Lässt sich der gerade grassierenden Pandemie irgendetwas Positives abgewinnen? Oder sind das Corona-Virus und die schon heute verheerenden Folgen des fortschreitenden Klimawandels die buchstäblich »natürliche« Bestrafung für unsere Hybris im Umgang mit der Natur? Es wäre, das muss man demütig einräumen, eine wohl durchaus gerechte Strafe. Und wir sollten sie als vielleicht finale Warnung werten, endlich einen grundlegenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Wandel einzuleiten.
Dass extreme Wetterlagen und das jetzige Infektionsgeschehen unabsehbar gewesen wären, lässt sich nun wirklich nicht behaupten. Seit Jahrzehnten warnen Wissenschaftler der verschiedensten Fachrichtungen vor genau solchen Szenarien, die, hätte man die Vorhersagen ernstgenommen, vielleicht nicht abwendbar, sicher aber anders beherrschbar gewesen wären. Eine in Routinen erstarrte Politik und eine wachstumsgetriebene, in Globalisierungsträumen verfangene Wirtschaft haben es aber allzu lange versäumt, entsprechende Vorsorge zu treffen. Das war, von heute aus betrachtet, fahrlässig.
Während es den Verwaltungen und dem mittleren Management obliegt, den Ist-Zustand zu organisieren, besteht die Hauptaufgabe von politischer und wirtschaftlicher Führung darin, vorausschauend zu handeln, künftige Entwicklungen zu antizipieren und absehbare Schäden abzuwenden. An solcher Vorausschau aber mangelt es seit vielen Jahren. Manager und Politiker agieren fast nur noch im Hier und Jetzt und sind darüber gewissermaßen zukunftsblind geworden. Quartalsbilanzen und monatliche Meinungsumfragen bestimmen ihre »Führung« und machen sie damit oftmals zu bloßer Fassadenschieberei. Das rächt sich jetzt.
Ob aus dem dadurch angerichteten Schaden Klugheit erwächst, ist allerdings alles andere als gewiss, wie die Finanzkrise von 2008 hinlänglich gezeigt hat. Nach einem kurzen Schreckmoment und den daraufhin leider zumeist nur angekündigten, strengeren Finanzmarkt-Regulierungen läuft inzwischen längst wieder alles wie zuvor. Der weltweite Schuldenstand ist seitdem rasant gewachsen, und im sogenannten Finanzmarkt kursieren alltäglich Werte, die das Umsatzvolumen aller nunmehr zur »Realwirtschaft« geschrumpften tatsächlichen ökonomischen Aktivitäten um ein Vielfaches übersteigen – 2019 betrug das Volumen aller gehandelten Derivate rund 800 Billionen Dollar, während sich das globale Bruttoinlandsprodukt, also alles, was weltweit produziert wurde, auf gerade einmal knapp 90 Billionen Dollar summierte. Beim Derivat-Handel aber wird rein gar nichts geschaffen, auch keine »Werte«, sondern lediglich Vermögen hin und her transferiert. Einige gewinnen, andere verlieren, das ist alles, Ökonomie wird strenggenommen nurmehr simuliert. Mit unserer Wirklichkeit, erst recht mit der durch die Covid-19-Pandemie verursachten wirtschaftlichen und sozialen Krise hat all das nicht das Geringste zu tun – wie wir jetzt erleben.
Mehr als 30 Millionen Amerikaner haben sich seit Beginn der Krise arbeitslos gemeldet, sowohl der Einzelhandelsumsatz wie auch die Industrieproduktion sind weltweit massiv eingebrochen, und an der »Wall Street« werden wahre Kursfeuerwerke gefeiert. Die sogenannte Finanzindustrie zeigt sich weitgehend unbeeindruckt, »Investoren« werden täglich reicher, während Millionen Menschen auf der Welt in Armut rutschen und um ihre Gesundheit wie um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten müssen. Diese Blase, die sich rund um das Börsengeschehen gebildet hat, ist nurmehr monströs und obszön zu nennen. Sie ist weit gefährlicher als das Virus – und gehört wie dieses bekämpft.
