Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Karl Marx und der Kapitalismus

Seit dem 10. Febru­ar wid­met sich das Deut­sche Histo­ri­sche Muse­um mit einer Aus­stel­lung dem Kapi­ta­lis­mus­geg­ner Karl Marx. Auf der Pres­se­kon­fe­renz zur Eröff­nung wird der Ver­an­stal­ter gefragt, aus wel­chem Anlass er denn die­se Aus­stel­lung kon­zi­piert habe. Rapha­el Gross ant­wor­te­te dar­auf ziem­lich unwirsch, dass er noch nie gern nach Jubi­lä­en und Jah­res­ta­gen gegan­gen wäre. Sein Inter­es­se gel­te allein dem »Ein­sied­ler« (Mila­no­vic, 2022) aus London.

Am 17. März 1883, zur Bei­set­zung von Karl Marx auf dem Lon­do­ner High­ga­te Ceme­tery, sind nur elf Per­so­nen zuge­gen. Die ori­gi­na­le Grab­le­ge ent­hält eine klei­ne Mar­mor­plat­te mit den ein­gra­vier­ten Namen von Ehe­frau Jen­ny (gest. 1881) und ande­ren Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen. Nüch­ter­ner kann man sich das Grab des gro­ßen Den­kers Marx nicht vor­stel­len. 1956, also sieb­zig Jah­re spä­ter, wer­den Über­re­ste der Gebei­ne – wie im alt­christ­li­chen Reli­qui­en­kult – auf den Ost­teil des Fried­hofs ver­setzt. Die neue, nun­mehr drei Meter hohe Gra­nit­ste­le bekrönt eine bra­chia­le Bron­ze­bü­ste des bri­ti­schen Bild­hau­ers Law­rence Bradshaw. Marx ist zur Iko­ne gewor­den. Initia­tor die­ser Auf­wer­tung war die Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei Groß­bri­tan­ni­ens, teil­fi­nan­ziert von der Sowjet­uni­on. In sei­ner Monu­men­ta­li­tät offen­bart das Grab­mal einen Höhe­punkt von jenem Pro­zess, im Lauf des­sen der Autor vom »Mani­fest der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei« (1848) zum hel­di­schen Erfin­der des histo­ri­schen Mate­ria­lis­mus erhöht wur­de. Des­sen Mythos wuchs zu welt­hi­sto­ri­scher Bedeu­tung an; sowohl das genann­te Buch wie auch »Das Kapi­tal« (1867) gehö­ren seit 2013 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.

Bereits 2016 zeig­te Gareth Sted­man Jones in sei­ner Bio­gra­fie »Karl Marx. Great­ness and Illu­si­on« an, dass die­se Ent­wick­lung bereits durch Fried­rich Engels in Gang gekom­men war, der ein Jahr­zehnt lang akri­bisch den Nach­lass sei­nes Freun­des durch­ge­ar­bei­tet und alles wei­te­re von ihm post­hum ver­öf­fent­licht hat­te. Also nicht erst durch die Okto­ber­re­vo­lu­ti­on in Russ­land sei der gran­dio­se Auf­stieg von Marx erfolgt, son­dern frü­her. Noch bis in die fünf­zi­ger Jah­re und dar­über hin­aus leb­te der Mar­xis­mus fort im Glanz sei­nes »gol­de­nen Zeit­al­ters« (Les­zek Kola­kow­ski). Für Rapha­el Gross war die Tat­sa­che initi­al zün­dend, dass ein »Lon­do­ner Ein­sied­ler zum ein­fluss­reich­sten glo­ba­len Den­ker des letz­ten hal­ben Jahr­tau­sends« (Bran­co Mila­no­vic) gemacht wor­den ist. Er sucht jeden­falls nach dem Ein­sied­ler, dem Publi­zi­sten und poli­ti­schen Aktio­ni­sten, nicht aber nach des­sen ent­frem­de­ter Rezep­ti­on im Mar­xis­mus des 20. Jahr­hun­derts. Rezep­ti­ons­ge­schich­te, die­se Wis­sen­schafts­fal­le, hier wird sie ver­mie­den. Und die­se Ein­schrän­kung hat viel mit wis­sen­schaft­li­cher Red­lich­keit zu tun.

