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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kein Rath mehr

Vol­ker Kut­scher hat im Okto­ber den lang erwar­te­ten zehn­ten und letz­ten Band der inzwi­schen schon legen­dä­ren Kri­mi­se­rie um den Ber­li­ner Kri­mi­nal­kom­mis­sar Gere­on Rath vor­ge­legt. 2007 hat­te das Pro­jekt mit »Der nas­se Fisch« sei­nen Anfang genom­men, ange­sie­delt im Jahr 1929 in der sich ihrem Ende zunei­gen­den Wei­ma­rer Repu­blik. Die Hand­lung des jetzt erschie­ne­nen Buches mit dem Titel »Rath« beginnt im Sep­tem­ber 1938, weni­ge Wochen vor den anti­jü­di­schen Pogro­men, und endet im April 1939. Damit schloss Kut­scher sei­ne akri­bisch recher­chier­te Geschich­te zu jenem Zeit­punkt ab, an dem sich das Nazi-Reich so gefe­stigt sah, dass es mit der syste­ma­ti­schen Ver­fol­gung und Ermor­dung von Men­schen sowie den Vor­be­rei­tun­gen zu einem Krieg begin­nen konn­te, der die Welt in ein Infer­no stür­zen sollte.

Kut­scher hob mit sei­ner Saga eine Zeit ins Schein­wer­fer­licht der Gegen­wart, die über 90 Jah­re zurück­liegt und die vie­len heu­te fer­ner zu sein scheint als der Mond. Das mit dem Schein­wer­fer­licht ist dabei wört­lich zu neh­men, wie der spek­ta­ku­lä­re Erfolg der auf den ersten Bän­den beru­hen­den inter­na­tio­na­len Fern­seh­pro­duk­ti­on »Baby­lon Ber­lin« zeigt, die auf Sky und in der ARD zu sehen war.

Zehn Kut­scher-Rath-Bücher in 17 Jah­ren, ohne die bei­den eigens für die von Kat Men­schik illu­strier­te Rei­he »Lieb­lings­bü­cher« geschrie­be­nen klei­nen Erzäh­lun­gen mit Puz­zle­stücken aus dem Gere­on-Rath-Uni­ver­sum, ein drit­tes Bänd­chen ist ver­ab­re­det. Das schwe­di­sche Autoren­paar Maj Sjö­wall und Per Wahl­öö hat­te es vor­ge­macht mit sei­ner eben­falls zehn Bän­de umfas­sen­den sozi­al­kri­ti­schen Kri­mi­rei­he. 1965 erschien ihr erster Roman um Kom­mis­sar Mar­tin Beck aus Stock­holm. Die­sem folg­te 30 Jah­re spä­ter Kri­mi­nal­kom­mis­sar Kurt Wallan­der aus dem süd­schwe­di­schen Ystadt mit 13 Bän­den. Arne Dahl, was das Pseud­onym eines schwe­di­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lers ist, schick­te dann in den Nuller-Jah­ren den Stock­hol­mer Inspek­tor Paul Hjelm mit sei­ner Son­der­kom­mis­si­on ins­ge­samt elf­mal an die Krimifront.

»Schran­ken­lo­ser Ter­ror« präg­te den zehn­ten und letz­ten Sjö­wal­l/­Wahlöö-Band aus dem Jahr 1975, sein Titel: »Die Ter­ro­ri­sten«. Oft­mals war dabei unklar, wo die­se Ter­ro­ri­sten zu suchen sind, inner­halb staat­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen, inner­halb der poli­ti­schen oder wirt­schaft­li­chen Füh­rungs­eli­te Schwe­dens oder in der Gren­zen über­schrei­ten­den Gesetz­lo­sig­keit. Es kam nicht von unge­fähr, dass die Erschie­ßung des schwe­di­schen Mini­ster­prä­si­den­ten Olof Pal­me im Jahr 1986 wie selbst­ver­ständ­lich die Fra­ge auf­warf, auf wel­cher Sei­te die Hin­ter­män­ner zu suchen sei­en. 2020, mehr als 30 Jah­re nach dem Atten­tat, prä­sen­tier­te die Stock­hol­mer Staats­an­walt­schaft einen seit zwei Jahr­zehn­ten toten Gra­fik-Desi­gner als Einzeltäter.

Im Jahr 1938, in dem Kut­schers »Rath« beginnt, war der deut­sche Staat zu einem ter­ro­ri­sti­schen Gebil­de gewor­den, in dem Faust­recht und Unrecht herrsch­ten, in dem der Hass gegen Juden und ande­re »Staats­fein­de« zur all­ge­mei­nen Dok­trin gewor­den war.

