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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Katastrophenlehren

Lässt sich der gera­de gras­sie­ren­den Pan­de­mie irgend­et­was Posi­ti­ves abge­win­nen? Oder sind das Coro­na-Virus und die schon heu­te ver­hee­ren­den Fol­gen des fort­schrei­ten­den Kli­ma­wan­dels die buch­stäb­lich »natür­li­che« Bestra­fung für unse­re Hybris im Umgang mit der Natur? Es wäre, das muss man demü­tig ein­räu­men, eine wohl durch­aus gerech­te Stra­fe. Und wir soll­ten sie als viel­leicht fina­le War­nung wer­ten, end­lich einen grund­le­gen­den öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen und sozia­len Wan­del einzuleiten.

Dass extre­me Wet­ter­la­gen und das jet­zi­ge Infek­ti­ons­ge­sche­hen unab­seh­bar gewe­sen wären, lässt sich nun wirk­lich nicht behaup­ten. Seit Jahr­zehn­ten war­nen Wis­sen­schaft­ler der ver­schie­den­sten Fach­rich­tun­gen vor genau sol­chen Sze­na­ri­en, die, hät­te man die Vor­her­sa­gen ernst­ge­nom­men, viel­leicht nicht abwend­bar, sicher aber anders beherrsch­bar gewe­sen wären. Eine in Rou­ti­nen erstarr­te Poli­tik und eine wachs­tums­ge­trie­be­ne, in Glo­ba­li­sie­rungs­träu­men ver­fan­ge­ne Wirt­schaft haben es aber all­zu lan­ge ver­säumt, ent­spre­chen­de Vor­sor­ge zu tref­fen. Das war, von heu­te aus betrach­tet, fahrlässig.

Wäh­rend es den Ver­wal­tun­gen und dem mitt­le­ren Manage­ment obliegt, den Ist-Zustand zu orga­ni­sie­ren, besteht die Haupt­auf­ga­be von poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Füh­rung dar­in, vor­aus­schau­end zu han­deln, künf­ti­ge Ent­wick­lun­gen zu anti­zi­pie­ren und abseh­ba­re Schä­den abzu­wen­den. An sol­cher Vor­aus­schau aber man­gelt es seit vie­len Jah­ren. Mana­ger und Poli­ti­ker agie­ren fast nur noch im Hier und Jetzt und sind dar­über gewis­ser­ma­ßen zukunfts­blind gewor­den. Quar­tals­bi­lan­zen und monat­li­che Mei­nungs­um­fra­gen bestim­men ihre »Füh­rung« und machen sie damit oft­mals zu blo­ßer Fas­sa­den­schie­be­rei. Das rächt sich jetzt.

Ob aus dem dadurch ange­rich­te­ten Scha­den Klug­heit erwächst, ist aller­dings alles ande­re als gewiss, wie die Finanz­kri­se von 2008 hin­läng­lich gezeigt hat. Nach einem kur­zen Schreck­mo­ment und den dar­auf­hin lei­der zumeist nur ange­kün­dig­ten, stren­ge­ren Finanz­markt-Regu­lie­run­gen läuft inzwi­schen längst wie­der alles wie zuvor. Der welt­wei­te Schul­den­stand ist seit­dem rasant gewach­sen, und im soge­nann­ten Finanz­markt kur­sie­ren all­täg­lich Wer­te, die das Umsatz­vo­lu­men aller nun­mehr zur »Real­wirt­schaft« geschrumpf­ten tat­säch­li­chen öko­no­mi­schen Akti­vi­tä­ten um ein Viel­fa­ches über­stei­gen – 2019 betrug das Volu­men aller gehan­del­ten Deri­va­te rund 800 Bil­lio­nen Dol­lar, wäh­rend sich das glo­ba­le Brut­to­in­lands­pro­dukt, also alles, was welt­weit pro­du­ziert wur­de, auf gera­de ein­mal knapp 90 Bil­lio­nen Dol­lar sum­mier­te. Beim Deri­vat-Han­del aber wird rein gar nichts geschaf­fen, auch kei­ne »Wer­te«, son­dern ledig­lich Ver­mö­gen hin und her trans­fe­riert. Eini­ge gewin­nen, ande­re ver­lie­ren, das ist alles, Öko­no­mie wird streng­ge­nom­men nur­mehr simu­liert. Mit unse­rer Wirk­lich­keit, erst recht mit der durch die Covid-19-Pan­de­mie ver­ur­sach­ten wirt­schaft­li­chen und sozia­len Kri­se hat all das nicht das Gering­ste zu tun – wie wir jetzt erleben.

Mehr als 30 Mil­lio­nen Ame­ri­ka­ner haben sich seit Beginn der Kri­se arbeits­los gemel­det, sowohl der Ein­zel­han­dels­um­satz wie auch die Indu­strie­pro­duk­ti­on sind welt­weit mas­siv ein­ge­bro­chen, und an der »Wall Street« wer­den wah­re Kurs­feu­er­wer­ke gefei­ert. Die soge­nann­te Finanz­in­du­strie zeigt sich weit­ge­hend unbe­ein­druckt, »Inve­sto­ren« wer­den täg­lich rei­cher, wäh­rend Mil­lio­nen Men­schen auf der Welt in Armut rut­schen und um ihre Gesund­heit wie um ihre wirt­schaft­li­che Exi­stenz fürch­ten müs­sen. Die­se Bla­se, die sich rund um das Bör­sen­ge­sche­hen gebil­det hat, ist nur­mehr mon­strös und obszön zu nen­nen. Sie ist weit gefähr­li­cher als das Virus – und gehört wie die­ses bekämpft.

