Alle lieben Moskwa
Dass er eigentlich nicht lebe, sondern ins Leben verwickelt, verstrickt sei, dieser Gedanke beschleicht den ehemaligen Maler und Dichter Komjagin, dessen Name eine einst gängige Abkürzung für »Kommunismus« und eine Anspielung auf die Baba Jaga, die Hexe, enthält. Einst war er Maler und Dichter, jetzt ist er »Außermilitärischer« und brummt als Milizhelfer an Straßenbahnhaltestellen Leuten für irgendwelche Vergehen saftige Geldstrafen auf. Er lebt in verkommenen Verhältnissen, ist selbst verkommen – und nicht einmal die Liebe kann ihn retten, auch nicht der blühende Sozialismus, der nach den jeweils gültigen Losungen des Genossen Stalin aufgebaut wird.
Der Roman »Die glückliche Moskwa« von Andrej Platonow (1899-1951) führt in die Sowjetunion der frühen dreißiger Jahre und den Stalinismus, die Hauptstadt ist mit Bildern des Diktators drapiert: »Der lächelnde, bescheidene Stalin bewachte auf Plätzen und Straßen alle offenen Wege der frischen, unbekannten sozialistischen Welt …« – in der man gefälligst glücklich zu sein hat. Das zu sein, versucht auch die Hauptfigur des Romans, eine ebenfalls ins Leben verwickelte Vollwaise, der man, da sie gleichsam eine Tochter der Oktoberrevolution ist, den Namen Moskwa gab, dazu den volkstümlichsten Vatersnamen Russlands, Iwanowna nämlich, und als Nachnamen Tschestnowa, hergenommen von честность = Ehrlichkeit, честь = Ehre.
In die schöne junge Frau sind alle Männer verliebt – und so liebt sie sich durch die Stadt, deren Namen sie auch trägt. Nicht einmal der Verlust eines Beines schadet dem Liebreiz Moskwas, zumal der sozialistische Staat ihr eine beinahe vollkommen wirkende Prothese anmessen lässt.
Moskwa Iwanownas Lebensweg ist, darin ähnelt sie anderen Figuren Platonows, eine Wanderung durch die Welt, und zwar bei steter Verwunderung über dieselbe. Indem der Autor Moskwa trotz ihres nicht leichten Schicksals auf der Sonnenseite des Lebens sein lässt, ermöglicht er sich und seinen Lesern den Blick auf die Hinterhöfe und Schattenseiten der Stalin’schen Epoche. Mit immer neuen Parolen und Ideen wird die baldige Ankunft im Kommunismus, der allgemeinen Glückseligkeit, beschworen.
Auf einem Fest junger Wissenschaftler lernt Moskwa viele berühmte Leute kennen, einen Techniker, einen Chirurgen – die sie natürlich alle gern mögen. Während sich im Festsaal die Tische unter erlesenen Speisen biegen, sterben in Russland und in der Ukraine Millionen Menschen Hungers. Die Ursache der Hungerkatastrophe war die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die man als »Klassenkampf gegen die Kulaken« verbrämte, während man die wahren Ursachen verschwieg.
Aber bei Platonow bricht die Wirklichkeit sich Bahn: Einer der Protagonisten des Romans muss mitansehen, wie ein fast verhungerter Lebensmitteldieb beinahe totgeschlagen wird. Und die tragische Wirklichkeit der Zeit, die Gegenwartskapitel des Romans spielen sich etwa 1932 bis 1934 ab, brodelt unter der glatten Oberfläche. Auf dem Hinterhof bettelt ein Geiger, ein Kind erkrankt lebensgefährlich und stirbt, Moskwa befiehlt dem nichtsnutzigen Komjagin zu sterben, weil er ihre heroisch-vaterländischen Visionen zynisch kommentiert. Sie droht ihm, ihn mit ihrem Holzbein zu zertrampeln, wenn er nicht krepiere. Er solle keine Zeit vom Staat stehlen und wenigstens heldenhaft sterben.
