Seit dem 10. Februar widmet sich das Deutsche Historische Museum mit einer Ausstellung dem Kapitalismusgegner Karl Marx. Auf der Pressekonferenz zur Eröffnung wird der Veranstalter gefragt, aus welchem Anlass er denn diese Ausstellung konzipiert habe. Raphael Gross antwortete darauf ziemlich unwirsch, dass er noch nie gern nach Jubiläen und Jahrestagen gegangen wäre. Sein Interesse gelte allein dem »Einsiedler« (Milanovic, 2022) aus London.
Am 17. März 1883, zur Beisetzung von Karl Marx auf dem Londoner Highgate Cemetery, sind nur elf Personen zugegen. Die originale Grablege enthält eine kleine Marmorplatte mit den eingravierten Namen von Ehefrau Jenny (gest. 1881) und anderen Familienangehörigen. Nüchterner kann man sich das Grab des großen Denkers Marx nicht vorstellen. 1956, also siebzig Jahre später, werden Überreste der Gebeine – wie im altchristlichen Reliquienkult – auf den Ostteil des Friedhofs versetzt. Die neue, nunmehr drei Meter hohe Granitstele bekrönt eine brachiale Bronzebüste des britischen Bildhauers Lawrence Bradshaw. Marx ist zur Ikone geworden. Initiator dieser Aufwertung war die Kommunistische Partei Großbritanniens, teilfinanziert von der Sowjetunion. In seiner Monumentalität offenbart das Grabmal einen Höhepunkt von jenem Prozess, im Lauf dessen der Autor vom »Manifest der Kommunistischen Partei« (1848) zum heldischen Erfinder des historischen Materialismus erhöht wurde. Dessen Mythos wuchs zu welthistorischer Bedeutung an; sowohl das genannte Buch wie auch »Das Kapital« (1867) gehören seit 2013 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.
Bereits 2016 zeigte Gareth Stedman Jones in seiner Biografie »Karl Marx. Greatness and Illusion« an, dass diese Entwicklung bereits durch Friedrich Engels in Gang gekommen war, der ein Jahrzehnt lang akribisch den Nachlass seines Freundes durchgearbeitet und alles weitere von ihm posthum veröffentlicht hatte. Also nicht erst durch die Oktoberrevolution in Russland sei der grandiose Aufstieg von Marx erfolgt, sondern früher. Noch bis in die fünfziger Jahre und darüber hinaus lebte der Marxismus fort im Glanz seines »goldenen Zeitalters« (Leszek Kolakowski). Für Raphael Gross war die Tatsache initial zündend, dass ein »Londoner Einsiedler zum einflussreichsten globalen Denker des letzten halben Jahrtausends« (Branco Milanovic) gemacht worden ist. Er sucht jedenfalls nach dem Einsiedler, dem Publizisten und politischen Aktionisten, nicht aber nach dessen entfremdeter Rezeption im Marxismus des 20. Jahrhunderts. Rezeptionsgeschichte, diese Wissenschaftsfalle, hier wird sie vermieden. Und diese Einschränkung hat viel mit wissenschaftlicher Redlichkeit zu tun.
Das Arbeitsteam besteht aus 22 Autoren und Museologen, darunter Marx-Spezialisten wie Jürgen Herres. Es folgt einem Grundsatz der Forschung, historische Gestalten und Prozesse rigoros aus ihrer Entstehungszeit zu entwickeln. Diese Methode wirkt regelrecht wie ein Befreiungsschlag. Prozesse aus der Zeit können in sieben Abteilungen (Kojen) und entsprechenden Katalogkapiteln nachvollziehbar präsentiert werden. Exponate von Originaltexten, technisches Gerät, alles erlesene Objekte aus Archiven und Museen in Frankreich, England und der Schweiz, sind ergänzt durch Hörstationen und Installationen. Bemerkenswert: Besucher, ob Kenner, Wissenschaftler oder Schüler, werden gefesselt sein von der Sachkunde, die raffiniert hinter ihrer Veranschaulichung versteckt ist. Was steht zur Diskussion?
