Als der Ostblock zusammengebrochen war, Ende August 1991, schrieb ein anonymer Passant mit Pinsel und weißer Farbe an das Moskauer Marx-Denkmal: »Proletarier aller Länder, vergebt mir.« Kurz darauf erschien in Frankreich, ein Jahr später auch in Deutschland, Jean Zieglers Buch: »Marx, wir brauchen Dich – Warum man die Welt verändern muss«. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe nimmt Ziegler Marx in Schutz: »Der anonyme Passant irrt.« Marx muss sich für Lenin, Stalin und die ganze russische Revolution ebenso wenig entschuldigen wie die Evangelisten für die spanische Inquisition und das, was die Christen beim Aufbau ihrer Kolonialreiche an Verbrechen begingen.
Den Zusammenbruch des kommunistischen Weltreichs vor Augen, sah Ziegler die Bestätigung seiner schon seit langem geübten Kritik an diesem Sowjetsystem. Es hat zwar manches erreicht und verbessert, aber die in diesem System begangenen Verbrechen haben mit Marx und dessen Vorstellungen von einer kommunistischen Welt so gut wie nichts zu tun. Er bestreitet, dass die kommunistische Parteidiktatur von Marx gerechtfertigt worden wäre, dass Honecker, Hoffmann, Wolf, die anfangs noch kämpferische Idealisten waren wie die meisten anderen deutschen Kommunisten, Politik im Sinne des von Marx vertretenen Kommunismus gemacht haben. Ziegler bezweifelt sogar, dass sie, auch wenn sie sich immer wieder auf Marx beriefen, ihn jemals richtig verstanden haben. Marx war aus Zieglers Sicht eben kein Lenin, kein Mao, sondern ein Erbe der Französischen, der republikanischen Revolution.
Dass Ziegler im Augenblick dieses welthistorischen Ereignisses es für den Imperativ unserer Epoche erklärte, Marx vor denen zu verteidigen, die den Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums nutzen, ihn auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, gehört aus meiner Sicht zu den zwar kaum beachteten, aber größten Wagnissen eines linken Intellektuellen dieser Umbruchzeit. Das war Zivilcourage auf Weltniveau. Jean Ziegler setzte damals allerdings noch auf die in der Opposition verharrende Sozialdemokratie. Er schrieb: »Würde sie zu einem luziden Marxismus des Widerstands, so wie ihn ihr Gründer August Bebel praktiziert hat, zurückfinden, würde sich das Schicksal unseres Kontinents zum Guten wenden.«
Ich muss an dieser Stelle nicht daran erinnern, man hat es ja täglich vor Augen, was aus der SPD, zunächst unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, jetzt unter Olaf Scholz, geworden ist. Ziegler hätte heute das Recht zu sagen: Hab ich es nicht gesagt? Die SPD hat ihre große Chance verpasst. Ich, derselbe Jahrgang wie Ziegler, 12 Jahre Werkzeugmacher, Gewerkschafter der IG-Metall, danach studiert bei Adorno, Carlo Schmid, Werner Hofmann, promoviert bei Abendroth, habe 45 Jahre meines Lebens in innerparteilicher Opposition versucht, diese Abwärtsentwicklung der SPD abzuwenden. 2006 habe ich aufgegeben.
Ziegler gehört zu jenen, die in ihrer Jugend nicht links waren und dennoch ein Herz hatten, er gehört auch zu jenen, die, erwachsen geworden und zu Verstand gekommen, ihr Herz behielten und doch immer deutlicher nach links rückten. Seine gutbürgerliche Herkunft aus dem calvinistischen Thun legte das bildungsbürgerliche Fundament seines Linksseins, auch seines Gedankenradikalismus. Er war in jungen Jahren schon rebellisch und aufgeladen mit einem explosiven Gerechtigkeitssinn, aber doch eher konservativ, noch angepasst und auch anpassungswillig. So wollte er zur Armee, wurde aber ausgemustert und soll darüber bitter enttäuscht gewesen sein.
