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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Keine Parallele bitte!

Die­se Ber­li­na­le hat man­che schwe­ren Vor­wür­fe ver­ur­sacht. Mich beweg­ten sie, bei längst ver­gan­ge­nen Geschichts­er­eig­nis­sen nachzuschauen.

Vor 120 Jah­ren begann in Süd­west­afri­ka ein Auf­stand der Here­ros. Sie grif­fen deut­sche Höfe an, töte­ten 123 Sied­ler und nah­men zwei deut­sche Post­äm­ter und einen Mili­tär­po­sten ein. Der Gou­ver­neur woll­te schlich­ten, doch rief man in Deutsch­land laut nach Rache: »Auf­räu­men, auf­hän­gen, nie­der­knal­len bis auf den letz­ten Mann! Kein Par­don!«, und er wur­de als Kom­man­deur durch Gene­ral­leut­nant Lothar von Tro­tha ver­drängt, der bis August das Here­ro-Volk umzin­geln und in die Oma­he­ke-Wüste trei­ben ließ, wo er sie mit einem 250 Kilo­me­ter lan­gen Absperr­gür­tel abrie­gel­te und dabei alle Was­ser­quel­len absperr­te. Sein Befehl lau­te­te: »Inner­halb der deut­schen Gren­ze wird jeder Here­ro (…) erschos­sen!« Und zwar weil sich »der Neger kei­nem Ver­trag, son­dern nur der rohen Gewalt beugt«. Als Fol­ge ver­dur­ste­ten und ver­hun­ger­ten rund 60.000 Here­ros, 75 bis 80 Pro­zent der gesam­ten Volks­grup­pe. Auf deut­scher Sei­te gab es 1.400 Todesopfer.

Doch war das nicht eine Art von Selbst­ver­tei­di­gung? Schließ­lich hat­ten die Here­ros ja blu­tig ange­fan­gen. Oder hat­ten sie nicht? Viel spä­ter berich­te­ten eini­ge weni­ge Stellen:

»Es war die ras­si­sti­sche Dis­kri­mi­nie­rung, die als Aus­lö­ser für den Auf­stand wirk­te. (…) Die Sied­ler nah­men den Afri­ka­nern immer grö­ße­re Wei­de­ge­bie­te und oft ihre per­sön­li­che Frei­heit. Im Juli 1900 schrie­ben 75 Sied­ler eine Ein­ga­be gegen die Abschaf­fung der Prü­gel­stra­fe: ›Für Mil­de und Nach­sicht hat der Ein­ge­bo­re­ne auf die Dau­er kein Ver­ständ­nis: er sieht nur Schwä­che dar­in und wird infol­ge­des­sen anma­ßend und frech gegen den Wei­ßen, dem er doch nun ein­mal gehor­chen ler­nen muss, denn er steht gei­stig und mora­lisch doch so tief unter ihm.‹«

Wuchs aber nicht im deut­schen »Mut­ter­land« der Pro­test? Kaum. Kri­tik kam fast allein von der SPD, die sich damals aber schon in Flü­geln spal­te­te. Auch die Reichs­tags­re­de von SPD-Vor­sit­zen­der August Bebel (1.12.1906) war zwie­späl­tig: »Mei­ne Her­ren, dass Kolo­ni­al­po­li­tik betrie­ben wird, ist an und für sich kein Ver­bre­chen. Kolo­ni­al­po­li­tik zu betrei­ben kann unter Umstän­den eine Kul­tur­tat sein, es kommt nur dar­auf an, wie die Kolo­ni­al­po­li­tik betrie­ben wird. (…) Kom­men die Ver­tre­ter kul­ti­vier­ter und zivi­li­sier­ter Völ­ker­schaf­ten (…) zu frem­den Völ­kern als Befrei­er, als Freun­de und Bild­ner, um ihnen die Errun­gen­schaf­ten der Kul­tur und Zivi­li­sa­ti­on zu über­brin­gen, (…) dann sind wir Sozi­al­de­mo­kra­ten die ersten, die eine sol­che Kolo­ni­sa­ti­on als gro­ße Kul­tur­mis­si­on zu unter­stüt­zen bereit sind (…). Nur darf es nicht vor­kom­men, dass man wehr­lo­se Män­ner, (…) Frau­en und Kin­der erbar­mungs­los nie­der­knallt, wie es bei uns in Süd­west­afri­ka noto­risch gesche­hen ist und es nach Ansicht eini­ger Fana­ti­ker in Deutsch­land mit der gan­zen Bevöl­ke­rung dort gesche­hen sollte.«

Gan­ze 98 Jah­re spä­ter rei­ste Frau Mini­ste­rin Wiec­zo­rek-Zeul, eben­falls von der SPD, nach Nami­bia und bat im Namen der Bun­des­re­gie­rung um Ver­ge­bung für die Ver­bre­chen der Schutz­trup­pe. »Die dama­li­gen Gräu­el­ta­ten waren das, was heu­te als Völ­ker­mord bezeich­net wür­de, für den ein Gene­ral von Tro­tha heut­zu­ta­ge vor Gericht gebracht und ver­ur­teilt wür­de.« Doch kam es 2011 zum Eklat, als bei der Rück­füh­rung von mensch­li­chen Über­re­sten in deren Hei­mat kein hoch­ran­gi­ger deut­scher Regie­rungs­ver­tre­ter bereit war, die nami­bi­sche Dele­ga­ti­on zu emp­fan­gen. Die Ver­tre­te­rin des Aus­wär­ti­gen Amtes bei der Zere­mo­nie in der Ber­li­ner Cha­ri­té ver­mied es auch, von einem »Völ­ker­mord« zu spre­chen, wie auch 2012 der Bundestag.

*

Wen­den wir uns nun einer ande­ren Zeit zu, einem ande­ren Kon­ti­nent, einem wohl ande­ren Thema.

»Wir ver­hän­gen eine voll­stän­di­ge Bela­ge­rung des Gaza­strei­fens«, sag­te Isra­els Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Yoav Gallant. »Gaza wird voll­stän­dig abge­rie­gelt. Es wird kei­nen Strom, kei­ne Lebens­mit­tel und kei­nen Treib­stoff geben. Wir kämp­fen gegen Bar­ba­ren und reagie­ren ent­spre­chend.« Ener­gie­mi­ni­ster Isra­el Katz gab in einer Erklä­rung eine wei­te­re Maß­nah­me bekannt: »Ich habe ange­ord­net, dass die Was­ser­ver­sor­gung von Isra­el nach Gaza sofort unter­bro­chen wird.«

Inzwi­schen über­trifft die Zahl der Toten 40.000 – in der Mehr­zahl Frau­en und Kin­der. Den­noch: heut­zu­ta­ge ist abzu­ra­ten, Par­al­le­len zu zie­hen. Und, ganz egal, wie ein Inter­na­tio­na­ler Gerichts­hof ent­schei­det, das tra­gi­sche Wort »Geno­zid« – 1908 unbe­kannt – ist 2024 so gut wie tabu! Für den 7.Oktober muss schließ­lich Ver­gel­tung von­nö­ten sein, ohne Zwei­fel gibt es – wie 1908 – ein Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung vor Ter­ro­ri­sten. Das gehört schließ­lich zur Staatsraison.