Das Plakat ist unübersehbar. An die fünfzehn Quadratmeter groß hängt die schwarze Grafik auf weißem Grund zwischen den monumentalen Säulen der Eingangsfront vom Staatlichen Museum für Kunst in der dänischen Hauptstadt. Ein junger Mann hat den rechten Arm mit der Hand zum Schwur hochgereckt, das Gesicht von Zorn – und auch von Angst? – gezeichnet, der Mund geöffnet. Was er hinausruft, und was alle Welt hören soll, wird dem Betrachter in schwungvoller Schrift entgegengeschleudert: »Nie wieder Krieg!« Das Plakat ist eines der berühmten Werke von Käthe Kollwitz und soll für die erste umfangreiche Einzelausstellung in Dänemark werben, die der deutschen Künstlerin gewidmet ist. Zugleich will das Museum damit ein deutliches Statement abgeben, wie Birgitte Anderberg, die Kuratorin, ohne Umschweife bekennt: »Es ist ein ikonisches Werk, das viele Menschen kennen, ohne unbedingt zu wissen, wer es geschaffen hat. Und es ist überaus aktuell, so dass es für uns naheliegend war, die Fassade zu nutzen, um eine pazifistische Botschaft auszusenden.«
Manch deutscher Besucher mag sich unwillkürlich fragen, ob ein staatliches Museum daheim in der Bundesrepublik für so ein starkes öffentliches Signal auch den Mumm hätte. Und wenn ja, was für ein moralisierendes Lamento aus etablierter Politik und Medien danach einsetzen würde. Die nächste Überraschung erfolgt gleich zu Beginn des Rundgangs durch die Ausstellungsräume – es ist voll, die Leute drängen sich geradezu. Und es sind vor allem auffallend junge Besucherinnen und Besucher. Birgitte Anderberg: »Die große Resonanz auf die Ausstellung freut uns sehr. Ja, das Publikum bei uns im Statens Museum for Kunst ist im Vergleich zu anderen Museen recht jung – fast 40 Prozent unserer Besucher sind unter 30 Jahre alt. Das gilt auch für diese Ausstellung.«
Die Besucher erhalten einen fulminanten Überblick des Schaffens der großen deutschen Künstlerin, die von 1867 bis 1945 lebte – mehr als 130 Werke sind ausgestellt: Zeichnungen, Grafiken, Plastiken. Fotografien und Dokumente aus dem Deutschland vom Ende des 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veranschaulichen zudem die brutalen Widersprüche der Gesellschaft, mit der sich Käthe Kollwitz in ihrem Schaffen auseinandersetzte. Mit ihrem grafischen Zyklus »Ein Weberaufstand« illustrierte sie schonungslos das Elend der Arbeiter. Es ist eindrucksvolle Kunst, die nichts von ihrer Wirkung verloren hat. Die zeigt, was die Ursachen von Rebellion gegen herrschende, auf pure Ausbeutung gegründete Machtverhältnisse sind. »Bauernkrieg« – auch dieser großen deutschen Revolte widmete Käthe Kollwitz einen Zyklus, geschaffen 1902 bis 1908. Ein Blatt wie »Die Pflüger« erschüttert immer noch. Ebenso wie »Der Losbruch« – ein Bild, auf dem die mit Sensen, Hacken und dem Mut der Verzweiflung bewaffneten Bauern sich zur Wehr setzen. Angetrieben von einer Frau (!) mit emporgerissenen Armen. Schon die Zeitgenossen von Käthe Kollwitz waren begeistert – die Künstlerin erhielt für »Bauernkrieg« den ersten bedeutenden deutschen Kunstpreis. Es sind Bilder, die mehr als nur einen Blick zurück in die Geschichte bieten. Denn die Lebensumstände von Näherinnen in Bangladesch oder von Grubenarbeitern in den Seltene-Erden-Tagebauen Zentralafrikas dürften sich von denen der sich schindenden Weber und der leibeigenen Bauern damals in Deutschland nicht sehr unterscheiden.
Und immer wieder das Thema Krieg. Es zieht sich wie ein blutig-roter Faden durch das Werk von Käthe Kollwitz und die Kopenhagener Ausstellung. Geschuldet auch dem frühen Tod des Sohnes Peter, ihres »geliebten, geliebten Jungen«. Er zog 1914 als Freiwilliger in den ersten Weltkrieg und war einer der ersten, die auf dem Schlachtfeld getötet wurden. In ihrem Tagebuch notierte seine Mutter 1916: »Gibt es noch irgendetwas, was das rechtfertigt? Der schreckliche Krieg – dass die europäische Jungend gegeneinander rast.« Diese Sätze werden auch in einer filmischen Dokumentation zitiert, den die Ausstellung ebenfalls präsentiert. Unter dem Titel »Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden«, wurde sie 1967 in der DDR anlässlich des 100. Geburtstages von Käthe Kollwitz produziert und nun vom DEFA-Filmverleih der Deutschen Kinemathek zur Verfügung gestellt. In der ausgehängten Texttafel zum Film informiert das Kopenhagener Kunstmuseum korrekt, dass der Film in der »German Democratic Republic (GDR)« entstand und verweist nicht etwa verklemmt auf »Ostdeutschland« als Hersteller.
