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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Käthe Kollwitz in Kopenhagen

Das Pla­kat ist unüber­seh­bar. An die fünf­zehn Qua­drat­me­ter groß hängt die schwar­ze Gra­fik auf wei­ßem Grund zwi­schen den monu­men­ta­len Säu­len der Ein­gangs­front vom Staat­li­chen Muse­um für Kunst in der däni­schen Haupt­stadt. Ein jun­ger Mann hat den rech­ten Arm mit der Hand zum Schwur hoch­ge­reckt, das Gesicht von Zorn – und auch von Angst? – gezeich­net, der Mund geöff­net. Was er hin­aus­ruft, und was alle Welt hören soll, wird dem Betrach­ter in schwung­vol­ler Schrift ent­ge­gen­ge­schleu­dert: »Nie wie­der Krieg!« Das Pla­kat ist eines der berühm­ten Wer­ke von Käthe Koll­witz und soll für die erste umfang­rei­che Ein­zel­aus­stel­lung in Däne­mark wer­ben, die der deut­schen Künst­le­rin gewid­met ist. Zugleich will das Muse­um damit ein deut­li­ches State­ment abge­ben, wie Bir­git­te Ander­berg, die Kura­to­rin, ohne Umschwei­fe bekennt: »Es ist ein iko­ni­sches Werk, das vie­le Men­schen ken­nen, ohne unbe­dingt zu wis­sen, wer es geschaf­fen hat. Und es ist über­aus aktu­ell, so dass es für uns nahe­lie­gend war, die Fas­sa­de zu nut­zen, um eine pazi­fi­sti­sche Bot­schaft auszusenden.«

Manch deut­scher Besu­cher mag sich unwill­kür­lich fra­gen, ob ein staat­li­ches Muse­um daheim in der Bun­des­re­pu­blik für so ein star­kes öffent­li­ches Signal auch den Mumm hät­te. Und wenn ja, was für ein mora­li­sie­ren­des Lamen­to aus eta­blier­ter Poli­tik und Medi­en danach ein­set­zen wür­de. Die näch­ste Über­ra­schung erfolgt gleich zu Beginn des Rund­gangs durch die Aus­stel­lungs­räu­me – es ist voll, die Leu­te drän­gen sich gera­de­zu. Und es sind vor allem auf­fal­lend jun­ge Besu­che­rin­nen und Besu­cher. Bir­git­te Ander­berg: »Die gro­ße Reso­nanz auf die Aus­stel­lung freut uns sehr. Ja, das Publi­kum bei uns im Sta­tens Muse­um for Kunst ist im Ver­gleich zu ande­ren Muse­en recht jung – fast 40 Pro­zent unse­rer Besu­cher sind unter 30 Jah­re alt. Das gilt auch für die­se Ausstellung.«

Die Besu­cher erhal­ten einen ful­mi­nan­ten Über­blick des Schaf­fens der gro­ßen deut­schen Künst­le­rin, die von 1867 bis 1945 leb­te – mehr als 130 Wer­ke sind aus­ge­stellt: Zeich­nun­gen, Gra­fi­ken, Pla­sti­ken. Foto­gra­fien und Doku­men­te aus dem Deutsch­land vom Ende des 19. bis zur ersten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ver­an­schau­li­chen zudem die bru­ta­len Wider­sprü­che der Gesell­schaft, mit der sich Käthe Koll­witz in ihrem Schaf­fen aus­ein­an­der­setz­te. Mit ihrem gra­fi­schen Zyklus »Ein Weber­auf­stand« illu­strier­te sie scho­nungs­los das Elend der Arbei­ter. Es ist ein­drucks­vol­le Kunst, die nichts von ihrer Wir­kung ver­lo­ren hat. Die zeigt, was die Ursa­chen von Rebel­li­on gegen herr­schen­de, auf pure Aus­beu­tung gegrün­de­te Macht­ver­hält­nis­se sind. »Bau­ern­krieg« – auch die­ser gro­ßen deut­schen Revol­te wid­me­te Käthe Koll­witz einen Zyklus, geschaf­fen 1902 bis 1908. Ein Blatt wie »Die Pflü­ger« erschüt­tert immer noch. Eben­so wie »Der Los­bruch« – ein Bild, auf dem die mit Sen­sen, Hacken und dem Mut der Ver­zweif­lung bewaff­ne­ten Bau­ern sich zur Wehr set­zen. Ange­trie­ben von einer Frau (!) mit empor­ge­ris­se­nen Armen. Schon die Zeit­ge­nos­sen von Käthe Koll­witz waren begei­stert – die Künst­le­rin erhielt für »Bau­ern­krieg« den ersten bedeu­ten­den deut­schen Kunst­preis. Es sind Bil­der, die mehr als nur einen Blick zurück in die Geschich­te bie­ten. Denn die Lebens­um­stän­de von Nähe­rin­nen in Ban­gla­desch oder von Gru­ben­ar­bei­tern in den Sel­te­ne-Erden-Tage­bau­en Zen­tral­afri­kas dürf­ten sich von denen der sich schin­den­den Weber und der leib­ei­ge­nen Bau­ern damals in Deutsch­land nicht sehr unterscheiden.

