Es würde auf Gesichtsverlust hinauslaufen, wollte die EU von dieser Übereinkunft noch einmal abrücken: Zwar soll das im Dezember final ausgehandelte Investitionsabkommen mit China erst Anfang 2022 während der französischen Ratspräsidentschaft unterzeichnet werden, doch besiegelt ist es allemal. Ein Erfolg der soeben zu Ende gegangenen deutschen Ratspräsidentschaft.
Ein Agreement wie dieses ist dazu angetan, die seit dem Wahlsieg Joe Bidens gern beschworene Rückkehr zu gedeihlichen transatlantischen Beziehungen zu beeinflussen, wenn nicht zu belasten. Die EU gibt zu verstehen, dass sie einem konfrontativen Verhältnis zu China nichts abgewinnen kann, weil damit nichts zu gewinnen ist. Es geht ihr um eine möglichst störungsfreie Handelsagenda, gestützt auf einen geregelten Marktzugang für europäische wie chinesische Investoren und einen fairen Wettbewerb. Den sollen weder unterschiedliche Arbeitsstandards (beide Seiten erkennen die ILO-Kernnormen an) noch die jeweilige Praxis des Klima- und Umweltschutzes verzerren.
Die Biden-Administration steht im Unterschied dazu vor der Frage, ob sie den von ihren Vorgängern geerbten Handelskrieg der Strafzölle und Einfuhrlimitierung fortsetzen soll. Egal, wie sie verfährt – der Konkurrenz mit China lässt sich schwerlich entgehen, zumal nicht allein Rivalität zwischen Weltmächten, sondern ein Wettbewerb der Systeme auszutragen ist. Der chinesische Staatskapitalismus bietet der liberalen amerikanischen Version die Stirn, er hat nicht nur vor einem Jahrzehnt den Weltfinanzkollaps ohne signifikante Blessuren überstanden, sondern zeigt sich auch der Corona-Krise gewachsen. Schon im III. Quartal 2020 verbuchte die chinesische Ökonomie wieder ein Plus von 4,9 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt (BIP), was den Einbruch vom Frühjahr ausgleichen und für die noch ausstehende Jahresbilanz mit einem Zuwachs von zwei Prozent rechnen ließ. Dies erscheint umso bemerkenswerter, als nach den vorläufigen Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) die gesamte Weltwirtschaft 2020 um 4,4 Prozent geschrumpft sein dürfte.
Auch unter Donald Trump hat sich für die USA ein Trend fortgesetzt, der bereits während der Präsidentschaft Barack Obamas (2009-2017) erkennbar war: Das Machtgefälle zwischen den USA und China wird geringer. In der Konsequenz kollidieren auch die geopolitischen Ambitionen beider Staaten mehr als jemals zuvor. Dafür maßgebend ist nicht allein Pekings Streben nach einer Hegemonie im asiatisch-pazifischen Raum, vorrangig im Südchinesischen Meer, sondern eine selbstbewusste ökonomische Machtprojektion. Sie zehrt von der 2013 gestarteten Investitionsinitiative der »Neuen Seidenstraße« (One Belt, One Road) und profitiert von der im November mit dem RCEP-Abkommen etablierten Freihandelszone 14 asiatischer Staaten, darunter Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland und Indonesien.
So befindet sich die fernöstliche Volksrepublik in einer beneidenswerten Position: Sie kann abwarten und eine inzwischen erreichte wirtschaftliche Dynamik auskosten, die mitten in einer globalen Pandemie zu Krisenresistenz verhilft. Joe Biden muss sich dem gewachsen zeigen, sein außenpolitisches Vermögen wird sich im Umgang mit China beweisen, eher nicht darin, große bündnispolitische Pflöcke einzuschlagen, um etwa der NATO wieder mehr Halt zu geben.
Ohnehin kann die westliche Allianz nicht davon »erlöst« werden, dass die seit langem schwelende Debatte über mehr europäische Emanzipation von Amerika bis hin zu strategischer Autonomie voll entbrannt ist. Schon weil Emmanuel Macron der Regierung Merkel mit ihrer transatlantischen Retro-Perspektive Paroli bietet, bleibt die NATO von Sinn- und Strategiefragen nicht verschont. Und so viel dürfte unstrittig sein: Beharrt das Bündnis auf dem globalen Aktionsradius, ist das auf Dauer nur realistisch, wenn die USA wieder in gewohnter Weise als Führungsmacht agieren. Werden sie? Können sie das überhaupt?
