»Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Wer hat diesen Ausdruck nicht schon einmal gesprächsweise gehört oder selbst verwendet? Die einen in dem Sinn, die Bemühungen müssten darauf gerichtet sein, dass ein richtiges Leben zustande kommt, die anderen in resignativem Ton, mit vielleicht auch exkulpierender Intention.
Aber in welchem Zusammenhang verwendet Adorno selbst den Satz? Er findet sich in einer zwei Seiten langen Betrachtung in seinen »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, die unter dem Titel »Minima Moralia« gesammelt sind. Die Betrachtung trägt den Titel »Asyl für Obdachlose«. Sie gehört zu den auf das Jahr 1944 zurückgehenden, in der US-amerikanischen Emigration niedergeschriebenen Reflexionen. Es geht Adorno hier darum, eine These nachzuweisen, die er in dem Satz zusammenfasst: »Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen.«
Eine »steile« These – wie man es heute ausdrücken würde. Adorno hat sichtlich Mühe, alle ihm einfallenden Möglichkeiten zu wohnen, als unmöglich darzustellen:
- Das »traditionelle Wohnen« mit seiner »Behaglichkeit« ist für ihn »mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengeborgenheit der Familie bezahlt«. Damit ist ein nachvollziehbares Problem des Wohnens formuliert.
- »Die neusachlichen (Wohnungen) sind von Sachverständigen für Banausen angefertigte Etuis.« Dieser Satz drückt nicht mehr als ein subjektives Ressentiment aus – ein Eindruck, der sich noch verstärkt, nimmt man ein Zitat aus der Zeit der Weimarer Republik hinzu, das Adorno, offenbar zustimmend, anfügt: »Der moderne Mensch wünscht nahe am Boden zu schlafen wie ein Tier.«
- Was die »Stilwohnungen« – genauer gesagt: »echte, aber zusammengekaufte« – betrifft, macht er sich ebenso wenig Mühe, sein Ressentiment zu verbergen: Wer sich dorthinein »flüchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein«.
- Hotels und möblierte Zimmer fertigt er mit der persönlich gefärbten Bemerkung ab: »So macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm.«
Ein vorläufiges Fazit lautet: »Das Haus ist vergangen. Die Zerstörungen der europäischen Städte ebenso wie die Arbeits- und Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der Technik über die Häuser längst entschieden hat.« Es ist nachvollziehbar, dass Adorno die Form der vermeintlichen Verharmlosung der KZs verwendet, um den Skandal umso deutlicher hervortreten zu lassen. Aus heutiger Sicht ist diese Formulierung jedoch schwer zu ertragen.
Es folgt jedoch noch ein kleiner Nachtrag; er betrifft die Rolle der »sozialistischen Gesellschaft« – in der Form der »versäumten«. Es ist zwar denkbar, dass etwas nicht Vorhandenes zur Ursache werden kann, aber inhaltlich nicht recht befriedigend.
Schließlich werden die zuvor unterschiedenen Bereiche des »Kunstgewerbes« (des »traditionellen« Wohnens) und das »Bauhaus« (dem »neusachlichen« zuzuordnen) durcheinander gewürfelt, und es wird, mehr noch, behauptet: »Die reine Zweckform« gehe »ins Ornamentale über«. So werden noch bestehende Differenzen verwischt.
Dass Adorno von den anfangs angesprochenen Deutungsweisen seines in der Überschrift genannten Ausdrucks eher die zweite ansteuert, wird deutlich durch die geradezu halsbrecherische Formulierung der »Anweisung«, wie sich bei Lage der Dinge zu verhalten sei: Er rät dazu, »das Privatleben (zu) führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so (zu) belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen«.
Nur das Wort »solange« lässt erkennen, dass er eine Veränderung zum Guten für möglich hält. Dass es sich empfiehlt, sich nicht zu weit hervorzuwagen, lässt er erkennen: »Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.«
Die abschließenden Bemerkungen über die die grundsätzliche Unmöglichkeit einerseits, die Notwendigkeit andererseits, »Eigentum [zu] haben«, erinnern an die von mir als »halsbrecherisch« bezeichneten Formulierungen. Dann aber reißt uns der abschließende Satz aus möglicher Lethargie: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«
Das linguistische Fazit meiner Betrachtung lautet: »Leben« heißt hier zunächst »Wohnen«.
An späterer Stelle im Buch – in den Aufzeichnungen aus den Jahren 1946/7 – stellt er das »richtige Leben« dem »falschen« gegenüber: »Der Paranoiker ist das Spottbild des richtigen Lebens, in dem er auf eigene Faust dem falschen es gleichzutun beliebt.« Oder er spricht von den »Aporien des falschen Lebens«. Gegenüber der zuerst erwähnten Stelle fehlt aber beiden der Ton des Rigorismus, der den Satz unverwechselbar und bis heute als Zitat beliebt macht.