Die Gefahr »kalter« und »warmer« Blitzschläge hat der Autor wohl selbst befürchtet, wenn er aphoristisch im ersten Teil seines Buches dekretiert: »Daliegen, erschlagen vom eigenen Geistesblitz«. Aber diese Feuersnot droht dem Aphoristiker, weswegen wohl in jeder Sammlung »kalte« und »heiße« Gedankenblitze versammelt sind. Es hält sich hartnäckig der Aberglaube, dass warme Blitze Brände verursachen können, kalte hingegen nicht. Dabei sind alle Blitze heiß. Nun, das mag auch für die im ersten Teil »Gedankenspäne & Wortfindungen« versammelten Aphorismen zutreffen, doch ist ihre Zündkraft (der Autor spricht in einer ambitionierten Vorbemerkung gar von »Sprengkraft«) nicht durchgehend gleich stark. Viele, ja die meisten frappieren, überrumpeln, machen in ihrer Geschliffenheit sprachlos: »Tumor ist, wenn man trotzdem lacht«. Bei anderen hingegen schmecken die Zutaten des Rezepts zu deutlich durch: »Die Ewigkeit dauert etwas länger als gedacht.«
Anregend und untergründig witzig sind die unter »Wortwechsel / Kurzdialoge« versammelten Texte, die man gern zweimal liest. Hier werden auf angenehme und sprachspielerische Weise die gefürchteten Smalltalks verulkt, am besten ist dieser zwischen B und A: »Darüber könnte ich ein Buch schreiben.« / »Dann lassen Sie es aber nicht drucken.« Und es ist Ulk mit Tiefgang, vielleicht an DADA geschult: »Was bleibt?«, fragt A. Antwort von B: »Was blubbt!«
Parodieliebhaber können in der Abteilung »Lose Strophen« fündig werden. Wer in der Lyrik bewandert ist, wird hier Spaß und Anregung finden, auch die des Wiederlesens der »Originale«. Besonders im »Reimspaß« der Hommage an Christian Morgenstern ging es mir so.
Die alte Regel, dass das Beste bis zum Schluss aufgehoben werden soll, sie wurde hier befolgt. Denn das Buch wird beschlossen von den »Highway Lyrics« der Lina Gall. Man muss dazu wissen, dass Oskar Ansull die Lyrikerin Lina Gall samt Vita erfand, gallina ist das spanische Wort für Huhn. Diese Erfindung hat einen ernsten Hintergrund, denn, so teilt der Erfinder der Frau Lina Huhn, mit: »Ich brauchte eine Autorin im Landkreis Celle, die sich zu der geplanten Hühnermassenvernichtungsfabrik in Wietze bei Celle geäußert haben könnte, denn es gab leider keine mir bekannten poetischen Reaktionen auf diese Anlage, wenn auch einen großen, doch erfolglosen Protest dagegen.« In diesem Teil des Buches erwarten den Leser scharf pointierte Texte, lyrische Gebilde, die eingreifen, wachrütteln, die dem »Verbraucher« – vielleicht im Supermarkt – auch seine Gedankenlosigkeit vorführen, eine Gedankenlosigkeit, die angesichts der zunehmenden Brutalisierung der Welt, nicht nur im Bereich der »Nahrungsmittelproduktion« immer mehr sprachliche Verhüllung braucht: »celler land frischgeflügel / hi küken & friends / es klingt doch ganz lieb / geflügelverarbeitungsbetrieb / geflügelmassenschlachthof / hingegen klingt doof«. Man kann also noch Gedichten begegnen, welche die Gegenwart beim Schopfe packen, die aus dem schöpfen, was vor der Haustür passiert und doch die Welt spiegeln, wie etwa: »’s ist krieg oder automobilmachung«, wo das ausgeführt wird, was wohl jeden Autobahnbenutzer schon einmal gedanklich beschlichen hat: Hier toben kriegerische Auseinandersetzungen, denn es schießen »600ps geschosse« vorbei, und es gibt ein »leichensammeln an leitplanken«. Das Gedicht schließt: »kommt gut heim«. Den Zynismus, den man braucht, um Wahrheiten zu transportieren: Ansull beherrscht ihn oft meisterlich. Und wenn auch hier Anspielungen und »Anzitate« vorkommen, welche die Belesenheit des Autors unter Beweis stellen: In diesem Teil des Buches ist jeder Blitz ein heißer, ein zündender. Dieser Zündstoff kann in seiner Bissigkeit vielleicht träg gewordene Herzen schneller schlagen machen. Das ganze Buch, obwohl es mit »Gedankenspänen« spielt, etwas »Nebensætzliches« behauptet, zeigt, dass unsere Sprache und daraus erzeugte Lyrik lebendig sind und machen.
Oskar Ansull, Nebensætzliches. Gedankenspäne & Wortfindungen, Wehrhahn Verlag, Hannover 2022, 208 S., 20 €.