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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kein Untertan

Der in die­sem Monat vor 150 Jah­ren, am 27. März 1871, gebo­re­ne Hein­rich Mann war ein kri­ti­scher Intel­lek­tu­el­ler par excel­lence; einer, der in und neben sei­nem lite­ra­ri­schen Schaf­fen unmit­tel­bar Ein­fluss auf sei­ne Gegen­wart zu neh­men ver­such­te; ein kri­ti­scher Strei­ter auch auf der poli­ti­schen Büh­ne, wie man ihn unter heu­ti­gen Intel­lek­tu­el­len ver­geb­lich sucht. Coro­na- und Kli­ma­kri­se, die Pro­ble­me im euro­päi­schen Eini­gungs­pro­zess: Wo sind heu­te die Intel­lek­tu­el­len, die sich ein­mi­schen, gar Ein­fluss aus­üben? Gibt es sie noch?

Hein­rich Mann hat sich ein­ge­mischt. Immer wie­der. Zwar wird sei­ne Rol­le etwa als Vor­sit­zen­der des deut­schen Volks­front­aus­schus­ses im Pari­ser Exil gern als die einer »miss­brauch­ten« Gali­ons­fi­gur beschrie­ben. Doch war er das wirk­lich? Der SAP-Dele­gier­te Wal­ter Fabi­an hat ihn im Hotel Lute­tia anders erlebt: Er sei die inte­grie­ren­de Figur gewe­sen und habe »gewöhn­lich eine Eröff­nungs­re­de gehal­ten und die Schluss­zu­sam­men­fas­sung gemacht. Dazwi­schen hat Mün­zen­berg die Dis­kus­si­on gelei­tet. (…) Aber es war sehr ein­drucks­voll, mit wel­cher Ruhe und Beson­nen­heit er in die­sem doch zum Teil etwas wir­ren und kon­tro­ver­sen Kreis prä­si­diert hat. Es hat auf uns auch sehr star­ken Ein­druck gemacht, dass die­ser Schrift­stel­ler, der ja nicht mehr jung war (…), so viel Zeit für die­se Sit­zun­gen opfer­te. Er saß noch an sei­nem gro­ßen Werk ›Hen­ri IV.‹, das noch nicht ganz abge­schlos­sen war. (…). Wich­tig scheint mir, dass Hein­rich Mann, wie eigent­lich doch wir alle in die­sem Kreis, auf den Frie­den gesetzt hat und nicht auf den Krieg.«

Als die Basis der »huma­ni­sti­schen Front« der deut­schen Emi­gran­ten in Paris end­gül­tig zer­stört war, erklär­te Hein­rich Mann resi­gniert: »Mit der poli­ti­schen Kame­rad­schaft habe ich es ver­geb­lich ver­sucht. Es war leich­ter, in ent­le­ge­nen Län­dern ein neu­es Publi­kum zu gewin­nen, als ein paar Dut­zend Deut­sche für ihre eige­ne Sache zu schu­len.« In der Rück­schau wir­ken die Lute­tia-Pro­gram­me wie eine ana­chro­ni­sti­sche Mischung aus Hell­sicht und Nai­vi­tät, aus Irr­tum und huma­ner Ver­nunft. Viel­leicht war dies die poli­ti­sche »Distanz­lo­sig­keit auf­ge­reg­ter Intel­lek­tu­el­ler«, die Max Weber am Bei­spiel der »Gesin­nungs­ethi­ker« kri­ti­siert hat. Und Kurt Tuchol­sky emp­fand es als »gespen­stisch«, anzu­se­hen, »was die Pari­ser Leu­te trei­ben«. Unbe­streit­bar jedoch ist, dass sich in der Lute­tia-Dis­kus­si­on vom Febru­ar 1936 Expo­nen­ten einer unab­hän­gi­gen Ideen­po­li­tik gegen dog­ma­ti­sche Par­tei­po­li­ti­ker zu behaup­ten ver­such­ten. Leo­pold Schwarz­schild erläu­ter­te damals im »Neu­en Tage­buch« sei­ne For­mel von der »tabu­la rasa« damit, dass man »abseits von den fort­exi­stie­ren­den, auf wei­te­re Fort­exi­stenz bedach­ten Grup­pen« begin­nen müs­se, ohne »irgend­wel­che Teil­nah­me irgend­wel­cher alter Parteien«.

