Kafkas »Schloss« ist in den letzten Jahren mehrfach zum Theaterstück verarbeitet worden. Dieser unvollendete Roman verleitet zum Raunen und Vermuten. »Die acht Oktavhefte«, mit Bleistift beschriebene Notizbücher im Postkartenformat, sind so disparat, dass die Versuchung gering ist, ihren Inhalt auf Flaschen ziehen zu wollen.
Der Abend ist von Anbeginn von Bewegung geprägt. Bühnenarbeitskräfte, die immer wieder ihre Funktion verändern, sind zunächst, wie es scheint, mit dem Aufbau des Bühnenbilds auf fast völlig leerer Bühne beschäftigt. Es zeigt sich aber bald, dass dies nicht ihre einzige Funktion ist; sie singen zeitweise als Chor und sind überhaupt in die »Handlung« eingebunden. Was sie aufbauen, hat nicht immer Bestand. Eine Treppe, die nirgendwohin führt, wächst aus dem Bühnenboden. Türen werden aufgebaut. Sie werden geöffnet, geschlossen. Dahinter stehen immer wieder andere Personen. Teile einer Stadt entstehen.
Trotzdem bildet sich in aller Bewegung eine Struktur; sie stellt den Dichter und sein Werk in Andeutungen dar. Kafka (Lars Rudolph) erscheint als der Einzelgänger, der zudem unter der Lautstärke in seiner Wohnung und im gesamten Hause leidet.
Was sich im weitesten Sinne als Handlung bezeichnen lässt, wird von Musik nicht nur untermalt (Daniele Pintaudi am Klavier), sondern zugleich gegliedert. Wie das Programmheft erkennen lässt, haben sich der Regisseur Thom Luz und der Musikalische Leiter Mathias Weibel viele Gedanken darüber gemacht, welche Musik zu Kafka passt: Kafka schätzte z. B. französische Chansons. Wenn der kleine Chor – eine von vielen Formationen – die Bühne verlässt, die verschiedenen Zugänge zum Parkett öffnet und das Chanson »A battignolles« wie ein Ständchen vorträgt, entsteht im Großen Haus eine intime anrührende Atmosphäre.
Kafka-Kenner werden bemerken, dass Protagonisten aus Erzählungen des Autors, die er später mehr oder weniger stark bearbeitet, in kurzen Sequenzen auftauchen – genannt seien nur »Dr. Bukephalus«, das Pferd Alexanders des Großen, das als Anwalt in eine Sozietät eintritt (»Der neue Advokat«); »Das Schweigen der Sirenen«, die den listenreichen Odysseus täuschen; Poseidon, der mit seiner Aufgabe als Herrscher der Meere hadert; Prometheus, über dessen Schicksal verschiedene Versionen vorgelegt werden; ein unter der Erde lebendes Tier (»Der Bau«); die Faust (als »Stadtwappen«).
Doch genügt es, sich durch das ständige Geschehen auf der Bühne fesseln zu lassen. Die Verlorenheit des Autors und seine Verletzlichkeit werden aus immer neuen Perspektiven dargestellt (nicht nur behauptet).
Kafka, der viel Humor hatte, hätte sich durch diese Aufführung sicher nicht nur verstanden, sondern auch gut unterhalten gefühlt. Dass es zugleich ernst wurde, in der Zeit, als er die »8 Oktavhefte« mit Notizen und Zeichnungen füllte, war ihm sicher bewusst. Er hatte in dieser Zeit den ersten Blutsturz; einige Jahre später ist er seinem Lungenleiden erlegen. Das an Seilen in der Luft hoch über seinem Bett hängende Klavier markiert in dramatischer Weise die Bedrohung.
Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Die Inszenierung wird in der Spielzeit 2023/4 wieder aufgenommen.