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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Karlsbader Klartext

Kaum jemand ahnt, was für ein trau­ri­ges Nach­le­ben berühm­te Dich­ter füh­ren. Zwar ste­hen an vie­len Orten Denk­mä­ler von ihnen, aber wel­cher Mensch, der heu­te vor­über­geht, weiß noch, wen er da vor sich hat? End­gül­tig qual­voll wird die Situa­ti­on der Gei­stes­he­ro­en dadurch, dass sie, was kaum bekannt ist, in einem ihrer Denk­mä­ler jeweils inkar­nie­ren, sodass sie an dem betref­fen­den Ort per­sön­lich mit­krie­gen, was die Nach­ge­bo­re­nen über sie reden. Bei Goe­the ist es Karls­bad bezie­hungs­wei­se die Büste am Orts­aus­gang, zwei­hun­dert Meter hin­ter dem Grand­ho­tel Pupp. Her­aus­fin­den kann sowas nur die Wahr­heits­droh­ne, die auf ihrem Vor­bei­flug an dem Denk­mal blitz­ar­tig von einem Gedan­ken Goe­thes getrof­fen wurde.

»Dei­ne läp­pi­schen vier Wind­räd­chen hau ich dir ab und ver­sklav dich als Buch­stüt­ze, du Fluggerippe!«

Stopp. Die Droh­ne legt den Rück­wärts­gang ein und begibt sich direkt unter die him­mel­wärts ver­dreh­ten Dich­ter­au­gen. »Bit­te was? Wür­den Sie das noch mal wiederholen?«

»Ach, wie heiß es heu­te wie­der ist, erlaub­te ich mir zu bemer­ken«, schwin­delt der Groß­geist, ohne rot zu wer­den. »Na, Sie haben ja Ihre vier Ven­ti­la­to­ren dabei.«

»Und Sie haben das schat­ti­ge Wald­plätz­chen. Vom hohen Sockel gejam­mert nenn ich das.«

»Rüh­ren Sie nicht in der Wun­de«, greint der Gro­ße. »Ein Plätz­chen für­wahr, um von der Welt ver­ges­sen zu wer­den. Schil­ler, zwei­hun­dert Meter wei­ter, hat einen Altar, auf dem man drei Och­sen bra­ten könn­te. Sech­zehn Mal war ich in Böh­men, der Kerl kein Drit­tel so oft – ist das gerecht?«

»Dafür steht er für den ero­tisch­sten Moment der neue­ren deut­schen Film­ge­schich­te, als The­re­sa Weiß­bach Mat­thi­as Schweig­hö­fer fragt: ›Und, Herr Schil­ler, wann kom­men Sie wie­der in die böh­mi­schen Wäl­der?‹ (Schil­ler, D 2005) Sor­ry, Herr Geheim­rat, sowas wie ›Die Räu­ber‹ wirkt auf Frau­en doch stär­ker als Ihre Mari­en­ba­der Elegie.«

»Dem Beet­ho­ven, dem Fle­gel, haben Sie gleich den gan­zen Wald­rand gege­ben. Wenn das der Kai­ser wüsste.«

Die Droh­ne will auch mal was Net­tes sagen: »Da steht er doch nur, weil er mit Bäu­men bes­ser kann als mit Men­schen. Erin­nern Sie sich noch, 1812? Als Sie bei­de sich erst­mals begeg­ne­ten in Teplitz, hier um die Ecke, und plötz­lich der Kai­ser auf­tauch­te? Sie sofort bei­sei­te und den Katz­buckel gemacht. Und Beet­ho­ven wie ein Pan­zer mit­ten durch das Gefol­ge – der Kai­ser grad noch weg­ge­hech­tet, sonst hätt der Irre ihn umge­walzt. So einen kannst du nur in den Wald stellen.«