Man hat den Intel­lek­tu­el­len des Lute­tia-Krei­ses vor­ge­wor­fen, sie hät­ten auf »Denk­mo­del­le des 19. Jahr­hun­derts« zurück­ge­grif­fen. Zwei­fel­los fin­den sich Anknüp­fungs­punk­te an staats­phi­lo­so­phi­sche Kon­zep­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts und an die Frei­heits- und Gleich­heits­idee der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on. Auch an Imma­nu­el Kants Prin­zip der Ver­mitt­lung von Poli­tik und Moral durch Publi­zi­tät. »Öffent­lich­keit« wur­de gese­hen in der Tra­di­ti­on von Kants Prin­zip einer neu­en Rechts­ord­nung und als Metho­de der Auf­klä­rung. »Der öffent­li­che Gebrauch der Ver­nunft«, so Kant, »muss jeder­zeit frei sein, und er allein kann Auf­klä­rung unter Men­schen zustan­de brin­gen.« Allein der Schau­platz die­ser Dis­kus­sio­nen, die Salonat­mo­sphä­re des Hotel Lute­tia, erin­nert an den von Kant beschrie­be­nen »Gang der Gesprä­che in gemisch­ten Gesell­schaf­ten«. Das intel­lek­tu­el­le Lute­tia-Milieu, das sich in der Tra­di­ti­on von Kants »Gelehr­ten­re­pu­blik« ver­sam­mel­te, erschien wie eine Flucht­be­we­gung vor der tota­li­tä­ren Bedro­hung des 20. Jahr­hun­derts. Die zeit­wei­li­ge Nähe von Volks­front­ak­ti­vi­sten wie Georg Bern­hard und Hein­rich Mann zur bür­ger­lich-libe­ra­len Deut­schen Demo­kra­ti­schen Par­tei (DDP) war kein Zufall, son­dern ent­sprach ihrer gemein­sa­men Hoff­nung auf den intel­lek­tu­el­len Mit­tel­stand als Quel­le einer kul­tu­rel­len Eli­te. Ins­be­son­de­re Hein­rich Manns Enga­ge­ment für die Volks­front lässt sich nicht aus tages­po­li­ti­schen Erwä­gun­gen erklä­ren, son­dern ist die logi­sche Kon­se­quenz sei­ner Huma­nis­mus Kon­zep­ti­on, das heißt einer »Ratio­na­li­tät, die direkt aus dem acht­zehn­ten in unser Jahr­hun­dert gekom­men zu sein scheint«.

Die Autoren der Pro­gram­me für ein »ande­res Deutsch­land« waren nicht nur »räso­nie­ren­de« Theo­re­ti­ker, sie hat­ten bereits in der Wei­ma­rer Repu­blik als ein­fluss­rei­che Medi­en­prak­ti­ker gewirkt. Alfred Kerr bestä­tig­te die­sen »Zei­tungs­leu­ten« von sei­nem Lon­do­ner Exil aus »pro­phe­ti­sche Qua­li­tä­ten« und fand, dass es an der Zeit sei, »dass die Poli­tik von ihnen statt von abge­stem­pel­ten Staats­män­nern gemacht wird«. Den­noch zei­gen sich in der ana­ly­ti­schen Hilf­lo­sig­keit gegen­über tota­li­tä­ren Struk­tu­ren die Gren­zen der libe­ra­len Denk- und Poli­tik­mo­del­le. Der Tota­li­ta­ris­mus ist eine Erschei­nung der Moder­ne, die mit den Denk­ka­te­go­rien Kants und der Auf­klä­rer des 18. Jahr­hun­derts nicht zu erfas­sen war. Kant ging davon aus, dass Revo­lu­tio­nen und Wider­stands­ak­tio­nen des Vol­kes von einer »schlech­ten Ver­fas­sung erzeugt« wür­den, um eine »gesetz­mä­ßi­ge­re« zu errin­gen. Revo­lu­tio­nen hat­ten das Ziel, Des­po­tien durch Repu­bli­ken abzu­lö­sen. Die Mög­lich­keit einer Gegen­re­vo­lu­ti­on, die in die Des­po­tie zurück­führt und sich selbst für irrever­si­bel erklärt, war nicht vorstellbar.

