Der in diesem Monat vor 150 Jahren, am 27. März 1871, geborene Heinrich Mann war ein kritischer Intellektueller par excellence; einer, der in und neben seinem literarischen Schaffen unmittelbar Einfluss auf seine Gegenwart zu nehmen versuchte; ein kritischer Streiter auch auf der politischen Bühne, wie man ihn unter heutigen Intellektuellen vergeblich sucht. Corona- und Klimakrise, die Probleme im europäischen Einigungsprozess: Wo sind heute die Intellektuellen, die sich einmischen, gar Einfluss ausüben? Gibt es sie noch?
Heinrich Mann hat sich eingemischt. Immer wieder. Zwar wird seine Rolle etwa als Vorsitzender des deutschen Volksfrontausschusses im Pariser Exil gern als die einer »missbrauchten« Galionsfigur beschrieben. Doch war er das wirklich? Der SAP-Delegierte Walter Fabian hat ihn im Hotel Lutetia anders erlebt: Er sei die integrierende Figur gewesen und habe »gewöhnlich eine Eröffnungsrede gehalten und die Schlusszusammenfassung gemacht. Dazwischen hat Münzenberg die Diskussion geleitet. (…) Aber es war sehr eindrucksvoll, mit welcher Ruhe und Besonnenheit er in diesem doch zum Teil etwas wirren und kontroversen Kreis präsidiert hat. Es hat auf uns auch sehr starken Eindruck gemacht, dass dieser Schriftsteller, der ja nicht mehr jung war (…), so viel Zeit für diese Sitzungen opferte. Er saß noch an seinem großen Werk ›Henri IV.‹, das noch nicht ganz abgeschlossen war. (…). Wichtig scheint mir, dass Heinrich Mann, wie eigentlich doch wir alle in diesem Kreis, auf den Frieden gesetzt hat und nicht auf den Krieg.«
Als die Basis der »humanistischen Front« der deutschen Emigranten in Paris endgültig zerstört war, erklärte Heinrich Mann resigniert: »Mit der politischen Kameradschaft habe ich es vergeblich versucht. Es war leichter, in entlegenen Ländern ein neues Publikum zu gewinnen, als ein paar Dutzend Deutsche für ihre eigene Sache zu schulen.« In der Rückschau wirken die Lutetia-Programme wie eine anachronistische Mischung aus Hellsicht und Naivität, aus Irrtum und humaner Vernunft. Vielleicht war dies die politische »Distanzlosigkeit aufgeregter Intellektueller«, die Max Weber am Beispiel der »Gesinnungsethiker« kritisiert hat. Und Kurt Tucholsky empfand es als »gespenstisch«, anzusehen, »was die Pariser Leute treiben«. Unbestreitbar jedoch ist, dass sich in der Lutetia-Diskussion vom Februar 1936 Exponenten einer unabhängigen Ideenpolitik gegen dogmatische Parteipolitiker zu behaupten versuchten. Leopold Schwarzschild erläuterte damals im »Neuen Tagebuch« seine Formel von der »tabula rasa« damit, dass man »abseits von den fortexistierenden, auf weitere Fortexistenz bedachten Gruppen« beginnen müsse, ohne »irgendwelche Teilnahme irgendwelcher alter Parteien«.
Man hat den Intellektuellen des Lutetia-Kreises vorgeworfen, sie hätten auf »Denkmodelle des 19. Jahrhunderts« zurückgegriffen. Zweifellos finden sich Anknüpfungspunkte an staatsphilosophische Konzepte des vergangenen Jahrhunderts und an die Freiheits- und Gleichheitsidee der Französischen Revolution. Auch an Immanuel Kants Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral durch Publizität. »Öffentlichkeit« wurde gesehen in der Tradition von Kants Prinzip einer neuen Rechtsordnung und als Methode der Aufklärung. »Der öffentliche Gebrauch der Vernunft«, so Kant, »muss jederzeit frei sein, und er allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen.« Allein der Schauplatz dieser Diskussionen, die Salonatmosphäre des Hotel Lutetia, erinnert an den von Kant beschriebenen »Gang der Gespräche in gemischten Gesellschaften«. Das intellektuelle Lutetia-Milieu, das sich in der Tradition von Kants »Gelehrtenrepublik« versammelte, erschien wie eine Fluchtbewegung vor der totalitären Bedrohung des 20. Jahrhunderts. Die zeitweilige Nähe von Volksfrontaktivisten wie Georg Bernhard und Heinrich Mann zur bürgerlich-liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) war kein Zufall, sondern entsprach ihrer gemeinsamen Hoffnung auf den intellektuellen Mittelstand als Quelle einer kulturellen Elite. Insbesondere Heinrich Manns Engagement für die Volksfront lässt sich nicht aus tagespolitischen Erwägungen erklären, sondern ist die logische Konsequenz seiner Humanismus Konzeption, das heißt einer »Rationalität, die direkt aus dem achtzehnten in unser Jahrhundert gekommen zu sein scheint«.