Aber dass solche Monstrosität, wie sie sich beispielsweise schon lange in milliardenschweren Wetten auf Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise austobt, sehr zum Schaden von Verbrauchern und Herstellern, nun durch ein Virus bis zur Kenntlichkeit entlarvt wird, ist ein enormer Fortschritt. Denn erstmals, seit ich denken kann, folgt aus dieser Erkenntnis eine geradezu sensationelle Konsequenz: Plötzlich wird im Namen der Humanität dirigistisch – geradezu »chinesisch« – durchgegriffen, werden die bisher ehernen »ökonomischen« Spielregeln außer Kraft gesetzt und wirtschaftliche Interessen dem Recht auf Leben und Gesundheit der Menschen nachgeordnet.
Wenn es uns jetzt gelingt, den weltweiten Infektionsausbruch nicht als isoliertes Ereignis zu betrachten, sondern als Teil eines Zusammenhangs einzuordnen, könnte sich die Katastrophe tatsächlich als Lehrmeister erweisen. Um das hier nur an einem Beispiel zu skizzieren: Nach studiengestützten Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben pro Jahr sieben Millionen Menschen durch verschmutzte Luft, 550 000 davon entfallen auf Europa, knapp 40 000 auf Deutschland. Sulfat, Nitrat, Ruß und Feinstaub, zu deren Hauptverursachern Industrie und Verkehr gehören, sind für einen Großteil dieser Todesfälle verantwortlich, ohne dass aus dieser Einsicht bislang eine vergleichbare Konsequenz, sich für das Leben und gegen kurzfristige wirtschaftliche Interessen zu entscheiden, gezogen worden wäre. Dabei dürfte unbestritten sein, dass Giftstoffe in der Luft die Gesundheit schädigen und die Immunabwehr schwächen. Aber natürlich ist eine epidemische Dynamik spektakulärer als chronische Umweltopfer, die Zahl der Verkehrstoten (in Deutschland 2019: 3.059) oder die alljährlich durch Krankenhauskeime verursachten Todesfälle (laut RKI 20.000 pro Jahr). All diese Dinge wären jedoch mit ähnlichem Maß zu messen. Wir sollten also den humanitären Corona-Gestus zum Prinzip erweitern und dem Wohlbefinden möglichst aller Menschen das absolute Primat einräumen, statt immer nur wieder eine Minderheit zu hofieren, die ihr Vermögen zu Lasten der Mehrheit wachsen sehen will. Viele der jetzt der Corona-Pandemie zugeschriebenen Einbrüche sind darüber hinaus in Wahrheit hausgemacht.
Bleibt das Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Anbietern und Abnehmern vor allem durch Ferne und Anonymität gekennzeichnet, durch lange Lieferwege und zergliederte Wertschöpfungsketten, durch aberwitzige Wachstumsvorgaben und Profitziele, wie es für das globalisierte Industriezeitalter insgesamt typisch ist, kann ein mikromillimeter-kleines Virus das ganze System zum Einsturz bringen. Dagegen schützt nur eine wohlüberlegte Diversifizierung und Regionalisierung eines Großteils des Wirtschaftslebens. Insbesondere basale Güter und Dienstleistungen – wie beispielsweise Elektrizität, Wasser, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder Bildung – dürfen nicht länger ausschließlich den Gesetzen des – wie ein Virus – grenzenlos agierenden Finanzkapitalismus unterworfen werden.
Diese Einsicht scheint sich jetzt, in der Krise, immerhin stärker durchzusetzen. Dies zeigt sich in Ansätzen etwa bei der Produktion von medizinischem Material und Medikamenten oder in der nun zwangsweise beschleunigten Einführung von Online-Methoden in der Bildung. Wenn die Politik ihr gerade wiedergefundenes Primat nachhaltig verteidigt, könnten wir aus der jetzt drohenden wirtschaftlichen Talfahrt gestärkt hervorgehen. Kurzum, wenn wir die Dinge jetzt zusammen- und zu Ende denken, könnte sich die Corona-Katastrophe zu guter Letzt sogar als heilsam erweisen.