Krieg gilt als etwas Uraltes, schon immer Dagewesenes. Das stimmt aber nur insofern, als gewaltsam ausgetragene Verteilungskämpfe zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen schon aus der Frühgeschichte der Menschheit überliefert sind. Die Bauernmilizen, Adelsaufgebote und räuberischen Reiternomaden früher Agrarkulturen hatten allerdings kaum etwas mit einer modernen Nationalarmee und deren Kriegführung zu tun. Was wir Krieg nennen, ist ein Produkt des Frühkapitalismus.
Der frühe Kapitalismus hatte seine Wurzeln in den Nischen der hochmittelalterlichen Agrargesellschaft. Mit zunehmender Entwicklung von Handwerk und Handel, der beginnenden Ablösung von Natural- durch Geldwirtschaft erhöhte sich der Finanzbedarf der Grundherren. Infolge der Monetarisierung der Wirtschaft war jeder Grundherr, der in finanziellen Schwierigkeiten steckte, bestrebt, nicht genau beurkundete Grenzziehungen zwischen Besitztümern zu seinen Gunsten zu verschieben. Und seine Nachbarn ließen sich Eingriffe in ihre Rechte und Schmälerung ihres Besitzes meist nicht gefallen. Solche Konflikte wurden häufig bewaffnet ausgetragen. Wer von den Grundherren des ausgehenden Mittelalters nicht immerzu von seinen Nachbarn territorial gerupft oder von empörten Bauern erschlagen werden wollte, musste permanent für etwaige Auseinandersetzungen gerüstet sein und über die damals modernsten Waffen verfügen. Das Resultat war die Entstehung des Berufsstandes des professionellen Söldners, der für Geld alles tat, was von ihm verlangt wurde.
Der Unterhalt von Söldnern sowie der Ankauf von Feuerwaffen waren jedoch teuer. War die Herstellung von Mordinstrumenten der adligen Ritter zuvor noch von simplen Dorfschmieden zu bewerkstelligen, so bedurfte es zum Gießen von Kanonen und der Herstellung des Pulvers weit größerer Werkstätten. Diese waren dann erste Keimzellen beginnender Industrialisierung. Und die Betreiber dieser Werkstätten ließen sich die Aufrüstung der Söldnertruppen teuer bezahlen. Die frühen Rüstungsfabrikanten und Söldnerführer waren als »Unternehmer des Todes« Urväter der heutigen Unternehmensmanager und Konzernchefs.
Der Finanzbedarf der Grundherren erhöhte sich mit diesen ersten Anfängen der Militarisierung schlagartig. Dies wiederrum ließ die Konflikte innerhalb der spätfeudalen Gesellschaft weiter eskalieren: Mord, Bandschatzung und Geiselnahme waren damals durchaus üblich und auch legal – solange man sich an bestimmte Spielregeln hielt. Um den ausufernden Feudalfehden, die die Entwicklung des frühen Kapitalismus schließlich behinderten, Herr zu werden, begannen ab dem 14. Jahrhundert besonders tatkräftige Herrscher mit der Entwicklung bürokratischer Verwaltungsapparate und eines vereinheitlichten Justizsystems. Dies war dann die Geburtsstunde des Absolutismus und gleichzeitig erste Keimzelle eines bürgerlichen Nationalstaates.
Die Unterwerfung der Menschen unter das heraufdämmernde System kapitalistischer Warenproduktion erfolgte damals mittels des Einsatzes brutalster Gewalt. Schon Karl Marx definierte bekanntlich die Staatsmacht als »konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozess der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern«. Im Zuge dieses Verwandlungsprozesses wurde die gemächliche, vergleichsweise repressionsarme Agrarökonomie des Hochmittelalters schrittweise in ein System kapitalistischer Pachtverhältnisse überführt, damit monetarisiert und einem rigiden Zeitregime unterworfen. Reste des noch vorhandenen uralten Gemeineigentums, die bis dahin unter der Decke der feudalen Verhältnisse überlebt hatten, wurden in diesem Zusammenhang rücksichtslos enteignet. Um dies gegen Widerstände auch durchsetzen zu können, erwiesen sich die entstehenden Justiz- und Militärapparate als notwendig.
Um aus den damaligen feudalen Flickenteppichen höchst unterschiedlicher Territorien in sich geschlossene Nationalstaaten zu formen, bedurfte es in der Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert zudem noch einer ganzen Kette von Formierungskriegen, die für die Bevölkerung dieser Regionen fürchterliche Auswirkungen hatten. Einen schauerlichen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem Dreißigjährigen Kriege, als Horden mordender und plündernder Landsknechte große Teile Mitteleuropas verwüstet und sich schließlich der Kontrolle ihrer jeweiligen Auftraggeber weitgehend entzogen hatten. Nur als Beispiel: In den sich damals herausbildenden deutschen Teilstaaten Brandenburg und Sachsen schrumpfte die Bevölkerung auf etwa die Hälfte.