Nach einem abenteuerlichen Studium der Juristerei und Soziologie, nach Bern und Genf studierte er in Paris und New York, machte auf dem Rückweg einem Abstecher nach Kuba, wo er Che Guevara kennenlernte, ging als Assistent eines UNO-Sonderberichterstatters zu einem längeren Aufenthalt nach Zaire, das ehemalige Belgisch-Kongo, wo er entsetzliche Brutalitäten erlebte. Später wurde er Mitglied der Schweizer Sozialdemokratie und war jahrelang als ihr Abgeordneter im Bundesparlament. Man lese nur im Buch seines Genossen und Kollegen Helmut Hubacher »Tatort Bundeshaus« (Bern 1995) das Kapitel über Ziegler, und man weiß, dass er ein Mensch war und ist, den die politische Rechte hasste, die Linke liebte, auch wenn er sie gelegentlich überstrapazierte, frustrierte und schockierte und sie eines Tages mit der verhängnisvollen Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität reagierte.
Ziegler irritierte viele Marxisten, als er öffentlich bekannte: »Ich bin Kommunist und glaube an Gott«. In seinem Buch über Marx findet man Sätze wie diese: »Was nützen heute noch jene Intellektuelle, die ihr Wissen und ihre Intelligenz einst in den Dienst der sozialdemokratischen und sozialistischen Bewegung gestellt hatten? Sie haben ihre einstigen geistigen Vorbilder – allen voran Marx – derart verunglimpft, dass sie heute den eigenen Verlust ihres Ansehens erfahren müssen.« Das ist noch immer aktuell – es kommt aber noch schlimmer. »Ihre Fähigkeit, eine Diskussion zu entfachen und frische Anstöße für eine neue Bewertung der Welt zu geben, ist gleich Null. Dies hat zu einem gewissen Weltschmerz geführt, einer gewissen Verdrossenheit, die durchaus Ähnlichkeit hat mit dem Gefühl der Verbitterung der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts endgültig von der Macht ausgeschlossenen Aristokratie.«
Mit Blick auf die französische Intelligenz meinte er damals, dass die Intellektuellen (unmittelbar nach dem Ende der bipolaren Weltordnung - HS) der Mitte zustreben, das »Verblassen der Dinge«, die »Ära der Leere« verherrlichen, ja so tun, als ob dieser allgemeine Zerfall »die höchste Stufe der Demokratie« darstelle. Das traf auch Teile der deutschen Intellektuellen, trifft sie besonders heute, da doch auch hier die Linke im Nichts, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden droht. Ziegler propagierte dagegen sein Marx-Verständnis, als er schrieb: »Glücklicherweise kennt der Marxismus des Widerstands mehr als nur einen Schachzug, und auf den Trümmern dieses politischen und wirtschaftlichen Verfalls nimmt er uns in die Pflicht, immer wieder von neuem aufzubauen.«
Der Text erschien in Deutschland 1992. Da hatte ich schon mit diesem Neuaufbau begonnen und im März 1991 in der damaligen »Atomstadt« Hanau die Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control (BCC) gegründet. Danach hatte ich Jean Ziegler in Genf besucht, um ihm über die BCC-Gründung zu berichten und ihn zu bitten, unsere neue linke Aufklärungsorganisation zu unterstützen. Auf eine Formel gebracht, ging und geht es noch heute darum, für Wirtschaftsdemokratie zu kämpfen, statt Zeit und Kräfte für ein wirkungsloses Strafrecht gegen Korruption, Geldwäsche und Wirtschaftskriminalität zu verschwenden. Ziegler war – ohne sich dessen bewusst zu sein – ein wichtiger Initiator der BCC-Gründung.
Auch Eckart Spoo setzte damals auf einen Neuanfang. Nachdem er an unserem ersten großen Kongress über Wirtschaftsverbrechen in Frankfurt am Main teilgenommen und mich zu einem Vortrag über die »Geldmacht Deutschland« nach Hannover eingeladen hatte, wurden wir enge Freunde. Mir wurde klar, dass auch Eckart zu denen gehörte, die – ähnlich wie Ziegler – auf die radikaldemokratischen Anfänge der bürgerlichen Revolutionen, zum Beispiel auf Freiherrn von Knigge, aber auch auf Carl von Ossietzky setzte. Es ging zunächst einmal nur darum, das linke geistige Erbgut vor denen zu retten, deren abgrundtief unanständiges Marxismus-Bashing, eine Übersteigerung des bis zum Mauerfall alltäglichen christlichen Antikommunismus‹, zu jener fatalen Entwicklung den Treibstoff lieferte, die inzwischen sogar von den Antikommunisten selbst als Bedrohung empfunden und – wenn auch noch halbherzig – bekämpft wird.
