Volker Kutscher hat im Oktober den lang erwarteten zehnten und letzten Band der inzwischen schon legendären Krimiserie um den Berliner Kriminalkommissar Gereon Rath vorgelegt. 2007 hatte das Projekt mit »Der nasse Fisch« seinen Anfang genommen, angesiedelt im Jahr 1929 in der sich ihrem Ende zuneigenden Weimarer Republik. Die Handlung des jetzt erschienenen Buches mit dem Titel »Rath« beginnt im September 1938, wenige Wochen vor den antijüdischen Pogromen, und endet im April 1939. Damit schloss Kutscher seine akribisch recherchierte Geschichte zu jenem Zeitpunkt ab, an dem sich das Nazi-Reich so gefestigt sah, dass es mit der systematischen Verfolgung und Ermordung von Menschen sowie den Vorbereitungen zu einem Krieg beginnen konnte, der die Welt in ein Inferno stürzen sollte.
Kutscher hob mit seiner Saga eine Zeit ins Scheinwerferlicht der Gegenwart, die über 90 Jahre zurückliegt und die vielen heute ferner zu sein scheint als der Mond. Das mit dem Scheinwerferlicht ist dabei wörtlich zu nehmen, wie der spektakuläre Erfolg der auf den ersten Bänden beruhenden internationalen Fernsehproduktion »Babylon Berlin« zeigt, die auf Sky und in der ARD zu sehen war.
Zehn Kutscher-Rath-Bücher in 17 Jahren, ohne die beiden eigens für die von Kat Menschik illustrierte Reihe »Lieblingsbücher« geschriebenen kleinen Erzählungen mit Puzzlestücken aus dem Gereon-Rath-Universum, ein drittes Bändchen ist verabredet. Das schwedische Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö hatte es vorgemacht mit seiner ebenfalls zehn Bände umfassenden sozialkritischen Krimireihe. 1965 erschien ihr erster Roman um Kommissar Martin Beck aus Stockholm. Diesem folgte 30 Jahre später Kriminalkommissar Kurt Wallander aus dem südschwedischen Ystadt mit 13 Bänden. Arne Dahl, was das Pseudonym eines schwedischen Literaturwissenschaftlers ist, schickte dann in den Nuller-Jahren den Stockholmer Inspektor Paul Hjelm mit seiner Sonderkommission insgesamt elfmal an die Krimifront.
»Schrankenloser Terror« prägte den zehnten und letzten Sjöwall/Wahlöö-Band aus dem Jahr 1975, sein Titel: »Die Terroristen«. Oftmals war dabei unklar, wo diese Terroristen zu suchen sind, innerhalb staatlicher Organisationen, innerhalb der politischen oder wirtschaftlichen Führungselite Schwedens oder in der Grenzen überschreitenden Gesetzlosigkeit. Es kam nicht von ungefähr, dass die Erschießung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme im Jahr 1986 wie selbstverständlich die Frage aufwarf, auf welcher Seite die Hintermänner zu suchen seien. 2020, mehr als 30 Jahre nach dem Attentat, präsentierte die Stockholmer Staatsanwaltschaft einen seit zwei Jahrzehnten toten Grafik-Designer als Einzeltäter.
Im Jahr 1938, in dem Kutschers »Rath« beginnt, war der deutsche Staat zu einem terroristischen Gebilde geworden, in dem Faustrecht und Unrecht herrschten, in dem der Hass gegen Juden und andere »Staatsfeinde« zur allgemeinen Doktrin geworden war.
In einem Interview mit NDR Kultur sagte Kutscher, ihn habe interessiert, was die Menschen bewegt habe: »Wie war das für die Leute, die damals gelebt haben? Die auch gar nicht wussten, wohin das Ganze führen würde, wie schlimm es noch werden würde, wie lange es noch dauern würde. Das ist letzten Endes auch der Hauptantrieb für mein Schreiben der Kriminalromanreihe: Wie konnte das passieren? Wie konnte aus der gar nicht mal so schlechten Weimarer Demokratie die schlimmstmögliche Diktatur auf deutschem Boden werden?«
Ich gestehe, ich habe den »Rath« mit einem gewissen Bammel zur Hand genommen. Ich erwartete, ich befürchtete ein dramatisches Ende. Was wird aus den Menschen, an deren Schicksal ich seit 17 Jahren Anteil genommen habe? Was wird aus Gereon und aus Charly? Haben sie eine gemeinsame Zukunft? Was wird aus ihrem Pflegesohn Fritze, aus dessen jüdischer Freundin Hannah, aus weiteren Menschen ihres persönlichen Umfeldes? Welches Los hat Kutscher ihnen zugedacht? Und: Welche Lumpen lässt er zur Hölle fahren?
Und nun, da ich das Buch an wenigen Abenden »verschlungen« habe, stehe ich vor dem Dilemma, es vorstellen zu müssen, ohne etwas über seinen Inhalt zu verraten. Daher hier und jetzt nur dies: Kutscher erweist sich in seinem letzten Rath-Roman als eine Art Hercule Poirot. Wie dieser in den Agatha-Christie-Krimis zum Schluss die Guten und die Bösen zu einem großen Whodunit versammelt, so sammelt Kutscher zum Abschluss die losen Enden aus den Vorgängerromanen auf, fügt sie zusammen, verknüpft die Handlungsstränge zu Showdowns zwischen den Kontrahenten, unberechenbar in ihrer Rachsucht, bis zu dem jeweiligen berührenden, traurigen, gerechten oder hasserfüllten Ende. Mord. Strafe. Rache. Sühne. Anpassung. Widerstand. Verfolgung. Folter. Geburt. Tod. Wiederfinden. Trennung: Diese Antriebskräfte bestimmen das große Finale und treiben es voran.
Gereon Rath hat für den 18. November 1938 zwei Plätze auf der »Europa« von Bremerhaven nach New York gebucht, für sich und Charly. Werden sie abreisen? Oder nur einer von beiden? Oder keiner? Klar ist, sagt Paul, ein Freund, gegen Ende des Romans zu Rath, »ihr könnt nicht da weitermachen, wo ihr aufgehört habt. All diese Dinge sind passiert. Die haben euch verändert. Die Zeiten haben sich verändert.«
Sie sind in Köln, spazieren am Rheinufer entlang in Richtung Altstadt, über der der Himmel leuchtet. Ein Passant kommt ihnen entgegen:
»Was brennt denn da?«, fragt Paul.
»Na, was wohl? Die Synagoge.«
Er sagte das, als habe er noch nie eine dümmere Frage gehört.
Es stimmt: Die Zeiten hatten sich verändert.
Volker Kutscher: Rath, Piper Verlag, München 2024, 623 S., 26 €. Siehe auch: Band 9 Transatlantik, Ossietzky 23/2022; Band 8 Olympia, Ossietzky 23/2020; Band 7 Marlow, Ossietzky 24/2018.