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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Judikatur ohne Recht

Im Rah­men von Umstruk­tu­rie­run­gen wur­de 1965 an der Juri­sti­schen Fakul­tät der Ber­li­ner Hum­boldt-Uni­ver­si­tät ein Insti­tut für Zeit­ge­nös­si­sche Rechts­ge­schich­te gegrün­det. Direk­tor wur­de Fried­rich Karl Kaul, der zu die­ser Zeit schon durch zahl­rei­che Buch­ver­öf­fent­li­chun­gen und Ver­fil­mun­gen histo­ri­scher Kri­mi­nal­fäl­le auf sich auf­merk­sam gemacht hat­te. Er trat das neue Amt mit gro­ßem Enga­ge­ment an, und in den weni­gen Jah­ren der Exi­stenz des Insti­tu­tes ent­stan­den meh­re­re Buch­ver­öf­fent­li­chun­gen von ihm, unter ande­rem zur Rol­le des Ange­klag­ten Pery Broad und dem kri­mi­nel­len Ver­hal­ten von Ärz­ten bei der Ermor­dung von Häft­lin­gen im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz, zum Atten­tat des Her­schel Gryn­szpan 1938 auf den deut­schen Bot­schaf­ter in Paris sowie zur Aus­sa­ge von Hit­lers Rüstungs­mi­ni­ster Albert Speer 1968 im Dora-Pro­zess in Essen.

Beson­ders her­vor­zu­he­ben ist jedoch die ursprüng­lich auf vier Bän­de kon­zi­pier­te »Geschich­te des Reichs­ge­richts«. 1971 erschien im Aka­de­mie-Ver­lag Ber­lin (DDR) als erstes der Band 4. Er befass­te sich mit der Struk­tur des Reichs­ge­richts sowie der Reichs­an­walt­schaft sowie deren per­so­nel­ler Beset­zung in der Zeit von 1933-1945. Wei­ter­hin wird die Recht­spre­chung jener Jah­re in Zivil- und Straf­sa­chen näher beleuch­tet, ein­schließ­lich des »beson­de­ren Straf­se­nats«. Als Anhang sind dem Buch die Lebens­läu­fe der am Reichs­ge­richt wäh­rend der Nazi­zeit täti­gen Rich­ter und Rechts­an­wäl­te sowie die per­so­nel­le Beset­zung der ein­zel­nen Sena­te in jener Peri­ode auf­ge­li­stet. Als Fak­si­mi­le wird am Ende des Buches das Urteil im Reichs­tags­brand­pro­zess gegen Mari­nus van der Lub­be, Ernst Torg­ler, Geor­gi Dimitroff und ande­ren vom 16. Dezem­ber 1933 abgedruckt.

In die­ser kom­pri­mier­ten Form hat­te es bis dahin und hat es letzt­lich auch bis heu­te kei­ne sol­che Ver­öf­fent­li­chung zum Reichs­ge­richt gege­ben. Auch in der dama­li­gen Bun­des­re­pu­blik blieb das nicht unbe­merkt, und das Buch wur­de dort im Lizenz­we­ge eben­falls verlegt.

Nach Been­di­gung sei­ner Tätig­keit an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät wid­me­te sich Kaul zunächst ande­ren Auf­ga­ben. Erst Ende der 1970er Jah­re begann er am Band 3 zu arbei­ten, der die Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik dar­stel­len soll­te. Bis zu dem über­ra­schen­den Tod von Fried­rich Karl Kaul im April 1981 ent­stan­den jedoch nur eini­ge Frag­men­te, die aus­ge­wähl­te Pro­zes­se des Reichs­ge­richts in jenen Jah­ren beinhal­ten. Das betrifft bei­spiels­wei­se die straf­recht­li­che Ver­fol­gung des Dich­ters Johan­nes R. Becher, des Schrift­stel­lers Hein­rich Wandt sowie des Schau­spie­lers Rolf Gärt­ner. In einem beson­de­ren Kapi­tel wur­de der Fall des Reichs­an­walts Paul Jor­ns beschrie­ben, der einst die Mör­der von Karl Lieb­knecht und Rosa Luxem­burg als Ermitt­lungs­rich­ter begün­stigt hat­te. Für Kaul war die­ses Ver­fah­ren ein Schlüs­sel­er­leb­nis, da er dar­an als jun­ger Refe­ren­dar bei der Staats­an­walt­schaft 1929 teil­ge­nom­men hat­te und die gesam­te Ver­lo­gen­heit der ihm bis dahin ver­mit­tel­ten Unfehl­bar­keit des preu­ßi­schen Rich­ters erfah­ren musste.

Die Frag­men­te die­ses drit­ten Ban­des wur­den nur als Son­der­druck »Impe­ria­li­sti­sche Gesin­nungs­ver­fol­gung und Gesin­nungs­be­gün­sti­gung« im Aka­de­mie-Ver­lag 1981 ver­öf­fent­licht und erschie­nen nicht im Buch­han­del. Umso mehr ist zu begrü­ßen, dass jetzt der Band 4 der »Geschich­te des Reichs­ge­richts« als Reprint neu her­aus­ge­bracht wur­de und damit auch mehr als 50 Jah­re nach der Erst­ver­öf­fent­li­chung einem neu­en Leser­pu­bli­kum zugäng­lich ist. Wer die Zusam­men­hän­ge zwi­schen der faschi­sti­schen Ter­ror­herr­schaft Hit­lers und der Will­fäh­rig­keit der sich ihr unter­ord­nen­den Justiz ver­ste­hen will, dem sei die­ses Buch nach­hal­tig emp­foh­len. Es hat an Aktua­li­tät nicht ver­lo­ren, macht es doch die Gefah­ren deut­lich, wie in einer Dik­ta­tur die Judi­ka­ti­ve ihre Unab­hän­gig­keit ver­liert und damit jede Rechts­wah­rung auf der Strecke bleibt.

Fried­rich Karl Kaul: Geschich­te des Reichs­ge­richts, Bd. 4: 1933-1945, Reprint 2024, Ver­lag de Gruy­ter, 356 S., 129 €.