Im Rahmen von Umstrukturierungen wurde 1965 an der Juristischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität ein Institut für Zeitgenössische Rechtsgeschichte gegründet. Direktor wurde Friedrich Karl Kaul, der zu dieser Zeit schon durch zahlreiche Buchveröffentlichungen und Verfilmungen historischer Kriminalfälle auf sich aufmerksam gemacht hatte. Er trat das neue Amt mit großem Engagement an, und in den wenigen Jahren der Existenz des Institutes entstanden mehrere Buchveröffentlichungen von ihm, unter anderem zur Rolle des Angeklagten Pery Broad und dem kriminellen Verhalten von Ärzten bei der Ermordung von Häftlingen im Konzentrationslager Auschwitz, zum Attentat des Herschel Grynszpan 1938 auf den deutschen Botschafter in Paris sowie zur Aussage von Hitlers Rüstungsminister Albert Speer 1968 im Dora-Prozess in Essen.
Besonders hervorzuheben ist jedoch die ursprünglich auf vier Bände konzipierte »Geschichte des Reichsgerichts«. 1971 erschien im Akademie-Verlag Berlin (DDR) als erstes der Band 4. Er befasste sich mit der Struktur des Reichsgerichts sowie der Reichsanwaltschaft sowie deren personeller Besetzung in der Zeit von 1933-1945. Weiterhin wird die Rechtsprechung jener Jahre in Zivil- und Strafsachen näher beleuchtet, einschließlich des »besonderen Strafsenats«. Als Anhang sind dem Buch die Lebensläufe der am Reichsgericht während der Nazizeit tätigen Richter und Rechtsanwälte sowie die personelle Besetzung der einzelnen Senate in jener Periode aufgelistet. Als Faksimile wird am Ende des Buches das Urteil im Reichstagsbrandprozess gegen Marinus van der Lubbe, Ernst Torgler, Georgi Dimitroff und anderen vom 16. Dezember 1933 abgedruckt.
In dieser komprimierten Form hatte es bis dahin und hat es letztlich auch bis heute keine solche Veröffentlichung zum Reichsgericht gegeben. Auch in der damaligen Bundesrepublik blieb das nicht unbemerkt, und das Buch wurde dort im Lizenzwege ebenfalls verlegt.
Nach Beendigung seiner Tätigkeit an der Humboldt-Universität widmete sich Kaul zunächst anderen Aufgaben. Erst Ende der 1970er Jahre begann er am Band 3 zu arbeiten, der die Zeit der Weimarer Republik darstellen sollte. Bis zu dem überraschenden Tod von Friedrich Karl Kaul im April 1981 entstanden jedoch nur einige Fragmente, die ausgewählte Prozesse des Reichsgerichts in jenen Jahren beinhalten. Das betrifft beispielsweise die strafrechtliche Verfolgung des Dichters Johannes R. Becher, des Schriftstellers Heinrich Wandt sowie des Schauspielers Rolf Gärtner. In einem besonderen Kapitel wurde der Fall des Reichsanwalts Paul Jorns beschrieben, der einst die Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als Ermittlungsrichter begünstigt hatte. Für Kaul war dieses Verfahren ein Schlüsselerlebnis, da er daran als junger Referendar bei der Staatsanwaltschaft 1929 teilgenommen hatte und die gesamte Verlogenheit der ihm bis dahin vermittelten Unfehlbarkeit des preußischen Richters erfahren musste.
Die Fragmente dieses dritten Bandes wurden nur als Sonderdruck »Imperialistische Gesinnungsverfolgung und Gesinnungsbegünstigung« im Akademie-Verlag 1981 veröffentlicht und erschienen nicht im Buchhandel. Umso mehr ist zu begrüßen, dass jetzt der Band 4 der »Geschichte des Reichsgerichts« als Reprint neu herausgebracht wurde und damit auch mehr als 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung einem neuen Leserpublikum zugänglich ist. Wer die Zusammenhänge zwischen der faschistischen Terrorherrschaft Hitlers und der Willfährigkeit der sich ihr unterordnenden Justiz verstehen will, dem sei dieses Buch nachhaltig empfohlen. Es hat an Aktualität nicht verloren, macht es doch die Gefahren deutlich, wie in einer Diktatur die Judikative ihre Unabhängigkeit verliert und damit jede Rechtswahrung auf der Strecke bleibt.
Friedrich Karl Kaul: Geschichte des Reichsgerichts, Bd. 4: 1933-1945, Reprint 2024, Verlag de Gruyter, 356 S., 129 €.