Aber dass sol­che Mon­stro­si­tät, wie sie sich bei­spiels­wei­se schon lan­ge in mil­li­ar­den­schwe­ren Wet­ten auf Nah­rungs­mit­tel- und Roh­stoff­prei­se aus­tobt, sehr zum Scha­den von Ver­brau­chern und Her­stel­lern, nun durch ein Virus bis zur Kennt­lich­keit ent­larvt wird, ist ein enor­mer Fort­schritt. Denn erst­mals, seit ich den­ken kann, folgt aus die­ser Erkennt­nis eine gera­de­zu sen­sa­tio­nel­le Kon­se­quenz: Plötz­lich wird im Namen der Huma­ni­tät diri­gi­stisch – gera­de­zu »chi­ne­sisch« – durch­ge­grif­fen, wer­den die bis­her eher­nen »öko­no­mi­schen« Spiel­re­geln außer Kraft gesetzt und wirt­schaft­li­che Inter­es­sen dem Recht auf Leben und Gesund­heit der Men­schen nachgeordnet.

Wenn es uns jetzt gelingt, den welt­wei­ten Infek­ti­ons­aus­bruch nicht als iso­lier­tes Ereig­nis zu betrach­ten, son­dern als Teil eines Zusam­men­hangs ein­zu­ord­nen, könn­te sich die Kata­stro­phe tat­säch­lich als Lehr­mei­ster erwei­sen. Um das hier nur an einem Bei­spiel zu skiz­zie­ren: Nach stu­di­en­ge­stütz­ten Anga­ben der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) ster­ben pro Jahr sie­ben Mil­lio­nen Men­schen durch ver­schmutz­te Luft, 550 000 davon ent­fal­len auf Euro­pa, knapp 40 000 auf Deutsch­land. Sul­fat, Nitrat, Ruß und Fein­staub, zu deren Haupt­ver­ur­sa­chern Indu­strie und Ver­kehr gehö­ren, sind für einen Groß­teil die­ser Todes­fäl­le ver­ant­wort­lich, ohne dass aus die­ser Ein­sicht bis­lang eine ver­gleich­ba­re Kon­se­quenz, sich für das Leben und gegen kurz­fri­sti­ge wirt­schaft­li­che Inter­es­sen zu ent­schei­den, gezo­gen wor­den wäre. Dabei dürf­te unbe­strit­ten sein, dass Gift­stof­fe in der Luft die Gesund­heit schä­di­gen und die Immun­ab­wehr schwä­chen. Aber natür­lich ist eine epi­de­mi­sche Dyna­mik spek­ta­ku­lä­rer als chro­ni­sche Umwelt­op­fer, die Zahl der Ver­kehrs­to­ten (in Deutsch­land 2019: 3.059) oder die all­jähr­lich durch Kran­ken­haus­kei­me ver­ur­sach­ten Todes­fäl­le (laut RKI 20.000 pro Jahr). All die­se Din­ge wären jedoch mit ähn­li­chem Maß zu mes­sen. Wir soll­ten also den huma­ni­tä­ren Coro­na-Gestus zum Prin­zip erwei­tern und dem Wohl­be­fin­den mög­lichst aller Men­schen das abso­lu­te Pri­mat ein­räu­men, statt immer nur wie­der eine Min­der­heit zu hofie­ren, die ihr Ver­mö­gen zu Lasten der Mehr­heit wach­sen sehen will. Vie­le der jetzt der Coro­na-Pan­de­mie zuge­schrie­be­nen Ein­brü­che sind dar­über hin­aus in Wahr­heit hausgemacht.

Bleibt das Ver­hält­nis zwi­schen Pro­duk­ti­on und Kon­sum­ti­on, zwi­schen Anbie­tern und Abneh­mern vor allem durch Fer­ne und Anony­mi­tät gekenn­zeich­net, durch lan­ge Lie­fer­we­ge und zer­glie­der­te Wert­schöp­fungs­ket­ten, durch aber­wit­zi­ge Wachs­tums­vor­ga­ben und Pro­fit­zie­le, wie es für das glo­ba­li­sier­te Indu­strie­zeit­al­ter ins­ge­samt typisch ist, kann ein mikro­mil­li­me­ter-klei­nes Virus das gan­ze System zum Ein­sturz brin­gen. Dage­gen schützt nur eine wohl­über­leg­te Diver­si­fi­zie­rung und Regio­na­li­sie­rung eines Groß­teils des Wirt­schafts­le­bens. Ins­be­son­de­re basa­le Güter und Dienst­lei­stun­gen – wie bei­spiels­wei­se Elek­tri­zi­tät, Was­ser, Nah­rungs­mit­tel, medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung oder Bil­dung – dür­fen nicht län­ger aus­schließ­lich den Geset­zen des – wie ein Virus – gren­zen­los agie­ren­den Finanz­ka­pi­ta­lis­mus unter­wor­fen werden.

Die­se Ein­sicht scheint sich jetzt, in der Kri­se, immer­hin stär­ker durch­zu­set­zen. Dies zeigt sich in Ansät­zen etwa bei der Pro­duk­ti­on von medi­zi­ni­schem Mate­ri­al und Medi­ka­men­ten oder in der nun zwangs­wei­se beschleu­nig­ten Ein­füh­rung von Online-Metho­den in der Bil­dung. Wenn die Poli­tik ihr gera­de wie­der­ge­fun­de­nes Pri­mat nach­hal­tig ver­tei­digt, könn­ten wir aus der jetzt dro­hen­den wirt­schaft­li­chen Tal­fahrt gestärkt her­vor­ge­hen. Kurz­um, wenn wir die Din­ge jetzt zusam­men- und zu Ende den­ken, könn­te sich die Coro­na-Kata­stro­phe zu guter Letzt sogar als heil­sam erweisen.