Die Gestalt und das Werk Franz Kafkas sind seit seiner »Wiederentdeckung« in den sechziger Jahren auf eine Weise herauf- und herunterinterpretiert, erklärt und hin- und hergewendet worden, dass es eigentlich unmöglich scheint, all dem noch etwas Neues hinzuzufügen. Aber siehe, dem Literaturwissenschaftler Hans-Gerd Koch, seit vielen Jahren für die kritische Kafka-Gesamtausgabe des S. Fischer-Verlages verantwortlich, gelingt ein ebenso bewegender wie tatsächlich neuer Blick auf den Jahrhundert-Autor, indem er uns sein Familienalbum öffnet.
Zu den »kafkaesken« Antinomien im Leben Kafkas gehörte, dass er, der lebenslang und geradezu verzweifelt mit Ehe und familiärer Bindung haderte, dies mitten in einer vielverzweigten Großfamilie tat: Neben drei Schwestern und Schwagern entstammten ihr zehn Onkel und Tanten väter- und mütterlicherseits sowie dutzende Cousins, Cousinen, Neffen, Großneffen, mit einer heute kaum überschaubaren Zahl von Enkeln und Urenkeln. Und »Onkel Franz« nahm – entgegen dem Klischee vom menschenscheuen, einsamen Literatur-Eremiten, und sogar entgegen seinen in Briefen und Tagebüchern überlieferten Antipathien und Frustrationen – durchaus Anteil an diesem Familienleben. Er liebte die Kinder seiner Schwestern, er war freundlicher Familien-Ratgeber und Helfer in der Not, und die regen Besuche der weitläufigen Verwandtschaft in Prag hinterließen (selbstverständlich auf verschlüsselte Weise) ebenso Spuren im literarischen Werk wie die Gegenbesuche bei Onkeln und Schwagern auf dem Land. Die Ehe und der gesellschaftliche Aufstieg der Eltern aus den Familien Löwy und Kafka spiegeln paradigmatisch die scheinbar unumkehrbar gelungene Assimilation des »Westjudentums« in Europa: Mitten im Herzen Prags, am Altstädter Ring florierte bis zum Ersten Weltkrieg das Putzmachergeschäft des Hermann Kafka, kulminierten gutbürgerliche Reputation und Gediegenheit, wuchsen Franz und seine Schwestern Elli, Valli und Ottla umsorgt von Dienstmädchen, Hausmamsell und Köchin auf. Spürbar wird in den Bildern auch die Transformation der Gesellschaft durch den Ersten Weltkrieg: Autoritäre und patriarchale Strukturen beginnen sich aufzulösen, besonders die Kleidung der Frauen wird radikal moderner, befreit sich von all den pittoresken Rüschen, Korsagen und bombastischen Kostümierungen der vergangenen Epoche. Hans-Gerd Koch ist es gelungen, Originalfotografien zu versammeln, die so noch nie miteinander zu sehen waren; seien es die frühen steifen Studioaufnahmen der stolz herausgeputzten Kinder, seien es die durch erste Handkameras möglich gemachten »Schnappschüsse« von Reise- oder Kurgesellschaften der Verwandten oder die (wenigen) ikonischen Kafka-Porträts. Letztere, einige davon beinahe unbekannt, andere oft gesehen und publiziert, entfalten im Kontext der Ausstellung noch einmal eine besondere Aura: Wie überhaupt ein eigentümlich melancholischer Zauber von all diesen winzigen, in Silbergelatine gebannten Physiognomien ausgeht. Kafka selbst mochte es übrigens gar nicht, fotografiert zu werden, und man sucht und findet in seinem Blick etwas von all der Ambivalenz, leisen Ironie und Beklemmung, die sein Leben bestimmte. Die Familie paradiert und posiert hingegen, fein gemacht, lächelnd und sonntäglich geputzt vor der professionellen Fotografenlinse. Aber es finden sich auch zunehmend mit Amateurkameras aufgenommene spontane Szenen aus den zwanziger und dreißiger Jahren.
Niemand kann in diese Ausstellung gehen, ohne auch den doppelten dunklen Schleier zu empfinden, der unsichtbar über allem liegt: Zum einen dieses all zu früh und in großer Qual endende Schriftstellerleben, zum anderen der Zugriff rassistischer Vernichtungsgewalt nach dem Einmarsch Hitlerdeutschlands in die Tschechoslowakei.
Das letzte Porträt des todkranken Kafka aus einem Berliner Fotoautomaten in all seiner erschütternden Authentizität ist nur wenige hundert Meter vom Ausstellungsort gemacht worden; und die Reihe der Bilder seiner drei Geschwister und einiger anderer Verwandter endet unwiderruflich mit ihrer Deportation und Vernichtung.
Ottlas Tochter Věra Saudková überlebte und stellte an ihrem 90. Geburtstag fest: »Adolf Hitler wollte auch die Familie Kafka auslöschen, heute sind wir mehr als je zuvor.«
Das Fotoalbum der Familie Kafka, Staatsbibliothek zu Berlin, Unter den Linden 8, 10117 Berlin.
Freitag, 1. März bis Sonntag, 2. Juni 2024; Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr außer an Feiertagen, Eintritt frei
Das Buch zur Ausstellung: »Kafkas Familie – Ein Fotoalbum«. Zusammengestellt und mit einer Einleitung von Hans-Gerd Koch, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024, 208 S., 38€.