Kuratorin Anderberg ist voll des Lobes: »Es ist ein wunderschöner Film. Die Schwarz-Weiß-Montage wechselt zwischen historischen Aufnahmen, öffentlichen Denkmälern und verlorenen Kunstwerken und zeigt viele der Werke, die wir tatsächlich ausstellen. Das Heranzoomen an Details, unterstreicht, was man beachten sollte, wenn man ihre Kunst betrachtet, ohne dabei didaktisch zu sein.« (Die Dokumentation ist zu finden unter: https://www.filmportal.de)
Zumindest das dänische Kunstmuseum scheint einen entspannten Umgang mit dem anderen deutschen Staat und seinen Leistungen zu pflegen. Noch einmal Birgitte Anderberg: »Die Tatsache, dass der Film in der DDR produziert wurde, erinnert uns an vergangene ideologische Kämpfe bei uns, mitten in Europa. Aber auch daran, dass es einige grundlegende humanistische Auffassungen gibt, auf die man sich immer einigen konnte – und kann.«
»Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden« – so hat Käthe Kollwitz 1941 auch eine ihrer berühmten Grafiken genannt. Schon wieder wurde nicht nur Europa, sondern die halbe Welt von einem Krieg verwüstet. Und noch einmal traf es Käthe Kollwitz ins Herz. Diesmal war es ihr Enkel – ebenfalls mit Namen Peter –, der als Soldat getötet wurde. Wann endlich würde dieses Morden aufhören? Die Künstlerin hält in ihrem Tagebuch fest: »Ich beschließe noch einmal – zum dritten Mal – dasselbe Thema aufzunehmen. Diesmal gucken die Saatfrüchte der Mutter überall aus dem Mantel raus und wollen ausbrechen. Aber die alte, zusammenhaltende Mutter sagt: Nein, ihr bleibt hier! Einstweilen dürft ihr Euch raufen. Aber wenn ihr groß sein werdet, habt ihr euch auf das Leben einzustellen. Und nicht wieder auf den Krieg. Das ist nun einmal mein Testament: ›Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.‹«
Käthe Kollwitz wurde nie müde, mit ihren Bildern zur Menschlichkeit aufzurufen. Ein Mensch zu sein, selbst in finstersten Zeiten. So verwundert es nicht, dass die dänischen Ausstellungsmacher ihrer Exposition den Titel »Mensch« gaben. Obwohl ein deutsches Wort, würde es in Dänemark sehr gut verstanden werden. Vor allem aber charakterisiere es treffend das Schaffen der Künstlerin, die ja schließlich auch aus Deutschland komme.
Die gesamte Ausstellung im Staatlichen Museum für Kunst Kopenhagen ist eine überzeugende Begegnung mit einer der wichtigsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Das belegt nicht nur die Besucher-Resonanz. Auch die dänische Presse ist voll des Lobes. Es sei »die absolut beste Kunstausstellung des Jahres« heißt es da. Genauso überzeugend wie die gesamte Schau ist der Katalog. Eine seiner Stärken ist die mutige Vergrößerung von Grafiken. Sie ziehen den Betrachter nah und näher heran an die Strichführung einzelner Blätter, so dass man ahnt, mit welcher Wucht und zugleich mit welcher Zartheit Käthe Kollwitz die Figuren ihrer Bilder schuf.
Ein Nachsatz: Im Jahr 1993 wurde auf Initiative des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl in der Berliner »Neuen Wache«, der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik, die vergrößerte Kopie einer Plastik von Käthe Kollwitz aufgestellt. Es handelt sich um die »Pietà«, auch bekannt als »Mutter mit totem Sohn« von 1937. Gewidmet ist die Skulptur im Zentrum der Bundeshauptstadt jetzt »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft«. Schade, dass man die Künstlerin nicht mehr fragen konnte, ob sie dieser nivellierenden Widmung ihre Zustimmung erteilt hätte. Wer ihr Werk und dessen Adressaten kennt, wird das bezweifeln. »Cancel-Culture« diesmal als eine politische Vereinnahmung?
Die Ausstellung »Mensch« mit Werken von Käthe Kollwitz wird präsentiert vom Statens Museum for Kunst Kopenhagen. Geöffnet bis 23. Februar 2025 (https://www.smk.dk).