Wie rechts ist die deutsche Jugend? Wer das wissen will, muss sich zunächst seines eigenen Koordinatensystems vergewissern. Denn für Jung und Alt ist da seit einiger Zeit einiges ganz schön unübersichtlich geworden. Was bedeutet es z. B. für sich als links verstehende Menschen, wenn sie hören, dass ein renommierter marxistischer Gelehrter inzwischen von sich sagt: »Ich bin nicht links, ich bin Kommunist«. In der Wochenzeitung Freitag vom 4. März 2022 schreibt der Politikwissenschaftler Georg Fülberth kurz nach dem Beginn des Ukraine-Krieges Ende Februar 2022: »Am 25. Februar fand eine Sondersitzung des Bundestags statt. Die Linkspartei lehnte Waffenexporte in die Ukraine und die Erhöhung der Rüstungsausgaben ab, nicht aber Sanktionen. Amira Mohamed Ali, die Co-Vorsitzende der Linksfraktion, machte Vorschläge für deren Feinjustierung. Die jahrzehntelange Nato-Osterweiterung kritisierte sie nicht. Dies überließ sie der AfD-Abgeordneten Alice Weidel und auch anderen Rednern von deren Fraktion, die in diesem Punkt (…) die Oppositionsführung übernahm, anstelle der Linkspartei.«
Fangen wir also mit der Ordnung unserer Begriffe an – im Sinne des italienischen Rechtsphilosophen Noberto Bobbio.: Was ist links? »Links« soll sein der Einsatz für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, für Demokratisierung und für Abrüstung sowie friedliche Koexistenz im Geiste internationaler Solidarität. Was ist rechts? »Rechts« soll sein der Einsatz oder die Akzeptanz für soziale Ungleichheit, für autoritäre Bevormundung der Mehrheit der Bevölkerung und für militärische Aufrüstung sowie national-egoistische Herrschafts- und Machtpolitik im Geiste internationaler Konkurrenz und Kampf gegen andere Staaten. Was davon zeichnet die Ampel-Regierung aus und was die Oppositionsparteien? Wie viel davon wird von wissenschaftlichen Studien erfragt und von einflussreichen Medien berichtet?
Sprechen wir zunächst über die Thematisierung der Studie »Jugend in Deutschland 2024« (Schnetzer/Hurrelmann/Hampel 2024) in verschiedenen Leitmedien. Für die repräsentative Studie wurden im Januar und Februar 2024 etwa 2000 junge Leute von 14 bis 29 Jahren befragt. Sie gaben Antworten zu ihrer Parteipräferenz, zur Zufriedenheit mit ihrer persönlichen Lage (Finanzen, Gesundheit, berufliche Chancen) und zu ihrer Beurteilung der gesellschaftlichen Lage (Wirtschaft, Zusammenhalt, politische Verhältnisse, Lebensqualität in Deutschland). Im Vergleich zu den Befragungen der Vorjahre, so die Feststellung, ist die junge Generation unzufriedener geworden, besonders hinsichtlich ihrer gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lage. In der Tagesschau vom 23. April 2024 wurden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst: »Die großen Sorgen der jungen Menschen in Deutschland aufgrund von Inflation (65 Prozent), teurem Wohnraum (54 Prozent) und Altersarmut (48 Prozent), aber auch die Spaltung der Gesellschaft (49 Prozent) oder die Zunahme von Flüchtlingsströmen (41 Prozent) führen zu hoher Unzufriedenheit der jungen Generation mit ihrer Lebenssituation und den politischen Verhältnissen.« Interessanterweise lässt der Autor des Beitrags verschiedene wichtige Sorgenverursacher außen vor, genauso wie deren Entwicklung in den letzten zwei Jahren: Da wären vor allem der »Krieg in Europa und in Nahost« mit immerhin 60 Prozent (2022: 68; 2023: 59), der Klimawandel mit 49 Prozent (2022: 55, 2023: 52), die Sorgen hinsichtlich der »Wirtschaftskrise« mit 48 Prozent (2022: 39; 2023: 45) oder auch das »Erstarken rechtsextremer Parteien« mit 44 Prozent der Befragten (2022: 35; 2023: 32). Schaut man diese Angaben unbefangen an, so kann man unmöglich zum Ergebnis kommen, dass »die Jugend« rechts eingestellt ist. Sichtbar wird jedoch eine Spaltung der jungen Generation.