Erst nach dieser Katastrophe wich der freie Gewaltunternehmer schrittweise der modernen Nationalarmee. Oder, wie Robert Kurz es schrieb: Es »entstand ›das Militär‹ als besondere soziale Gruppe, und die Armee wurde zu einem sozialen Fremdkörper in der Gesellschaft«. An die Stelle des ewig hungrigen, marodierend durch die Lande ziehenden Kriegsknechts trat der gepresste, unter der Zuchtrute seines Korporals gedrillte und in Reih und Glied gezwungene Grenadier. Gleichzeitig explodierte in den entstehenden bürgerlichen Staaten die Zahl der professionellen Militärs – allein von 1500 bis 1700 etwa um das Zehnfache. Und die Rüstungsindustrie als treibende Kraft von Manufakturproduktion und Industrialisierung erhielt so ihren entscheidenden Anstoß.
Unter den Bedingungen eines entwickelten Kapitalismus können Kriege nichts anderes sein als die Fortsetzung der Konkurrenz mit Mitteln nationalstaatlicher Gewalt. Von einer friedlichen Zeit kann also nach der gewaltsamen Unterdrückung der Feudalfehden und nun rasant einsetzender Entwicklung zum Kapitalismus überhaupt keine Rede sein. Das Konkurrenzprinzip als Triebkraft bürgerlicher Entwicklung äußerte sich zunächst primär in Handels- und Eroberungskriegen. Die entstandenen oder noch entstehenden bürgerlichen Nationalstaaten gingen einander im Kampf um Handelsrechte, um Einflusssphären, Rohstoffquellen und Absatzmärkte an die Gurgel. Friedrich Engels hat es in einem seiner frühen Texte treffend beschrieben: »Im Grunde war es doch die alte Geldgier und Selbstsucht, und diese brach von Zeit zu Zeit in den Kriegen aus, die in jener Periode alle auf Handelseifersucht beruhten. In diesen Kriegen zeigte es sich auch, dass der Handel, wie der Raub, auf dem Faustrecht beruhte.«
Diese Kette von Kriegen hatte damals durchaus schon globale Züge; die in Afrika, Asien und Amerika stationierten Kolonialtruppen wurden in die militärischen Auseinandersetzungen einbezogen und versuchten folgerichtig, frühfeudale Herrschaftsbereiche und deren Kriegerhaufen als Verbündete zu gewinnen – was meist auch gelang. Einen schauerlichen Höhepunkt erreichten diese Kriege um Aufteilung der Welt in Einflusssphären der jeweiligen Nationalökonomie mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, als verschiedene Newcomer, an der Spitze das Deutsche Reich, den traditionellen kapitalistischen Großmächten ihre Führungsrolle streitig machen wollten.
Die Entwicklung des Kapitalismus scheint derzeit ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Während der letzten Jahrzehnte folgten auf den politischen Zusammenbruch von »Verliererregionen«, die es nicht geschafft hatten, den wirtschaftlichen Vorsprung der entwickelten Industriemächte aufzuholen, eine ganze Kette von »Entstaatlichungskriegen«, in denen die Reste nationalstaatlicher Armeen in trauter Gemeinschaft mit diversen Gotteskriegern und ganz gewöhnlichen Banditen die zuvor mühsam aus dem Boden gestampften Infrastrukturen fledderten. Und der marxistische Ökonom Wolfgang Fritz Haug prognostizierte – einen US-amerikanischen Geographen zitierend – schon vor Jahren ein mögliches »Auseinanderbrechen der globalen Wirtschaft in regionale Hegemonialstrukturen, die genauso leicht wild miteinander konkurrieren als auch in der elenden Frage zusammenarbeiten könnten, wer die Hauptlast der langanhaltenden Depression tragen muss«.
Dieses wild miteinander konkurrieren ist mittlerweile in militärisch ausgetragene Verteilungskämpfe eskaliert. In diesem Kontext ist der derzeit tobende Krieg zwischen Russland und der von den westlichen Staaten unterstützen Ukraine zu sehen, auch das seit 2011 in Libyen und Syrien wütende Kriegs- und Bürgerkriegschaos sowie der von der medialen Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommene Bombenkrieg Saudi-Arabiens gegen das Nachbarland Jemen.
Der unter Schüssen und Waffengeklirr geborene Kapitalismus scheint sich in seiner Endphase selbst treu zu bleiben. Wobei er kraft der von ihm weltweit angehäuften Arsenale von Atombomben und anderer Mordinstrumente die weitere Existenz der Menschheit gefährdet.
Kann man gegen einen nun drohenden finalen Verteilungskrieg etwas tun? Aber gewiss doch. Und man sollte es auch. Krieg ist nichts Naturgegebenen, er wird von Menschen gemacht. Auf das Grauen des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie nachfolgender Entkolonialisierungskriege folgte bei der Weltbevölkerung eine breite Ablehnungsfront gegenüber jeder Form von militärischer Gewalt – noch im Jahre 2003 protestierten weltweit Millionen Menschen gegen den Angriff einer von den USA geführten Militärkoalition gegen den Irak. Es liegt an uns, eine neue Abwehrfront gegen Kapitalismus und Krieg zu organisieren.