- Wir sind arm. Mein Vater ist Bergmann, obwohl er viel zu schwach ist für die harte Arbeit vor Kohle. Für die Arbeit im Loch, wie meine Mutter sagt. Sonderschichten, die gut bezahlte Arbeit als Hauer direkt vor Kohle, das alles kommt für ihn nicht in Frage. Aber wir lassen uns nichts gefallen. Wir besitzen ein altes Fachwerkshaus, braune Balken, gelbe Felder. Nein, wir müssen uns nicht verstecken. Sowieso wehren wir uns, wenn uns Unrecht geschieht.
Der Rektor der Volksschule, die ich besuche, gibt mir in Rechnen ein »Ziemlich gut«. Meine Mutter ist empört. »Unser Heinzken ist nicht ziemlich gut, der ist richtig gut!«
Sie muss nur die Straße überqueren, dann ist sie schon auf dem Schulhof. Dort führt mein Klassenlehrer gerade Aufsicht. Es ist Jürgen Girgensohn, der später als Kultusminister mein oberster Chef wurde. Er macht ihr Mut: »Ja, beschweren Sie sich, Frau Peuckmann. Heinz ist gut.«
Der Rektor, Anzug mit Fliege, vergleicht meine Rechenleistung mit Mitschülern aus meiner Klasse. Ja, er ist besser als dieser oder jener, aber Kettenaufgaben löst ein anderer schneller als er.
»Kommt es denn aufs Tempo an?«, will meine Mutter wissen, »wichtig ist doch, dass das Ergebnis stimmt.«
Der Rektor gibt schließlich nach. Er streicht das »Ziemlich« und dokumentiert es durch das Kürzel seiner Unterschrift am Rand des Zeugnisses.
Meine Mutter kommt triumphierend zurück. »Hier, das kommt jetzt in die Mappe zu den anderen Zeugnissen. Wir lassen uns nichts gefallen.« Sie schaut mich durchdringend an.
»Nein Mama, tun wir nicht.«
*
- Wir sind Selbstversorger. Im Stall neben dem Hof halten wir ein Schwein. Wenn ich sein Futter in den Trog fülle, streckt es die Schnauze und schlabbert hektisch alles weg.
»Lass dir Zeit«, sage ich, »je schneller du fett bist, desto früher kommt dein Ende.« Aber das Schwein hört nicht. Eines Tages, als ich von der Schule komme, hängt es zweigeteilt auf der Leiter. Bin ich traurig, weil ich es doch gefüttert habe? Nein, bin ich nicht. Wir haben jetzt Fleisch für viele Wochen. Ich trete an das Schwein heran. »Habe ich dich nicht gewarnt«, sage ich. »Aber du wolltest ja nicht hören und hast gefressen so viel du konntest. Jetzt hängst du hier. Geschieht dir recht.«
Gegenüber vom Schweinestall gibt es zwei Boxen. Darin hielten meine Großeltern früher zwei Ziegen. Milch für die Kinder, also auch für meinen Vater. Zwei Bergmannskühe, wie sie genannt wurden. Aber die gibt es schon lange nicht mehr. Und auch das Schwein ist das letzte, das wir fettfüttern. Alles zu viel Arbeit.
Im Garten hinter dem Hof ziehen wir Gemüse. Kohl, Wirsing, Kartoffeln, alles, was wir brauchen. Meine Mutter wühlt in dem Garten, nichts darf verderben. Manchmal muss ich helfen und Raupen einsammeln, die alles auffressen. Aber nicht zu lange, ich soll lernen. Ich soll es mal besser haben, wofür sonst quält sie sich.
Ein kleiner städtischer Beamter, meint sie, kann ich doch werden. Nein, Mama, das bin ich nicht geworden. Schriftsteller bin ich geworden, und die Anfänge meiner Anerkennung hast du noch mitgekriegt. Gott sei Dank, du hast dich nicht vergeblich gequält.
Im Garten stehen Obstbäume, steht ein Birnbaum mit saftigen, festen Birnen, steht ein Pflaumenbaum und jemand aus der Generation vor uns hat sogar einen Pfirsichbaum gepflanzt, obwohl es für den bei uns viel zu kalt ist. Aber manchmal, in warmen Sommern, trägt er ein paar Früchte. Ich verstehe denjenigen, der ihn gepflanzt hat. Alles ist dem reinen Zweck unterworfen, da muss man sich einmal etwas extra leisten.
Auch die Blumenstauden sind nicht einem Zweck unterworfen. Sie sind einfach nur schön. Vor allem die Hortensien, die meine Mutter so liebt und die auch ich liebe. Bis heute stehen sie vor meiner Haustür. Es muss etwas geben, das nicht nur dem Zweck unterworfen ist.
*
- Wir lassen uns nichts gefallen, wir sind selbstbewusst. Gott sei Dank sind wir das. Es ist eine Einstellung, die mich mein Leben lang begleitet. Aber da ist etwas, das wir nicht in den Griff kriegen. Vor allem meine gutmütige Mutter ist dem hilflos ausgeliefert. Es handelt sich um meine Oma, die Mutter meines Vaters. Die alte Frau Peuckmann, heißt es in unserer Straße, ist ein Drachen. Ja, das ist sie. Mich mag sie. Ich bin ihr letztes Enkelkind, gleichzeitig mit mir wird sie zum ersten Mal Urgroßmutter. Ich ignoriere ihre Übellaunigkeit, ihre Abneigung gegen alle anderen. Ich bin gerne fröhlich. Wenn sie wütend ist, und das ist sie oft, lässt sie ihre wulstige Unterlippe hängen und schimpft los. Über jede Kleinigkeit kann sie sich aufregen. Mein Großvater, ihr Ehemann, starb früh an der Spanischen Grippe, sie heiratete noch mal, einen Bergmann, Friedrich Zippan. Ich frage irgendwann eine entfernte Verwandte, lange nach ihrem Tod, wie sie mit meinem Stiefopa umgegangen ist, der mich zu den Treffen mit seinen Kumpels nach der Schicht zum Postteich mitnahm.