Weiter mit dem Tagesschaubericht: »Im Vergleich zu den früheren Studien scheint die Stimmung derzeit zu kippen. Das zeigt sich an einem hohen Ausmaß von psychischen Belastungen wie Stress, den 51 Prozent der Befragten angeben. Ähnlich zur Erschöpfung (36 Prozent) und der Hilflosigkeit (17 Prozent), die in den vergangenen drei Jahren trotz des Abflauens der Corona-Pandemie weiter angestiegen sind. Es geben elf Prozent der Befragten an, aktuell wegen psychischer Störungen in Behandlung zu sein.« Dies wird noch deutlicher, zieht man die beiden Vorjahreswerte hinzu: Demnach haben sich von 2022 über 2023 bis 2024 Stress (45, 46, 51 Prozent), Erschöpfung (32, 35, 36 Prozent), Gereiztheit (22, 24, 25 Prozent), Hilflosigkeit (13, 14, 17 Prozent) oder Suizidgedanken (7, 6, 8 Prozent) deutlich erhöht. .
Öffentliches Interesse fand aber in allen »Leitmedien« an erster Stelle die von der Jugendstudie behauptete Parteienpräferenz. Beispiel Tagesschau: »Die AfD stehe laut ihrer Befragung mit 22 Prozent aktuell an der Spitze der Wählergunst bei den unter 30-Jährigen (2022: 9 Prozent). AfD und CDU/CSU hätten stark in der Gunst zugelegt, die Regierungsparteien enorm verloren. Demnach würden sich 20 Prozent für die CDU entscheiden (2022: 16 Prozent). Alle weiteren Parteien verlieren bei der jungen Generation Stimmen: Die Grünen liegen in der Gunst der jungen Wähler zurzeit bei 18 Prozent (2022: 27 Prozent), die SPD bei 12 Prozent (2022: 14 Prozent), die FDP bei acht Prozent (2022: 19 Prozent). Ein Viertel bezeichnete sich als unentschlossen.«
Doch trotz der sinkenden Ampel-Werte und steigender Unions- und AFD-Wahlabsichten kann »die Jugend« kaum als »rechts« gekennzeichnet werden, wie dies in vielen Beiträgen nach Veröffentlichung der Studie geschehen ist. Denn was ist »rechts«, was ist »links«? In Verbindung mit den ermittelten Sorgen vieler junger Menschen, ist z. B. die gesunkene Zustimmung zur Ampel keineswegs »rechts«. Genauso wenig lässt sich ein »Rechtsruck« mit der 5-Prozent-Zustimmung zum Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) oder den steigenden Zahlen bei den Unentschlossenen belegen.
Dass die vorherrschende veröffentlichte Meinung in Politik, Medien und Wissenschaft auch nach der Europawahl auf die Dramatisierung einer angeblichen Rechtsentwicklung unter jungen Menschen zielt, zeigen die nackten Zahlen: Die AFD wurde von der gesamten Wahlbevölkerung zu 16 Prozent gewählt und bei den unter 25Jährigen erhielt sie ebenfalls 16 Prozent. Das bedeutet zwar für die unter 25Jährigen eine Verdreifachung der AFD-Prozente im Verhältnis zur letzten EU-Wahl (und eine Verdrittelung der Grünen-Prozente), jedoch keinen wesentlichen »Ausreißer« im Verhältnis zu den älteren Altersgruppen. Im Gegenteil. Denn während der Bayerische Rundfunk am 11. Juni 2024 titelte »Europawahl 2024: Arbeiterpartei AfD – die Jugend wählt rechts«, konnten die verlinkten Studienergebnisse von Infratest Dimap auf der gleichen Homepage die Behauptung über »die Jugend« deutlich entkräften. Zwar erhielt die AFD bei den Arbeitern tatsächlich von allen Parteien die höchsten Werte (33 Prozent), konnte das aber für die Jungwähler keineswegs von sich sagen. Bei den 16- bis 24-jährigen Wählern schnitten die Union mit 17 Prozent, die AFD mit 16 Prozent, die Grünen mit 11 Prozent, die SPD mit 9 Prozent, die FDP mit 7 Prozent, die LINKE mit 6 Prozent und das BSW mit 6 Prozent ab. Zugleich wählten etwa 28 Prozent der jungen Wähler nicht-etablierte Parteien, wie DIE PARTEI, VOLT, Tierschutzpartei usw. 84 Prozent der Jungwähler/innen gaben ihre Stimme also nicht der AFD. Eine Überschrift wie »die Jugend wählt rechts« ist somit falsch.