Das Arbeits­team besteht aus 22 Autoren und Museo­lo­gen, dar­un­ter Marx-Spe­zia­li­sten wie Jür­gen Her­res. Es folgt einem Grund­satz der For­schung, histo­ri­sche Gestal­ten und Pro­zes­se rigo­ros aus ihrer Ent­ste­hungs­zeit zu ent­wickeln. Die­se Metho­de wirkt regel­recht wie ein Befrei­ungs­schlag. Pro­zes­se aus der Zeit kön­nen in sie­ben Abtei­lun­gen (Kojen) und ent­spre­chen­den Kata­log­ka­pi­teln nach­voll­zieh­bar prä­sen­tiert wer­den. Expo­na­te von Ori­gi­nal­tex­ten, tech­ni­sches Gerät, alles erle­se­ne Objek­te aus Archi­ven und Muse­en in Frank­reich, Eng­land und der Schweiz, sind ergänzt durch Hör­sta­tio­nen und Instal­la­tio­nen. Bemer­kens­wert: Besu­cher, ob Ken­ner, Wis­sen­schaft­ler oder Schü­ler, wer­den gefes­selt sein von der Sach­kun­de, die raf­fi­niert hin­ter ihrer Ver­an­schau­li­chung ver­steckt ist. Was steht zur Diskussion?

Zuerst geht es um den Weg »Von der Reli­gi­ons­kri­tik zur Gesell­schafts­kri­tik«. Marx führt ihn mit sei­ner Reli­gi­ons­kri­tik vom Got­tes­gna­den­tum der Mon­ar­chien (Hei­li­ge Alli­anz 1815) zu ihrem Unter­gang, ver­ur­sacht durch eine Ket­ten­fol­ge von Auf­stän­den und Revo­lu­tio­nen. Richard Wag­ner stellt Ver­gleich­ba­res im »Ring des Nibe­lun­gen« dar. Das Kai­ser­per­so­nal agiert, nur mytho­lo­gisch ver­klei­det, in der Göt­ter­welt. Ihr musike­pisch dar­ge­stell­ter Nie­der­gang endet mit der Götterdämmerung.

Zwei­tens geht es um »Juden­eman­zi­pa­ti­on und Anti­se­mi­tis­mus« in einer kom­ple­xen Ana­ly­se des Marx-Auf­sat­zes »Zur Juden­fra­ge« (1843). Marx stammt aus einer alten jüdi­schen Fami­lie, för­der­te deren Eman­zi­pa­ti­on, behält sich aber auch schar­fe Kri­tik am »jüdi­schen Wesen« vor. Den Autoren gelingt es nur unzu­rei­chend, eine Lösung die­ser Fra­ge her­aus­zu­ar­bei­ten. Klar­heit über Ursprung und Ursa­chen des Juden­has­ses sind kaum ange­deu­tet wor­den. Ein zu schwie­ri­ges Problem.

In der drit­ten Abtei­lung »Revo­lu­ti­on und Gewalt« geht es um Marx’ Kri­tik an uto­pi­schen Gesell­schafts­theo­rien und revo­lu­tio­nä­ren Umwäl­zun­gen in Frank­reich. Erst nach der Pari­ser Com­mu­ne ist dem Beob­ach­ter klar gewor­den, dass pro­le­ta­ri­sche Macht­er­grei­fung unter Betei­li­gung der Bour­geoi­sie statt­fin­den muss und auch nur schritt­wei­se gelin­gen kann.