Wohl um dem traditionellen Rollenverständnis Geltung zu verschaffen, will Generalsekretär Stoltenberg die NATO mit einer China-Agenda versehen. Mehr eine politische als strategische Option, doch unverkennbar dem Bestreben geschuldet, sich der Biden-Regierung als Sekundant ihres China-Kurses anzudienen. Was sich vom Effekt her freilich erst dann beurteilen lässt, wenn es ein solches Tableau tatsächlich gibt.
Eine Renaissance des transatlantischen Einvernehmens dürfte davon freilich weniger abhängen als vom Verhalten der künftigen US-Regierung bei internationalen Konflikten, von denen Europa nicht nur berührt, sondern betroffen ist. Vom Ranking her stehen dabei der Iran und das ungeklärte Schicksal des Nuklearabkommens von 2015 obenan. Es erscheint illusionär, darauf zu hoffen, dass sich die USA zügig wieder einem Agreement anschließen, aus dem Donald Trump im Mai 2018 mit viel obsessiver Dramatik ausgestiegen ist. Wollte Biden das korrigieren, brauchte er das Wohlverhalten des Iran, das nur dann zu erwarten wäre, sollte der rigide Sanktionsmodus gelockert werden. Als Trump am 8. Mai 2018 eine Executive Order unterschrieb, nach der jedes ausländische Unternehmen, das weiter mit dem Iran Geschäfte macht, sanktioniert wird, stand eines außer Frage: Die USA brechen das Atomabkommen, nicht die Islamische Republik, die zunächst auf Gegenmaßnahmen vermutlich in der Erwartung verzichtet hatte, die drei EU-Signatarstaaten – Großbritannien, Deutschland, Frankreich (EU-3) – würden ihr beistehen, die ärgsten Schäden eines resoluten Embargos zu kompensieren. Was sich als irrige Hoffnung erwies. Es fehlte in der EU am Willen wie der Fähigkeit, einer eigenständigen Iran-Politik zu folgen. Nun hat sich Teheran daran erinnert und legt bei der Auseinandersetzung über sein Nuklearprogramm wieder auf Selbstbehauptung Wert. Das galt schon 2002 bei den ersten Sondierungen mit den EU-3, hat sich 2015 bei den finalen Wiener Verhandlungen über den Atomdeal fortgesetzt und bleibt bis heute so. Am 1. Januar hat die iranische Atombehörde die Internationale Atomenergieagentur IAEA von ihrer Absicht unterrichtet, eine begrenzte Menge an Uran (120 Kilogramm) wieder auf 20 Prozent anzureichern. Ginge es nach dem Nuklearvertrag, wären maximal 3,67 Prozent erlaubt – nur hat das Abkommen in seiner jetzigen Form ausgesorgt. Es anzupassen, bleibt ein frommer Wunsch. Die Regierung Biden wird ihn nicht erfüllen. Konfrontation und Abwarten heißt die Devise, ein entspanntes Verhältnis zwischen den USA und Israel verspricht das allemal.
Dort hatte die Dauerregierung von Benjamin Netanjahu ein zerrüttetes Verhältnis zu Barack Obama und seinem Zwei-Staaten-Ideal für Palästina. Sie konnte aufatmen und aufblühen, als ihr die Zeit mit Donald Trump beschieden war. Der ließ die US-Botschaft nach Jerusalem verlegen, erklärte die israelische Siedlungspolitik für völkerrechtskonform (also quasi unumkehrbar) und präsentierte im Januar 2020 einen Nahostplan, der einen Palästinenserstaat als demilitarisierte Entität auf höchstens 70 Prozent der Westbank und als Hauptstadt nicht Ostjerusalem, sondern den Ostjerusalemer Vorort Abu Dis vorsah – eine definitive Absage an den Oslo-Prozess. Auch von dieser verstiegenen Parteilichkeit können Biden und sein Außenminister Antony Blinken nicht abrücken, ohne den Vorwurf zu riskieren, damit die Sicherheit Israels zu gefährden. Dort herrscht wieder Wahlkampf, weil voraussichtlich am 23. März über die vierte Knesset in zwei Jahren zu entscheiden ist. Das heißt, die neue US-Regierung wird frühestens Ende April, eher später wissen, mit wem sie es zu tun hat. Joe Biden sind außenpolitisch nicht vollends die Hände gebunden, doch bewegen kann er sich nicht eben viel.