Aufgeteilt auf alle Altersgruppen ermittelte Infratest Dimap für die Gesamtwählerschaft: 16 Prozent für die AFD (wie gesagt) bei den 16- bis 24Jährigen, 18 Prozent bei den 25- bis 34Jährigen, 20 Prozent bei den 35- bis 44Jährigen. Bei den 45- bis 59Jährigen wieder 18 Prozent, bei den 60- bis 69Jährigen 15 Prozent und bei den über 70Jährigen nur 8 Prozent. Wenn also eine Altersgruppe als besonders AFD-affin beschrieben werden könnte, so wären dies die 35- bis 44Jährigen. »Die« Jugend unter 25 lässt sich demgegenüber eher als »durchschnittlich« beschreiben.
Dennoch spricht fast der gesamte liberale Medien-Mainstream von ARD, ZDF, SWR, Süddeutsche, Stern, Deutschlandfunk, Bayerischer Rundfunk usw. seit der Jugendstudie von Schnetzer/Hurrelmann/Hampel und nach den EU-Wahlen vom »Rechtsruck« der Jugend. Nur die FAZ vom 20. Juni 2024 kam nach einer weiteren Jugend-Befragung durch das Allensbach-Institut zu einer konträren Ansicht: »17 Prozent der Deutschen unter 30 finden die AfD am sympathischsten. Insgesamt ist die Jugend aber eher links als rechts, wie eine Allensbach-Umfrage für die FAZ zeigt. In den vergangenen Monaten gab es wiederholt aufgeregte öffentliche Diskussionen über die politische Orientierung der jungen Generation. Vor wenigen Jahren sei sie noch überwiegend links gewesen, habe sich vor allem für Umwelt- und Klimaschutz interessiert, nun sei sie nach rechts gerückt, sei frustriert und perspektivlos und habe sich unter dem Einfluss der sozialen Medien der AfD zugewandt.« Doch, so der FAZ-Autor Thomas Petersen: »Wer jung ist, steht eher links der Mitte.«
Doch ist damit die Frage geklärt, was links ist und was rechts?
Was der Medien-Mainstream in den letzten Jahren jungen Menschen für ihre politische Sozialisation so anzubieten hatte, geht auf keine Kuh-Haut: Wer Corona-Narrative und -Maßnahmen kritisierte, war »AFD-nah« und »rechts«, wer sich nicht impfen lassen wollte, war »Nazi«, »Impf-Terrorist« und »Sozialschädling« (vgl. Freitag v. 27. Juni 2024); wer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine argumentiert, ist wie die AFD, also »rechts«; wer die Kriegsverbrechen in Gaza ablehnt, ist bestimmt »rechts« (aber nicht wie die AFD, die das in Ordnung findet; geht ja gegen Muslime); wer nicht sternchen-gendert, spricht wie die AFD; wer sich die Klimapolitik der Bundesregierung (Wärmepumpen, Fracking-Gas, Verbrenner-Ausstieg, E-Autos) nicht leisten kann oder will, ist ein »Klima-Leugner«, also ebenfalls rechts und mit der AFD. Bei der Anzahl der hierbei Diffamierten ist es fast ein Wunder, dass nicht noch viel mehr junge wie alte Menschen zur AFD-Wahl getrieben wurden.
Ein politischer, wissenschaftlicher und medialer Mainstream fordert verlogen »Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus«. Alle völkerrechtswidrigen Angriffskriege durch Nato-Staaten in den letzten drei Jahrzehnten blendet der Mainstream aus. Die eigene Komplizenschaft beim saudischen Krieg im Jemen, das eigene Schweigen zum aserbaidschanischen Angriff auf Armenien sowie zu den türkischen oder israelischen Aggressionen gegen Irak oder Syrien interessieren seit einigen Jahren genauso wenig. Der einzige völkerrechtswidrige Angriffskrieg ist offenbar der Krieg Russlands in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 – ohne Berücksichtigung der Vorgeschichte, versteht sich: Nato-Expansionismus seit Jahrzehnten, Regime-Change vor über 10 Jahren mit Nationalisten und Neo-Faschisten, Bombardement der ostukrainischen Zivilbevölkerung mit schwerer Artillerie durch von Nato-Staaten bewaffnete Kiewer-Militärs und rechtsextreme Paramilitärs seit 2014? Hat es alles nicht gegeben; alles nur Kreml-Propaganda. Also »rechts«.
