­ser jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit war. Der letz­te »Nut­zer« war Sta­si-Chef Erich Miel­ke; er kopier­te in gewis­ser Wei­se die bran­den­bur­gi­schen Mark­gra­fen, die in der wald­rei­chen Umge­bung nur zu gern auf die Jagd gin­gen, so auch von der Anger­mün­der Burg aus, von der nur noch Frag­men­te übrig­ge­blie­ben sind und die sich im Schat­ten der Alten Mäl­ze­rei am Mün­de­see befin­det. Geht man ein Stück am Wol­letz­see ent­lang, so sieht man noch die gebo­ge­nen Pfei­ler des ehe­ma­li­gen Abschirm­zauns. Einen davon hat jemand – war­um auch immer – lie­be­voll mit einer gehä­kel­ten Krea­ti­on umman­telt. Doch ein Hin­weis­schild auf den letz­ten Bewoh­ner des Jagd­schlos­ses und des­sen zahl­rei­chen pro­mi­nen­ten Gäste, die in der Umge­bung nach Her­zens­lust unge­stört Tie­re erle­gen konn­ten, gibt es vor dem Schloss nicht.

Doch Ver­drän­gen bedeu­tet noch lan­ge nicht Ver­ges­sen, dafür war die Geschich­te zu prä­gnant. Was genau­so auch für die jüdi­sche Geschich­te von Anger­mün­de gilt. Mit dem »guten Ort« der ehe­ma­li­gen jüdi­schen Bewoh­ner, ist man in der Ver­gan­gen­heit schänd­lich umge­gan­gen ist. Nur ein ein­zi­ges Bau­werk der Syn­ago­gen­ge­mein­de hat die Zeit phy­sisch über­dau­ert, es ist die ehe­ma­li­ge klei­ne Hal­le für den Lei­chen­wa­gen, die sich – außer­halb der Stadt­mau­er – auf dem ehe­ma­li­gen Fried­hof in der Pusch­kin­al­lee befin­det. Das ein­zi­ge Relikt der jüdi­schen Ver­gan­gen­heit von Anger­mün­de, seit 1681 Cas­par Bene­dix Levi als erster Schutz­ju­de sei­nen Bür­ger­brief für Anger­mün­de erhal­ten hat­te. Die Geschich­te der Juden in Anger­mün­de, deren Gemein­de im Febru­ar 1930 noch 80 Per­so­nen umfass­te, ende­te 1942 mit der Depor­ta­ti­on der bei­den letz­ten ver­blie­be­nen jüdi­schen Fami­li­en. Es sind nicht ein­mal Grab­stei­ne vor­han­den, auf die man als Zei­chen des Geden­kens Stei­ne legen könn­te – ein Vaku­um, das zu fül­len noch aussteht.