In einem Inter­view mit NDR Kul­tur sag­te Kut­scher, ihn habe inter­es­siert, was die Men­schen bewegt habe: »Wie war das für die Leu­te, die damals gelebt haben? Die auch gar nicht wuss­ten, wohin das Gan­ze füh­ren wür­de, wie schlimm es noch wer­den wür­de, wie lan­ge es noch dau­ern wür­de. Das ist letz­ten Endes auch der Haupt­an­trieb für mein Schrei­ben der Kri­mi­nal­ro­man­rei­he: Wie konn­te das pas­sie­ren? Wie konn­te aus der gar nicht mal so schlech­ten Wei­ma­rer Demo­kra­tie die schlimmst­mög­li­che Dik­ta­tur auf deut­schem Boden werden?«

Ich geste­he, ich habe den »Rath« mit einem gewis­sen Bam­mel zur Hand genom­men. Ich erwar­te­te, ich befürch­te­te ein dra­ma­ti­sches Ende. Was wird aus den Men­schen, an deren Schick­sal ich seit 17 Jah­ren Anteil genom­men habe? Was wird aus Gere­on und aus Char­ly? Haben sie eine gemein­sa­me Zukunft? Was wird aus ihrem Pfle­ge­sohn Frit­ze, aus des­sen jüdi­scher Freun­din Han­nah, aus wei­te­ren Men­schen ihres per­sön­li­chen Umfel­des? Wel­ches Los hat Kut­scher ihnen zuge­dacht? Und: Wel­che Lum­pen lässt er zur Höl­le fahren?

Und nun, da ich das Buch an weni­gen Aben­den »ver­schlun­gen« habe, ste­he ich vor dem Dilem­ma, es vor­stel­len zu müs­sen, ohne etwas über sei­nen Inhalt zu ver­ra­ten. Daher hier und jetzt nur dies: Kut­scher erweist sich in sei­nem letz­ten Rath-Roman als eine Art Her­cule Poi­rot. Wie die­ser in den Aga­tha-Chri­stie-Kri­mis zum Schluss die Guten und die Bösen zu einem gro­ßen Whod­u­nit ver­sam­melt, so sam­melt Kut­scher zum Abschluss die losen Enden aus den Vor­gän­ger­ro­ma­nen auf, fügt sie zusam­men, ver­knüpft die Hand­lungs­strän­ge zu Show­downs zwi­schen den Kon­tra­hen­ten, unbe­re­chen­bar in ihrer Rach­sucht, bis zu dem jewei­li­gen berüh­ren­den, trau­ri­gen, gerech­ten oder hass­erfüll­ten Ende. Mord. Stra­fe. Rache. Süh­ne. Anpas­sung. Wider­stand. Ver­fol­gung. Fol­ter. Geburt. Tod. Wie­der­fin­den. Tren­nung: Die­se Antriebs­kräf­te bestim­men das gro­ße Fina­le und trei­ben es voran.

Gere­on Rath hat für den 18. Novem­ber 1938 zwei Plät­ze auf der »Euro­pa« von Bre­mer­ha­ven nach New York gebucht, für sich und Char­ly. Wer­den sie abrei­sen? Oder nur einer von bei­den? Oder kei­ner? Klar ist, sagt Paul, ein Freund, gegen Ende des Romans zu Rath, »ihr könnt nicht da wei­ter­ma­chen, wo ihr auf­ge­hört habt. All die­se Din­ge sind pas­siert. Die haben euch ver­än­dert. Die Zei­ten haben sich verändert.«

Sie sind in Köln, spa­zie­ren am Rhein­ufer ent­lang in Rich­tung Alt­stadt, über der der Him­mel leuch­tet. Ein Pas­sant kommt ihnen entgegen:

»Was brennt denn da?«, fragt Paul.

»Na, was wohl? Die Synagoge.«

Er sag­te das, als habe er noch nie eine düm­me­re Fra­ge gehört.

Es stimmt: Die Zei­ten hat­ten sich verändert.

Vol­ker Kut­scher: Rath, Piper Ver­lag, Mün­chen 2024, 623 S., 26 €. Sie­he auch: Band 9 Trans­at­lan­tik, Ossietzky 23/​2022; Band 8 Olym­pia, Ossietzky 23/​2020; Band 7 Mar­low, Ossietzky 24/​2018.