Die Neu­en Tech­no­lo­gien sind Aus­lö­ser der »Indu­stri­el­len Revo­lu­ti­on«, die Ent­wick­lung der Spinn- und Dampf­ma­schi­ne – in Ori­gi­nal­tei­len aus­ge­stellt – macht klar, wie es zum Schle­si­schen Weber­auf­stand kom­men konn­te. Maschi­nen lösten enor­men Druck aus auf die Arbeits­welt. Sie ent­zün­de­ten das Elend in den Arbei­ter­fa­mi­li­en und im Pro­le­ta­ri­at. Sie schu­fen Armut im neu­en Reichtum.

Für »Natur und Öko­lo­gie«, die fünf­te »Koje«, hat­te Marx mehr Inter­es­se, als bekannt ist. Im Kapi­tal beschreibt er das »kapi­ta­li­sti­sche Raub­sy­stem« und geht damit weit über sei­ne Zeit hin­aus. »Öko­no­mie und Kri­se«, die sech­ste Abtei­lung, zeigt, wie Marx aus den Beob­ach­tun­gen der Welt­wirt­schafts­kri­se von 1857 Geset­ze der Öko­no­mie zusam­men­stellt, die zur Grund­la­ge des »Kapi­tals« wer­den. In »Kämp­fe und Bewe­gun­gen« schließ­lich wird die anwach­sen­de indu­stria­li­sier­te Arbei­ter­be­we­gung doku­men­tiert, die zu star­ken Gewerk­schaf­ten in Euro­pa füh­ren. 1864 wuchs dar­aus die Inter­na­tio­na­le Arbeiterassoziation.

Im Kata­log und in der Expo­si­ti­on gibt es dar­über hin­aus Bemü­hun­gen, Marx zum Vor­rei­ter der Frau­en­eman­zi­pa­ti­on zu machen. Doch die­ser Ver­such, gebun­den an die Kri­tik, dass Marx zwar für Rech­te der Arbei­te­rin­nen ein­trat, in sei­ner Lebens­wei­se jedoch kaum Rück­sicht auf Frau­en nahm, erscheint mir misslungen.

Rapha­el Gross bringt den Mut auf, Quer­ver­bin­dun­gen zu Zeit­ge­nos­sen her­zu­stel­len. Richard Wag­ner und Karl Marx ver­gleicht er als Weg­ge­fähr­ten, ein Novum in der Wis­sen­schafts­ge­schich­te. Die glei­che Weg­strecke abge­lau­fen, haben bei­de her­aus­ra­gend in Pro­zes­se ihrer Zeit, in die Poli­tik und in das Musik- und Opern­schaf­fen ein­ge­grif­fen. Sie stan­den vor den glei­chen Pro­blem­fel­dern, denen sie sich mit unter­schied­li­chen Kampf­zie­len als Revo­lu­tio­nä­re der Kunst und der poli­ti­schen Macht ent­ge­gen­war­fen. Über­ra­schend dar­in ist, dass sie dar­aus ein über­dau­ern­des Schöp­fer­tum ent­wickelt haben, des­sen erup­ti­ve Her­vor­brin­gun­gen mit­ein­an­der ver­gleich­bar sind. Wag­ner woll­te die Moder­ne in der Oper. Karl Marx hat das Wesen des Kapi­tals ent­hüllt. Ihren Lebens­stil als Bour­geois woll­ten bei­de aller­dings erhal­ten. Aus­stel­lung und Kata­log­tex­te kom­men zu dem Schluss: Solan­ge es Kapi­ta­lis­mus geben wird, wird man über Marx und sei­ne Schrif­ten dis­ku­tie­ren, und das immer kontrovers.

 »Karl Marx und der Kapi­ta­lis­mus«. Aus­stel­lung im Deut­schen Histo­ri­schen Muse­um (Pei-Bau) vom 10. Febru­ar bis 21. August 2022. Kata­log: her­aus­ge­ge­ben von Rapha­el Gross, Jür­gen Her­res, Sabi­ne Krit­ter. Ver­lags­aus­ga­be Theiss Ver­lag, Darm­stadt 2022, 304 S., 32 €.