Diese Berlinale hat manche schweren Vorwürfe verursacht. Mich bewegten sie, bei längst vergangenen Geschichtsereignissen nachzuschauen.
Vor 120 Jahren begann in Südwestafrika ein Aufstand der Hereros. Sie griffen deutsche Höfe an, töteten 123 Siedler und nahmen zwei deutsche Postämter und einen Militärposten ein. Der Gouverneur wollte schlichten, doch rief man in Deutschland laut nach Rache: »Aufräumen, aufhängen, niederknallen bis auf den letzten Mann! Kein Pardon!«, und er wurde als Kommandeur durch Generalleutnant Lothar von Trotha verdrängt, der bis August das Herero-Volk umzingeln und in die Omaheke-Wüste treiben ließ, wo er sie mit einem 250 Kilometer langen Absperrgürtel abriegelte und dabei alle Wasserquellen absperrte. Sein Befehl lautete: »Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero (…) erschossen!« Und zwar weil sich »der Neger keinem Vertrag, sondern nur der rohen Gewalt beugt«. Als Folge verdursteten und verhungerten rund 60.000 Hereros, 75 bis 80 Prozent der gesamten Volksgruppe. Auf deutscher Seite gab es 1.400 Todesopfer.
Doch war das nicht eine Art von Selbstverteidigung? Schließlich hatten die Hereros ja blutig angefangen. Oder hatten sie nicht? Viel später berichteten einige wenige Stellen:
»Es war die rassistische Diskriminierung, die als Auslöser für den Aufstand wirkte. (…) Die Siedler nahmen den Afrikanern immer größere Weidegebiete und oft ihre persönliche Freiheit. Im Juli 1900 schrieben 75 Siedler eine Eingabe gegen die Abschaffung der Prügelstrafe: ›Für Milde und Nachsicht hat der Eingeborene auf die Dauer kein Verständnis: er sieht nur Schwäche darin und wird infolgedessen anmaßend und frech gegen den Weißen, dem er doch nun einmal gehorchen lernen muss, denn er steht geistig und moralisch doch so tief unter ihm.‹«
Wuchs aber nicht im deutschen »Mutterland« der Protest? Kaum. Kritik kam fast allein von der SPD, die sich damals aber schon in Flügeln spaltete. Auch die Reichstagsrede von SPD-Vorsitzender August Bebel (1.12.1906) war zwiespältig: »Meine Herren, dass Kolonialpolitik betrieben wird, ist an und für sich kein Verbrechen. Kolonialpolitik zu betreiben kann unter Umständen eine Kulturtat sein, es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik betrieben wird. (…) Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften (…) zu fremden Völkern als Befreier, als Freunde und Bildner, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, (…) dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind (…). Nur darf es nicht vorkommen, dass man wehrlose Männer, (…) Frauen und Kinder erbarmungslos niederknallt, wie es bei uns in Südwestafrika notorisch geschehen ist und es nach Ansicht einiger Fanatiker in Deutschland mit der ganzen Bevölkerung dort geschehen sollte.«
Ganze 98 Jahre später reiste Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, ebenfalls von der SPD, nach Namibia und bat im Namen der Bundesregierung um Vergebung für die Verbrechen der Schutztruppe. »Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde, für den ein General von Trotha heutzutage vor Gericht gebracht und verurteilt würde.« Doch kam es 2011 zum Eklat, als bei der Rückführung von menschlichen Überresten in deren Heimat kein hochrangiger deutscher Regierungsvertreter bereit war, die namibische Delegation zu empfangen. Die Vertreterin des Auswärtigen Amtes bei der Zeremonie in der Berliner Charité vermied es auch, von einem »Völkermord« zu sprechen, wie auch 2012 der Bundestag.
*
Wenden wir uns nun einer anderen Zeit zu, einem anderen Kontinent, einem wohl anderen Thema.
»Wir verhängen eine vollständige Belagerung des Gazastreifens«, sagte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant. »Gaza wird vollständig abgeriegelt. Es wird keinen Strom, keine Lebensmittel und keinen Treibstoff geben. Wir kämpfen gegen Barbaren und reagieren entsprechend.« Energieminister Israel Katz gab in einer Erklärung eine weitere Maßnahme bekannt: »Ich habe angeordnet, dass die Wasserversorgung von Israel nach Gaza sofort unterbrochen wird.«
Inzwischen übertrifft die Zahl der Toten 40.000 – in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Dennoch: heutzutage ist abzuraten, Parallelen zu ziehen. Und, ganz egal, wie ein Internationaler Gerichtshof entscheidet, das tragische Wort »Genozid« – 1908 unbekannt – ist 2024 so gut wie tabu! Für den 7.Oktober muss schließlich Vergeltung vonnöten sein, ohne Zweifel gibt es – wie 1908 – ein Recht auf Selbstverteidigung vor Terroristen. Das gehört schließlich zur Staatsraison.