Der Widersinn erreicht noch nicht seinen Höhepunkt mit Komjagins Einwilligung und seinen Worten: »Leben geht nicht. Bring morgen das Büchlein mit den Strafzetteln ins Milizrevier – für dich fallen an die fünf Rubel Prozente ab, da kannst du dich nach mir ernähren.« Denn gegen Morgen nimmt Moskwa den auf dem Fußboden kalt gewordenen, in eine fast erwürgende Decke gehüllten Mann wieder in ihr Bett auf, obwohl sie ihn vorher als »Leichnam« beschimpft hat.
Was sich liest wie eine Liebesposse und mit grimmiger Heiterkeit geschrieben ist, das enthüllt auch den grotesken, groben und sprachlos machenden Hintergrund des Lebens in einer sich menschlich gebärdenden Diktatur, die das Leben sogar technisch planbar machen will. Von 1931 bis 1934 galt Stalins Losung: »Die Technik entscheidet alles.«
Einer der Männer, die Moskwa anbeten, ein Techniker, nimmt zuletzt einen anderen Namen an und lebt bei einer anderen Frau: »Nach ein paar Tagen kam abends der Hausmeister und forderte Matrjona Filippowna auf, den neuen Bewohner anzumelden, entweder solle sie ihn wegjagen oder heiraten, ganz wie sie wolle, aber so zu leben, erlaube ihr niemand. Der Hausmeister gehörte zu den ehemals Entkulakisierten und hielt sich darum mit aller Genauigkeit an das Gesetz: Er hatte selbst die staatliche Kraft erfahren und erlitten.«
Eine Geschichte, Fragment geblieben wie viele große Texte der Weltliteratur, schildert eine Zeit, die gut neunzig Jahre zurückliegt. Kann sie uns das Land erklären, das nun durch seine Oberen wieder in Verruf geraten ist? Ja, das kann sie, und wie alle bedeutenden Texte Platonows, »Die Baugrube« etwa, oder »Tschewengur«, zeigt die Schilderung des wilden und zärtlichen Lebens der Moskwa Tschestnowa, dass der Wahnsinn der Staatsführer, sie mögen Stalin oder anders heißen, ein Land wie Russland an den Rand des Ruins treiben kann. Aber das, was Russland ausmacht, seine Menschen, seine Sprache, seine Literatur, sind nicht zu ruinieren.
Da es fast üblich geworden ist, dort nur das Teuflische und Böse zu suchen und zu finden, kann es nützlich sein, Bücher von Andrej Platonow zu lesen, die zeigen, warum dieses Land so ist, wie es ist.
Und es macht trotz des Inhalts, der einen manchmal erbeben lässt, Freude, das Buch in Händen zu halten. Der Suhrkamp Verlag hat es wunderschön gestaltet. Der gehaltvolle Anhang hilft, Platonow und die erzählte Zeit besser zu begreifen und auf heute anzuwenden.
Andrej Platonow, Die glückliche Moskwa, Roman. Aus dem Russischen von Renate Reschke und Lola Debüser. Suhrkamp Verlag 2019, 221 S., 24 €.
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Im Dienst eines psychotischen Tyrannen
»Roman aus einem längst vergangenen Leben« steht über dem Fragment »Der makedonische Offizier« von Andrej Platonow. Wessen Leben ist längst vergangen? Das der Hauptfigur Firs? Das der Sklavin Ophria, die er liebt? Oder das des irrsinnigen Diktators Osni? Platonow wusste gewiss recht gut, dass es mit dem erhofften Ende von Despoten so eine Sache ist. Das Endes des Königs Osni, man darf auch Stalin lesen, hat er jedenfalls nicht erlebt.
Dieser Text ist eine der schärfsten Auseinandersetzungen mit dem Stalinismus, die zu Lebzeiten des Diktators geschrieben wurden – erscheinen konnte er nicht. Der sowjetische Geheimdienst NKWD trug 1935 in seine Akten ein: »Der Schriftsteller ANDREJ PLATONOW schreibt den nicht zur Veröffentlichung bestimmten Roman ›Ein Offizier Alexanders von Makedonien‹ …« Dass der Roman nicht zu veröffentlichen sei, ist weniger ein Verdikt der Geheimdienstler als die Einsicht des Autors, der wusste, dass jeder Text über Despotismus eine Analogie zur Sowjetunion auslösen musste. Erst Mitte der neunziger Jahre erschien das Werk in Russland.