»Heinz«, sagte sie, »sie hat nur in Ausrufsätzen mit ihm gesprochen.«
Ich glaube das. Ausrufsätze mit wulstiger Unterlippe. Nur gegen einen kommt meine Oma nicht an. Gegen ihren Sohn, meinen Vater. Wenn sie wieder mal bösartig zu meiner Mutter war, dann griff mein Vater ein. Lautstark, so dass es selbst die Nachbarn hören konnte, schimpfte er mit ihr. Schimpfwörter fielen, wie sie einer Mutter gegenüber vielleicht nicht fallen dürften, aber seine Mutter war ein Sonderfall. Meine Mutter ging dann in Deckung, mein Vater ließ sich nicht unterbrechen. Wenn meine Oma selber laut werden wollte, wurde er noch lauter. Dem war selbst meine Oma nicht gewachsen. Ich fand meinen Vater gut, einfach, weil ich meine Mutter liebte.
Ja, wir lassen uns nichts gefallen. Wo Unrecht geschieht, werden wir laut. Aber alles können wir nicht verhindern.
*
- Ich bin gut in der Schule, bekomme Zeugnisse mit »gut« in allen Fächern. Aber als es darauf ankommt, zu welcher weiterführenden ich gehen soll, kommt meine Herkunft zum Tragen. Ich bin Bergarbeitersohn. Von den über 40 Schülern meiner Klasse gehen immer vier zum Gymnasium oder zur Realschule. Zum Gymnasium gehen die Söhne eines Referatsleiters einer Versicherung und der Sohn eines Steigers. Der eine wird später Chefarzt an einem Krankenhaus in Unna, der andere wird Offizier bei der Bundeswehr und fliegt den Starfighter. Seine größte Leistung ist es, dass er das überlebt hat und nicht abstürzt.
Ja, und ich? Was ist mit mir? Ich gehe zur Realschule, entscheidet der Rektor. Zum Gymnasium dürfen nur Kinder, deren Eltern Englisch oder Englischnachhilfe bezahlen können. Beides trifft auf meine Eltern nicht zu. Meine Mutter ist trotzdem nicht unzufrieden.
Ein kleiner städtischer Beamter, das kann er doch werden, urteilt sie. Das reicht. Warum zu den Sternen greifen, wenn man sie doch nicht erreichen kann.
Also mache ich die Aufnahmeprüfung für die Realschule Oberaden und werde zum Fahrschüler. Die Busfahrten nutze ich, um die Hausaufgaben zu machen. Dann kann ich nach der Rückkehr sofort rausgehen und Fußball spielen. Später, sehr viel später rechne ich nach. Die Hälfte aus meiner Klasse damals holt das Abitur nach, geht einen krummen Weg wie auch ich ihn gehe.
Mir gibt der Rektor der Realschule den entscheidenden Tipp. Irgendwann ruft er mich in sein Büro und erzählt, dass es in Unna ein Aufbaugymnasium gebe. Dorthin könnte ich nach der sechsten oder siebten Klasse wechseln und doch noch das Abitur machen. Er wisse doch, dass das mein Wunsch sei.
Also fährt meine Mutter nach Unna zum Aufbaugymnasium und meldet mich dort an. Wieder muss ich eine Aufnahmeprüfung bestehen. Meine große Chance, viel mehr Chancen wird es in meinem Leben nicht geben, davon bin ich überzeugt.
Im Diktat bin ich, wie viele Arbeiterkinder, nicht gut, aber rechnen kann ich und auch Aufsätze schreiben, denn ich habe Fantasie. Dann aber folgt eine Prüfungsstunde, die mein späterer Lehrer Schlabach, der selber Hörspiele schreibt, abhält; er nimmt mich dauernd dran. Ich bin irritiert. Warum tut er das?
»Ich glaube, du stehst auf Kippe«, sagt ein Junge aus der Prüfungsklasse. »Der will wissen, ob du es schaffen kannst oder nicht.«
Ein paar Wochen lang zittere ich. Hat es gereicht, bekomme ich die Chance?
Im Nachhinein bin ich froh, dass mich mein Schulweg nach Unna zum Gymnasium geführt hat. Dort gibt es Klassenkameraden, die mit ihren Eltern Hausmusik veranstalten. Von so etwas hatte ich noch nie gehört. In Kamen, in meiner Straße, las kaum jemand, und schreiben tat erst recht keiner. Krummer Weg, aber eine neue Welt.
Anmerkung der Redaktion: Heinrich Peuckmann, langjähriger Ossietzky-Begleiter, ist in der Nacht zum 3. März gestorben (siehe den folgenden Nachruf von Gabriele Gillen). Ein schwer zu verwindender Verlust. Nur wenige Wochen vor seinem Tod, als wir diesen Text wegen eines Nachrufs auf Heinrich Hannover »schieben« mussten, schrieb er: »Richtig, er hat es verdient.« Und Heinrich hat es verdient, dass wir dieses Heft nun mit seinem Text beginnen. Unser tiefes Mitgefühl gilt seinen Angehörigen und Freunden.