Die Autoren der Programme für ein »anderes Deutschland« waren nicht nur »räsonierende« Theoretiker, sie hatten bereits in der Weimarer Republik als einflussreiche Medienpraktiker gewirkt. Alfred Kerr bestätigte diesen »Zeitungsleuten« von seinem Londoner Exil aus »prophetische Qualitäten« und fand, dass es an der Zeit sei, »dass die Politik von ihnen statt von abgestempelten Staatsmännern gemacht wird«. Dennoch zeigen sich in der analytischen Hilflosigkeit gegenüber totalitären Strukturen die Grenzen der liberalen Denk- und Politikmodelle. Der Totalitarismus ist eine Erscheinung der Moderne, die mit den Denkkategorien Kants und der Aufklärer des 18. Jahrhunderts nicht zu erfassen war. Kant ging davon aus, dass Revolutionen und Widerstandsaktionen des Volkes von einer »schlechten Verfassung erzeugt« würden, um eine »gesetzmäßigere« zu erringen. Revolutionen hatten das Ziel, Despotien durch Republiken abzulösen. Die Möglichkeit einer Gegenrevolution, die in die Despotie zurückführt und sich selbst für irreversibel erklärt, war nicht vorstellbar.
Die schärfste Kritik an den liberal-demokratischen Exilprogrammen kam von den Theoretikern der »Frankfurter Schule«. Max Horkheimer konnte als privater Hotelgast im »Lutetia« die Diskussionen aus der Logenperspektive verfolgen. Ihm kam es so vor, »als seien die vertriebenen Intellektuellen nicht bloß des Bürgerrechts, sondern auch des Verstandes beraubt«. Der Liberalismus sei »nicht wieder einzurichten«. Er habe ein »demoralisiertes« Erbe hinterlassen. »Heute gegen den Faschismus auf die liberalistische Denkart des 19. Jahrhunderts sich zu berufen«, so Horkheimer, »heißt an die Instanz appellieren, durch die er gesiegt hat.« Auch seine berühmte, gemeinsam mit Adorno verfasste Schrift Dialektik der Aufklärung richtete sich gegen den »kantischen Optimismus«, wie er im blinden Vertrauen auf die Vernunft des moralischen Handelns zum Ausdruck komme.
Heinrich Mann wollte die Barbarei nicht mit verstaubtem Bibliothekswissen bekämpfen, aber er glaubte bis zuletzt an die Macht des literarischen Wortes. Wie wäre seine fieberhafte publizistische Aktivität im Exil verständlich, wenn er nicht weiter die Hoffnung gehabt hätte, »eine unabhängige Persönlichkeit dürfte Einfluss gewinnen durch nichts als ihr Wort«? Mit seinen etwa 400 Exilpublikationen setzte er ein moralisch-politisches Engagement fort, dem er sich schon vor dem Ersten Weltkrieg verpflichtet gefühlt hatte. Schon damals war er mit den deutschen Intellektuellen ins Gericht gegangen, die sich vom Volk abtrennen und vornehme politische Abstinenz kultivieren: »Der Faust- und Autoritätsmensch muss der Feind sein. Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist. Denn der Geist ist nichts Erhaltendes und gibt kein Vorrecht.« Im Verständnis einer herkömmlichen Popularästhetik war Heinrich Manns Schreibstil auch vor 1933 nie »dichterisch«, doch brachte er Sätze hervor, die, wie Adorno es ausdrückte, »im Deutschen ohne Beispiel gewesen« seien und »ihre Spur hinterlassen« hätten, die weit über das hinausgegangen sei, was die Literaturgeschichte »Einfluss« nennt«.
Der Beitrag ist ein überarbeiteter Auszug aus Willi Jaspers Buch »Faust oder Mephisto? Europas Intellektuelle – eine aktuelle Krisengeschichte«, das im April im Dietz Verlag erscheint.