Und immer wie­der das The­ma Krieg. Es zieht sich wie ein blu­tig-roter Faden durch das Werk von Käthe Koll­witz und die Kopen­ha­ge­ner Aus­stel­lung. Geschul­det auch dem frü­hen Tod des Soh­nes Peter, ihres »gelieb­ten, gelieb­ten Jun­gen«. Er zog 1914 als Frei­wil­li­ger in den ersten Welt­krieg und war einer der ersten, die auf dem Schlacht­feld getö­tet wur­den. In ihrem Tage­buch notier­te sei­ne Mut­ter 1916: »Gibt es noch irgend­et­was, was das recht­fer­tigt? Der schreck­li­che Krieg – dass die euro­päi­sche Jun­gend gegen­ein­an­der rast.« Die­se Sät­ze wer­den auch in einer fil­mi­schen Doku­men­ta­ti­on zitiert, den die Aus­stel­lung eben­falls prä­sen­tiert. Unter dem Titel »Saat­früch­te sol­len nicht ver­mah­len wer­den«, wur­de sie 1967 in der DDR anläss­lich des 100. Geburts­ta­ges von Käthe Koll­witz pro­du­ziert und nun vom DEFA-Film­ver­leih der Deut­schen Kine­ma­thek zur Ver­fü­gung gestellt. In der aus­ge­häng­ten Text­ta­fel zum Film infor­miert das Kopen­ha­ge­ner Kunst­mu­se­um kor­rekt, dass der Film in der »Ger­man Demo­cra­tic Repu­blic (GDR)« ent­stand und ver­weist nicht etwa ver­klemmt auf »Ost­deutsch­land« als Hersteller.

Kura­to­rin Ander­berg ist voll des Lobes: »Es ist ein wun­der­schö­ner Film. Die Schwarz-Weiß-Mon­ta­ge wech­selt zwi­schen histo­ri­schen Auf­nah­men, öffent­li­chen Denk­mä­lern und ver­lo­re­nen Kunst­wer­ken und zeigt vie­le der Wer­ke, die wir tat­säch­lich aus­stel­len. Das Her­an­zoo­men an Details, unter­streicht, was man beach­ten soll­te, wenn man ihre Kunst betrach­tet, ohne dabei didak­tisch zu sein.« (Die Doku­men­ta­ti­on ist zu fin­den unter: https://www.filmportal.de)

Zumin­dest das däni­sche Kunst­mu­se­um scheint einen ent­spann­ten Umgang mit dem ande­ren deut­schen Staat und sei­nen Lei­stun­gen zu pfle­gen. Noch ein­mal Bir­git­te Ander­berg: »Die Tat­sa­che, dass der Film in der DDR pro­du­ziert wur­de, erin­nert uns an ver­gan­ge­ne ideo­lo­gi­sche Kämp­fe bei uns, mit­ten in Euro­pa. Aber auch dar­an, dass es eini­ge grund­le­gen­de huma­ni­sti­sche Auf­fas­sun­gen gibt, auf die man sich immer eini­gen konn­te – und kann.«