»Mein Wohn­haus an der Pro­me­na­de nennt sich ›Hotel Mozart‹, obwohl der Leicht­ma­tro­se da nie einen Fuß rein­ge­setzt hat. Auf dem Nach­bar­haus steht: ›Goethe‘s Beer­hou­se‹. Dabei hab ich weder Bier getrun­ken noch Tabak geraucht hier. Brav jeden Mor­gen mei­ne sechs Becher war­mes Was­ser getrun­ken hab ich und zwei Mal die Woche heilgebadet.«

»Und was war mit den Mädels? Mit der Ulri­ke zum Beispiel?«

»Ach, das geht doch kei­nen was an.«

»Genau das ist Ihr Feh­ler. Wort­reich aus­ge­schwie­gen haben Sie sich über Karls­bad.« Die Droh­ne fliegt seit­wärts zu einer Tafel und liest Goe­the vor, was er geschrie­ben hat:

Was ich dort gelebt, genossen,
Was mir all dort­her entsprossen,
Wel­che Freu­de, wel­che Kenntnis,
Wär ein all­zu­lang Geständnis!
Mög’ es jeden so erfreuen,
die Erfah­re­nen, die Neuen!

»Aber was war es?? Kei­ner­lei Aus­kunft geben Sie! Der Fon­ta­ne in sei­nem Bad Kis­sin­gen war da genau­er, der hat auch die von ihm besuch­ten Wirts­häu­ser mit Namen benannt.«

»Sind Sie bald fer­tig mit Ihren Demütigungen?«

»Gleich. Mein Besit­zer ist auch Dich­ter. Der wur­de vom heil­kräf­ti­gen Karls­ba­der Was­ser viel üppi­ger geseg­net als Sie. Ist mor­gens auf­ge­wacht in sei­nem Appar­te­ment, schlaf­trun­ken Rich­tung Bad getappt und – komisch – zwei Zim­mer vor­her schon bis zu den Knö­cheln im Was­ser gestan­den. Hat die Augen auf­ge­ris­sen: Aus der Küche kams gespru­delt, von unter der Spü­le, seit vie­len Stun­den bereits, wie anzu­neh­men ist. Nach­dem er den Haupt­hahn gefun­den und zuge­dreht hat, war Ruhe. Der Mann muss­te unge­duscht und unver­rich­te­ter Mor­gen­ge­schäf­te raus in die pin­kel­fei­ne Stadt.«

»Ja und dann?« Goe­the nimmt Anteil. »Was macht man in einem sol­chen Zustand an einem der mon­dän­sten Orte Europas?«

»Ja was? Man erlebt den ulti­ma­ti­ven Karls­ba­der Was­ser­se­gen! Läuft die Pro­me­na­de run­ter, vor­bei am Pupp, an Ihnen, an Schil­ler und Beet­ho­ven, raus aus der Stadt, steigt run­ter an das noch von kei­ner Stadt berühr­te ober­ste Tep­la-Ufer, legt ein Hand­tuch bereit, ent­klei­det sich, holt das Dusch­gel aus dem Ruck­sack und badet sich zwi­schen den sau­ber­sten Stei­nen Böhmens.«

Goe­the ist berührt. Dann arbei­tet es in sei­nem gro­ßen Kopf. »Eine Fra­ge hätt ich noch. Das Geschäft konn­te ja eben­falls nicht erle­digt wer­den. Wie ging das aus?«

Die Droh­ne bedau­ert, dass Droh­nen nicht lachen kön­nen. »Da sei­en Sie ganz unbe­sorgt. Der Weg führ­te, wie Sie mit Schrecken ver­nah­men, an Ihnen vor­bei und das Schreck­li­che hät­te, wie Sie treff­lich kom­bi­nie­ren, Sie tref­fen kön­nen – hät­ten Sie einen geräu­mi­ge­ren Stand­platz, hin­ter dem ein Not­dürf­ti­ger vor den Blicken mög­li­cher Wan­de­rer Schutz suchen könn­te. Aber den haben Sie nicht. Den hat Ihr Kol­le­ge Schil­ler, und so hat zuwei­len, was uns am tief­sten kränkt, zugleich sein, wenn auch ver­bor­ge­nes, Gutes.