Zuerst geht es um den Weg »Von der Religionskritik zur Gesellschaftskritik«. Marx führt ihn mit seiner Religionskritik vom Gottesgnadentum der Monarchien (Heilige Allianz 1815) zu ihrem Untergang, verursacht durch eine Kettenfolge von Aufständen und Revolutionen. Richard Wagner stellt Vergleichbares im »Ring des Nibelungen« dar. Das Kaiserpersonal agiert, nur mythologisch verkleidet, in der Götterwelt. Ihr musikepisch dargestellter Niedergang endet mit der Götterdämmerung.
Zweitens geht es um »Judenemanzipation und Antisemitismus« in einer komplexen Analyse des Marx-Aufsatzes »Zur Judenfrage« (1843). Marx stammt aus einer alten jüdischen Familie, förderte deren Emanzipation, behält sich aber auch scharfe Kritik am »jüdischen Wesen« vor. Den Autoren gelingt es nur unzureichend, eine Lösung dieser Frage herauszuarbeiten. Klarheit über Ursprung und Ursachen des Judenhasses sind kaum angedeutet worden. Ein zu schwieriges Problem.
In der dritten Abteilung »Revolution und Gewalt« geht es um Marx’ Kritik an utopischen Gesellschaftstheorien und revolutionären Umwälzungen in Frankreich. Erst nach der Pariser Commune ist dem Beobachter klar geworden, dass proletarische Machtergreifung unter Beteiligung der Bourgeoisie stattfinden muss und auch nur schrittweise gelingen kann.
Die Neuen Technologien sind Auslöser der »Industriellen Revolution«, die Entwicklung der Spinn- und Dampfmaschine – in Originalteilen ausgestellt – macht klar, wie es zum Schlesischen Weberaufstand kommen konnte. Maschinen lösten enormen Druck aus auf die Arbeitswelt. Sie entzündeten das Elend in den Arbeiterfamilien und im Proletariat. Sie schufen Armut im neuen Reichtum.
Für »Natur und Ökologie«, die fünfte »Koje«, hatte Marx mehr Interesse, als bekannt ist. Im Kapital beschreibt er das »kapitalistische Raubsystem« und geht damit weit über seine Zeit hinaus. »Ökonomie und Krise«, die sechste Abteilung, zeigt, wie Marx aus den Beobachtungen der Weltwirtschaftskrise von 1857 Gesetze der Ökonomie zusammenstellt, die zur Grundlage des »Kapitals« werden. In »Kämpfe und Bewegungen« schließlich wird die anwachsende industrialisierte Arbeiterbewegung dokumentiert, die zu starken Gewerkschaften in Europa führen. 1864 wuchs daraus die Internationale Arbeiterassoziation.
Im Katalog und in der Exposition gibt es darüber hinaus Bemühungen, Marx zum Vorreiter der Frauenemanzipation zu machen. Doch dieser Versuch, gebunden an die Kritik, dass Marx zwar für Rechte der Arbeiterinnen eintrat, in seiner Lebensweise jedoch kaum Rücksicht auf Frauen nahm, erscheint mir misslungen.
Raphael Gross bringt den Mut auf, Querverbindungen zu Zeitgenossen herzustellen. Richard Wagner und Karl Marx vergleicht er als Weggefährten, ein Novum in der Wissenschaftsgeschichte. Die gleiche Wegstrecke abgelaufen, haben beide herausragend in Prozesse ihrer Zeit, in die Politik und in das Musik- und Opernschaffen eingegriffen. Sie standen vor den gleichen Problemfeldern, denen sie sich mit unterschiedlichen Kampfzielen als Revolutionäre der Kunst und der politischen Macht entgegenwarfen. Überraschend darin ist, dass sie daraus ein überdauerndes Schöpfertum entwickelt haben, dessen eruptive Hervorbringungen miteinander vergleichbar sind. Wagner wollte die Moderne in der Oper. Karl Marx hat das Wesen des Kapitals enthüllt. Ihren Lebensstil als Bourgeois wollten beide allerdings erhalten. Ausstellung und Katalogtexte kommen zu dem Schluss: Solange es Kapitalismus geben wird, wird man über Marx und seine Schriften diskutieren, und das immer kontrovers.
»Karl Marx und der Kapitalismus«. Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (Pei-Bau) vom 10. Februar bis 21. August 2022. Katalog: herausgegeben von Raphael Gross, Jürgen Herres, Sabine Kritter. Verlagsausgabe Theiss Verlag, Darmstadt 2022, 304 S., 32 €.