Obwohl die Geschichte sich vor vielen Jahren (zu Lebzeiten Alexanders des Großen) und in scheinbar weitab liegenden Gegenden (im erfundenen mittelasiatischen Land Kutemalia) zuträgt, spiegelt sie die Gegenwart Platonows in den 1930er Jahren wider. Die Hauptfigur Firs, ein makedonischer Offizier, lebt im geheimen Auftrag Alexanders des Großen in Kutemalia. Wie in Diktaturen üblich, wird auch der Ausländer eine Art Gefangener und in die Dienste des Staates eingespannt, er ist nämlich »Hydrauliker«, ein »Wassergelehrter«. (Platonow hatte als Ingenieur ebenfalls mit Wassertechnik zu tun.) Er lernt die Sklavin Ophria kennen, der man ihr Frausein verwehrt, indem man sie mit Bändern auf perfide Weise verschnürt. Dabei ist nicht einmal Keuschheit das Ziel, sondern sie soll dringend benötigte Seidenraupen »austragen«. Dies dürfte eine Anspielung auf von Stalin angeordnete, überaus zweifelhafte wissenschaftliche Experimente sein. Ophria und Firs überwinden ihre Angst in einer Liebesnacht. Mit einer um einen Stab gewickelten Botschaft an Alexander (der Inhalt betrifft die mögliche Eroberung Kutemalias) schickt Firs die Geliebte fort, in der Hoffnung, dass sie überleben werde.
Firs wird gleich am Morgen zum König Osni befohlen, er sieht vor dem Palast die Menschen, die sich vor Begeisterung über ihren Herrscher auf brutalste Weise bis zum Tode selbst oder gegenseitig quälen. Osni will im »psychiatrischen Staat« Kutemalia nunmehr das Paradies einrichten, Firs soll dazu »süßes Wasser« suchen. Einwände brüllt der Diktator nieder, wenn er will, gibt es eben süßes Wasser und nicht Süßwasser. Die zur Arbeit verlangten hunderttausend Sklaven genehmigt der Tyrann – und vielleicht wird Firs aus ihnen Aufständische machen. Denn er hat keine Waffe, um den Diktator zu töten, wozu ihn der Wille ankommt.
Höchst aufschlussreich ist der von Platonow beschriebene Sprachgebrauch im Reich Kutemalia, und man darf Parallelen zur Gegenwart herstellen: »Die Welt entspringt meinem Wunsch, doch kehrt sie nicht in mich zurück. Geh, solange mich nicht die Lust ankommt, dein Leben zu beenden«, so herrscht der psychopathische Herrscher den Makedonier an. Untergebenen sind nur demutsvolle Erwiderungen gestattet, denn die Klugheit Osnis kann nicht übertroffen werden, da sei jemand noch so intelligent. Zum Beispiel Klusi, der Leiter der »staatlichen Weisheit«. Sein Philosophenkollegium gestaltet die Neurosen Osnis in Gesetze um. Firs begreift, dass Klusi aus Todesangst so schreibt, wie er schreibt.
Es ist lobenswert, dass der Verlag im Anhang eine Erinnerung Platonows an einen Besuch bei Maxim Gorki, das eben ist Klusi (der Name assoziiert ein Eingesperrtsein, und auch Gorki ist ein Eingeschlossener), bietet. Aber auch das »Stenogramm des Werkstattabends mit Andrej Platonow im Gesamtrussischen Verband sowjetischer Schriftsteller am 1. Februar 1932«. Immer wieder bekannte Platonow an diesem Abend, wie oft er »Schädliches« dachte und schrieb. Das gehört auch zur Wirklichkeit einer Diktatur, und wir sollten solches bedenken, wenn wir schnell und von sicherer Warte aus Russland und Russisches beurteilen.
Die Platonow-Editionen des Suhrkamp Verlages setzen auf hervorragende Weise das fort, was mit den großartigen Ausgaben des Berliner Verlages Volk und Welt in den 1980er Jahren begonnen wurde, wie etwa »Tschewengur«, »Die Baugrube« oder »Müllwind«.
Andrej Platonow, Der makedonische Offizier. Aus dem Russischen von Michael Leetz, Suhrkamp Verlag 2021, 140 S., 24 €