Die schärf­ste Kri­tik an den libe­ral-demo­kra­ti­schen Exil­pro­gram­men kam von den Theo­re­ti­kern der »Frank­fur­ter Schu­le«. Max Hork­hei­mer konn­te als pri­va­ter Hotel­gast im »Lute­tia« die Dis­kus­sio­nen aus der Logen­per­spek­ti­ve ver­fol­gen. Ihm kam es so vor, »als sei­en die ver­trie­be­nen Intel­lek­tu­el­len nicht bloß des Bür­ger­rechts, son­dern auch des Ver­stan­des beraubt«. Der Libe­ra­lis­mus sei »nicht wie­der ein­zu­rich­ten«. Er habe ein »demo­ra­li­sier­tes« Erbe hin­ter­las­sen. »Heu­te gegen den Faschis­mus auf die libe­ra­li­sti­sche Denk­art des 19. Jahr­hun­derts sich zu beru­fen«, so Hork­hei­mer, »heißt an die Instanz appel­lie­ren, durch die er gesiegt hat.« Auch sei­ne berühm­te, gemein­sam mit Ador­no ver­fass­te Schrift Dia­lek­tik der Auf­klä­rung rich­te­te sich gegen den »kan­ti­schen Opti­mis­mus«, wie er im blin­den Ver­trau­en auf die Ver­nunft des mora­li­schen Han­delns zum Aus­druck komme.

Hein­rich Mann woll­te die Bar­ba­rei nicht mit ver­staub­tem Biblio­theks­wis­sen bekämp­fen, aber er glaub­te bis zuletzt an die Macht des lite­ra­ri­schen Wor­tes. Wie wäre sei­ne fie­ber­haf­te publi­zi­sti­sche Akti­vi­tät im Exil ver­ständ­lich, wenn er nicht wei­ter die Hoff­nung gehabt hät­te, »eine unab­hän­gi­ge Per­sön­lich­keit dürf­te Ein­fluss gewin­nen durch nichts als ihr Wort«? Mit sei­nen etwa 400 Exil­pu­bli­ka­tio­nen setz­te er ein mora­lisch-poli­ti­sches Enga­ge­ment fort, dem er sich schon vor dem Ersten Welt­krieg ver­pflich­tet gefühlt hat­te. Schon damals war er mit den deut­schen Intel­lek­tu­el­len ins Gericht gegan­gen, die sich vom Volk abtren­nen und vor­neh­me poli­ti­sche Absti­nenz kul­ti­vie­ren: »Der Faust- und Auto­ri­täts­mensch muss der Feind sein. Ein Intel­lek­tu­el­ler, der sich an die Her­ren­ka­ste her­an­macht, begeht Ver­rat am Geist. Denn der Geist ist nichts Erhal­ten­des und gibt kein Vor­recht.« Im Ver­ständ­nis einer her­kömm­li­chen Popu­la­r­äs­the­tik war Hein­rich Manns Schreib­stil auch vor 1933 nie »dich­te­risch«, doch brach­te er Sät­ze her­vor, die, wie Ador­no es aus­drück­te, »im Deut­schen ohne Bei­spiel gewe­sen« sei­en und »ihre Spur hin­ter­las­sen« hät­ten, die weit über das hin­aus­ge­gan­gen sei, was die Lite­ra­tur­ge­schich­te »Ein­fluss« nennt«.

 

Der Bei­trag ist ein über­ar­bei­te­ter Aus­zug aus Wil­li Jas­pers Buch »Faust oder Mephi­sto? Euro­pas Intel­lek­tu­el­le – eine aktu­el­le Kri­sen­ge­schich­te«, das im April im Dietz Ver­lag erscheint.