Abgesehen von Marie-Agnes Strack-Zimmermann, der »Eurofighterin«, der fanatischen Russen-Hasserin und Rüstungs-Lobbyistin der FDP, dem, so die Heute Show, selbst-ernannten »Ich-bin-gut-für-den-Volkssturm«-Mitglied plakatierten im EU-Wahlkampf die GRÜNEN für »Antifaschismus« und die SPD für »FRIEDEN«. Für alle drei Ampel-Parteien, für die CDU/CSU sowie für die AFD steht fest, dass Militarisierung, Aufrüstung und die »Kriegstüchtigkeit« Deutschlands vorangetrieben werden sollen. Eine eindrucksvolle, aber nicht so benannte »Querfront« zwischen »rechts« und »links«, die sich hinsichtlich der Komplizenschaft bei der genozidalen »Selbstverteidigung« der siebtstärksten Atom-Macht der Welt im Gaza-Streifen noch einmal unterstreichen lässt. Es muss nicht erwähnt werden, dass der politische, mediale und wissenschaftliche Mainstream daran keinerlei Anstoß nimmt. Das macht er mit Regelmäßigkeit nur dann, wenn zum Beispiel linke Politiker gegen Waffenlieferungen in die Ukraine und für Diplomatie plädieren und AFD-Politiker dem zustimmen. Erst dann handelt es sich natürlich um eine zu verteufelnde »Querfront«. Ähnliches konnte auch im Zusammenhang mit der Kritik der Corona-Maßnahmen festgestellt werden. Wer für Schul-Öffnungen oder gegen die Impfpflicht war, wollte bestimmt »über Leichen gehen« und war ein »Corona-Leugner«, »Covidiot« oder gleich »Nazi«, also rechts. Für einen jungen Menschen, der unter diesen politischen und medialen Bedingungen aufgewachsen ist, dürfte es einigermaßen schwer sein, sich im »Rechts-Links«-Koordinaten-System zurechtzufinden.
In der Zwischenzeit wurde ein »Geheimplan gegen Deutschland« entdeckt. Das von der Bundesregierung geförderte Recherche-Portal Correctiv ermittelte im November 2023 »Deportationspläne« und eine Art »Wannsee-Konferenz 2.0«. Im Januar 2024 wurde die Öffentlichkeit über das rechte Treffen in der Potsdamer Villa Adlon und über die dort diskutierten »geheimen« Pläne zur »Remigration« von Asylsuchenden oder Ausländern mit Bleiberecht sowie bestimmten Deutschen mit Migrationshintergrund informiert – und demonstriert seither auch brav dagegen, also »gegen rechts« und »für die Demokratie«. Wenn es etwas gibt, was deutsche Rechte seit über 100 Jahren fortwährend fordern, so ist dies die Aussiedlung, Ausweisung, Abschiebung von (wahlweise und je nach Verständnis) manchen bis allen »Nicht-Deutschen«. Die auch von der Sylter Bourgeoisie-Jugend gesungene »Ausländer-raus«-Parole ist demnach kein »Geheimnis« des deutschen Rechtsextremismus. Umso besser, wenn sich Menschen gemeinsam dagegenstellen. Warum aber Demonstranten – wie in Potsdam – akzeptieren, dass an ihrer Seite Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock stehen, erschließt sich nicht. Immerhin hatte Scholz gerade beschlossen, »im großen Maße abzuschieben« (also »Remigration« zu betreiben). Und Annalena Baerbock hatte schon im Juni 2023 dem so genannten »Asylkompromiss« der EU zugestimmt, also Grenzverfahren mit Haftlagern an der EU-Außengrenze, von denen auch Kinder nicht generell ausgenommen sein sollen. Dabei hätten die deutschen Grünen den Beschluss verhindern können.
Es gibt zahllose weitere Beispiel für rechte Politik unter linker Flagge. Die Regierung hat die Unterversorgung des Bildungswesens, der Flüchtlingsbetreuung, des Bürgergeldes oder der Kindergrundsicherung zu verantworten, aber bläht den Rüstungsetat, das Militär, die Waffenexporte immer weiter auf – inklusive der damit verbundenen Eskalationsgefahren.
DAS ist rechts, DAS ist lebensgefährliche, rechte Politik. Als »rechts« diffamiert werden aber nur ihre Kritiker.
Auch vor diesem Hintergrund sollten die verschiedenen Jugend-Studien und deren politische, mediale und wissenschaftliche Thematisierung kritisch betrachtet werden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich die veröffentlichte Meinung fast ausschließlich dafür interessiert, wie viele junge Menschen beabsichtigen, die AFD und NICHT die etablierten Parteien zu wählen. Wie viele also nach »rechts« driften und nicht die herrschende rechte Politik »der Mitte« unterstützen. Die Lebenslagen und Sorgen der jungen Wähler scheinen nebensächlich zu sein, interessieren nicht. Womit womöglich eine zentrale Ursache für die trotzige Wahl der AFD benannt wäre. Wessen Kritik und Zweifel ständig als »rechts« diffamiert werden, wird sicher nicht mehr diejenigen wählen, die ihn auf diese Weise in die Ecke drängen wollen.