»Saat­früch­te sol­len nicht ver­mah­len wer­den« – so hat Käthe Koll­witz 1941 auch eine ihrer berühm­ten Gra­fi­ken genannt. Schon wie­der wur­de nicht nur Euro­pa, son­dern die hal­be Welt von einem Krieg ver­wü­stet. Und noch ein­mal traf es Käthe Koll­witz ins Herz. Dies­mal war es ihr Enkel – eben­falls mit Namen Peter –, der als Sol­dat getö­tet wur­de. Wann end­lich wür­de die­ses Mor­den auf­hö­ren? Die Künst­le­rin hält in ihrem Tage­buch fest: »Ich beschlie­ße noch ein­mal – zum drit­ten Mal – das­sel­be The­ma auf­zu­neh­men. Dies­mal gucken die Saat­früch­te der Mut­ter über­all aus dem Man­tel raus und wol­len aus­bre­chen. Aber die alte, zusam­men­hal­ten­de Mut­ter sagt: Nein, ihr bleibt hier! Einst­wei­len dürft ihr Euch rau­fen. Aber wenn ihr groß sein wer­det, habt ihr euch auf das Leben ein­zu­stel­len. Und nicht wie­der auf den Krieg. Das ist nun ein­mal mein Testa­ment: ›Saat­früch­te sol­len nicht ver­mah­len werden.‹«

Käthe Koll­witz wur­de nie müde, mit ihren Bil­dern zur Mensch­lich­keit auf­zu­ru­fen. Ein Mensch zu sein, selbst in fin­ster­sten Zei­ten. So ver­wun­dert es nicht, dass die däni­schen Aus­stel­lungs­ma­cher ihrer Expo­si­ti­on den Titel »Mensch« gaben. Obwohl ein deut­sches Wort, wür­de es in Däne­mark sehr gut ver­stan­den wer­den. Vor allem aber cha­rak­te­ri­sie­re es tref­fend das Schaf­fen der Künst­le­rin, die ja schließ­lich auch aus Deutsch­land komme.

Die gesam­te Aus­stel­lung im Staat­li­chen Muse­um für Kunst Kopen­ha­gen ist eine über­zeu­gen­de Begeg­nung mit einer der wich­tig­sten Künst­le­rin­nen des 20. Jahr­hun­derts. Das belegt nicht nur die Besu­cher-Reso­nanz. Auch die däni­sche Pres­se ist voll des Lobes. Es sei »die abso­lut beste Kunst­aus­stel­lung des Jah­res« heißt es da. Genau­so über­zeu­gend wie die gesam­te Schau ist der Kata­log. Eine sei­ner Stär­ken ist die muti­ge Ver­grö­ße­rung von Gra­fi­ken. Sie zie­hen den Betrach­ter nah und näher her­an an die Strich­füh­rung ein­zel­ner Blät­ter, so dass man ahnt, mit wel­cher Wucht und zugleich mit wel­cher Zart­heit Käthe Koll­witz die Figu­ren ihrer Bil­der schuf.

Ein Nach­satz: Im Jahr 1993 wur­de auf Initia­ti­ve des dama­li­gen Bun­des­kanz­lers Hel­mut Kohl in der Ber­li­ner »Neu­en Wache«, der Zen­tra­len Gedenk­stät­te der Bun­des­re­pu­blik, die ver­grö­ßer­te Kopie einer Pla­stik von Käthe Koll­witz auf­ge­stellt. Es han­delt sich um die »Pie­tà«, auch bekannt als »Mut­ter mit totem Sohn« von 1937. Gewid­met ist die Skulp­tur im Zen­trum der Bun­des­haupt­stadt jetzt »Den Opfern von Krieg und Gewalt­herr­schaft«. Scha­de, dass man die Künst­le­rin nicht mehr fra­gen konn­te, ob sie die­ser nivel­lie­ren­den Wid­mung ihre Zustim­mung erteilt hät­te. Wer ihr Werk und des­sen Adres­sa­ten kennt, wird das bezwei­feln. »Can­cel-Cul­tu­re« dies­mal als eine poli­ti­sche Vereinnahmung?

Die Aus­stel­lung »Mensch« mit Wer­ken von Käthe Koll­witz wird prä­sen­tiert vom Sta­tens Muse­um for Kunst Kopen­ha­gen. Geöff­net bis 23. Febru­ar 2025 (https://www.smk.dk).