Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Kein richtiges Leben im falschen?

»Es gibt kein rich­ti­ges Leben im fal­schen.« Wer hat die­sen Aus­druck nicht schon ein­mal gesprächs­wei­se gehört oder selbst ver­wen­det? Die einen in dem Sinn, die Bemü­hun­gen müss­ten dar­auf gerich­tet sein, dass ein rich­ti­ges Leben zustan­de kommt, die ande­ren in resi­gna­ti­vem Ton, mit viel­leicht auch exkul­pie­ren­der Intention.

Aber in wel­chem Zusam­men­hang ver­wen­det Ador­no selbst den Satz? Er fin­det sich in einer zwei Sei­ten lan­gen Betrach­tung in sei­nen »Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben«, die unter dem Titel »Mini­ma Mora­lia« gesam­melt sind. Die Betrach­tung trägt den Titel »Asyl für Obdach­lo­se«. Sie gehört zu den auf das Jahr 1944 zurück­ge­hen­den, in der US-ame­ri­ka­ni­schen Emi­gra­ti­on nie­der­ge­schrie­be­nen Refle­xio­nen. Es geht Ador­no hier dar­um, eine The­se nach­zu­wei­sen, die er in dem Satz zusam­men­fasst: »Eigent­lich kann man über­haupt nicht mehr wohnen.«

Eine »stei­le« The­se – wie man es heu­te aus­drücken wür­de. Ador­no hat sicht­lich Mühe, alle ihm ein­fal­len­den Mög­lich­kei­ten zu woh­nen, als unmög­lich darzustellen:

  • Das »tra­di­tio­nel­le Woh­nen« mit sei­ner »Behag­lich­keit« ist für ihn »mit Ver­rat an der Erkennt­nis, jede Spur der Gebor­gen­heit mit der muf­fi­gen Inter­es­sen­ge­bor­gen­heit der Fami­lie bezahlt«. Damit ist ein nach­voll­zieh­ba­res Pro­blem des Woh­nens formuliert.
  • »Die neu­sach­li­chen (Woh­nun­gen) sind von Sach­ver­stän­di­gen für Banau­sen ange­fer­tig­te Etuis.« Die­ser Satz drückt nicht mehr als ein sub­jek­ti­ves Res­sen­ti­ment aus – ein Ein­druck, der sich noch ver­stärkt, nimmt man ein Zitat aus der Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik hin­zu, das Ador­no, offen­bar zustim­mend, anfügt: »Der moder­ne Mensch wünscht nahe am Boden zu schla­fen wie ein Tier.«
  • Was die »Stil­woh­nun­gen« – genau­er gesagt: »ech­te, aber zusam­men­ge­kauf­te« – betrifft, macht er sich eben­so wenig Mühe, sein Res­sen­ti­ment zu ver­ber­gen: Wer sich dort­hin­ein »flüch­tet, bal­sa­miert sich bei leben­di­gem Lei­be ein«.
  • Hotels und möblier­te Zim­mer fer­tigt er mit der per­sön­lich gefärb­ten Bemer­kung ab: »So macht man gleich­sam aus den auf­ge­zwun­ge­nen Bedin­gun­gen der Emi­gra­ti­on die lebens­klu­ge Norm.«

Ein vor­läu­fi­ges Fazit lau­tet: »Das Haus ist ver­gan­gen. Die Zer­stö­run­gen der euro­päi­schen Städ­te eben­so wie die Arbeits- und Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger set­zen bloß als Exe­ku­to­ren fort, was die imma­nen­te Ent­wick­lung der Tech­nik über die Häu­ser längst ent­schie­den hat.« Es ist nach­voll­zieh­bar, dass Ador­no die Form der ver­meint­li­chen Ver­harm­lo­sung der KZs ver­wen­det, um den Skan­dal umso deut­li­cher her­vor­tre­ten zu las­sen. Aus heu­ti­ger Sicht ist die­se For­mu­lie­rung jedoch schwer zu ertragen.

Es folgt jedoch noch ein klei­ner Nach­trag; er betrifft die Rol­le der »sozia­li­sti­schen Gesell­schaft« – in der Form der »ver­säum­ten«. Es ist zwar denk­bar, dass etwas nicht Vor­han­de­nes zur Ursa­che wer­den kann, aber inhalt­lich nicht recht befriedigend.

Schließ­lich wer­den die zuvor unter­schie­de­nen Berei­che des »Kunst­ge­wer­bes« (des »tra­di­tio­nel­len« Woh­nens) und das »Bau­haus« (dem »neu­sach­li­chen« zuzu­ord­nen) durch­ein­an­der gewür­felt, und es wird, mehr noch, behaup­tet: »Die rei­ne Zweck­form« gehe »ins Orna­men­ta­le über«. So wer­den noch bestehen­de Dif­fe­ren­zen verwischt.

Dass Ador­no von den anfangs ange­spro­che­nen Deu­tungs­wei­sen sei­nes in der Über­schrift genann­ten Aus­drucks eher die zwei­te ansteu­ert, wird deut­lich durch die gera­de­zu hals­bre­che­ri­sche For­mu­lie­rung der »Anwei­sung«, wie sich bei Lage der Din­ge zu ver­hal­ten sei: Er rät dazu, »das Pri­vat­le­ben (zu) füh­ren, solan­ge die Gesell­schafts­ord­nung und die eige­nen Bedürf­nis­se es nicht anders dul­den, aber es nicht so (zu) bela­sten, als wäre es noch gesell­schaft­lich sub­stan­ti­ell und indi­vi­du­ell angemessen«.

Nur das Wort »solan­ge« lässt erken­nen, dass er eine Ver­än­de­rung zum Guten für mög­lich hält. Dass es sich emp­fiehlt, sich nicht zu weit her­vor­zu­wa­gen, lässt er erken­nen: »Es gehört zur Moral, nicht bei sich sel­ber zu Hau­se zu sein.«

Die abschlie­ßen­den Bemer­kun­gen über die die grund­sätz­li­che Unmög­lich­keit einer­seits, die Not­wen­dig­keit ande­rer­seits, »Eigen­tum [zu] haben«, erin­nern an die von mir als »hals­bre­che­risch« bezeich­ne­ten For­mu­lie­run­gen. Dann aber reißt uns der abschlie­ßen­de Satz aus mög­li­cher Lethar­gie: »Es gibt kein rich­ti­ges Leben im falschen.«

Das lin­gu­isti­sche Fazit mei­ner Betrach­tung lau­tet: »Leben« heißt hier zunächst »Woh­nen«.

An spä­te­rer Stel­le im Buch – in den Auf­zeich­nun­gen aus den Jah­ren 1946/​7 – stellt er das »rich­ti­ge Leben« dem »fal­schen« gegen­über: »Der Para­noi­ker ist das Spott­bild des rich­ti­gen Lebens, in dem er auf eige­ne Faust dem fal­schen es gleich­zu­tun beliebt.« Oder er spricht von den »Apo­rien des fal­schen Lebens«. Gegen­über der zuerst erwähn­ten Stel­le fehlt aber bei­den der Ton des Rigo­ris­mus, der den Satz unver­wech­sel­bar und bis heu­te als Zitat beliebt macht.