Spoo und sein Freundeskreis zeigten sich damals sehr besorgt darüber, dass das vereinigte Deutschland – ob es wolle oder nicht – in absehbarer Zeit wieder eine Weltmacht werde. Die Vorträge dieser Veranstaltungsreihe sind heute aktueller als damals. Sie erschienen unter der Überschrift: »Weltmacht Deutschland?« (1996 im Donat Verlag). Ein Jahr nach Erscheinen dieses von Dietrich Heimann, Eckart Spoo und anderen herausgegebenen Büchleins, gründete Eckart die Zeitschrift Ossietzky.
Ich darf hier also in Dankbarkeit festhalten, dass Jean Ziegler an der Gründung von Business Crime Control unmittelbar, vermittelt über mich auch ideell an der Gründung des Ossietzky mitgewirkt hat. Dafür und für seine herzliche Freundschaft möchte ich Jean ganz herzlich danken und ihm wünschen, dass die inzwischen – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – in eine schwere Krise geratende Linke sich stärker mit Zieglers »Marxismus des Widerstands« befasst und so stark wird, dass sie wenigsten die schlimmsten Konsequenzen der heutigen Globalkapitalpolitik verhindern kann.
Mit seinen Büchern und neuen, undogmatischen Zugängen zum postkommunistisch-globalen Finanzkapitalismus, den er als »kannibalische Weltordnung« qualifiziert, hat Ziegler Ansätze entwickelt, die zeigen, dass und wie die bisher immer wieder Besiegten am Ende doch mehr als nur moralische Siege davontragen können. Um zu diesen Siegen beizutragen, müssen wir europäische Linke uns allerdings völlig neu orientieren. Eine Beschäftigung mit Zieglers methodischem Ansatz, er beschreibt ihn mit einem Ausdruck von Georges Balandier als »generative Soziologie«, könnte zur Überwindung der ideologischen Hindernisse, die bei Regenerationsversuchen linker Gesellschaftsanalyse und beim Erarbeiten einer neuen Stufe marxistischer Kritik der politischen Ökonomie von großem Nutzen sein. Ich selbst habe diesen Ansatz dazu genutzt, eine Kritik der Theorie und Praxis der kriminellen Ökonomie – sozusagen ein Erweiterungsbau der Kritik der politischen Ökonomie des klassischen Marxismus – vor allem durch Anregungen der von Ziegler favorisierten generativen Soziologie entwickelt.
Diese besonders in Frankreich heimische Soziologie hat viele Vorzüge vor den oft allzu routinierten und mechanisierten empirischen Methoden der US-Forschung, die in Deutschland Mainstream ist. Vor allem aber hat sie den Vorteil, dass sie den Hass auf den Westen erzeugenden Eurozentrismus jederzeit verlassen kann, dass sie die ausbeuterische Zerstörung der Welt des so genannten globalen Südens durch Landgrabbing, Ressourcenraub und totale Überschuldung, Armut und Migration verursachende Entwicklungspolitik ohne Scheuklappen in ihre Forschung einbezieht und niemals den Eindruck zu erwecken versucht, völlig neutral zu sein.
Und noch ein letzter Aspekt: Zieglers traumwandlerischer Tanz über den schmalen Grat der Hoffnung. Er ist faszinierend, mitreißend, ansteckend. Ich zitiere nur einen Satz aus dem letzten Kapitel seines nach meiner Meinung als Lebens- und Erfahrungsbilanz verfassten Buches: »Ändere die Welt« (München 2015) Das Kapitel beginnt mit dem Satz: »Gegen die weltweite Diktatur des globalisierten Finanzkapitals, ihrer Satrapen und Söldner, erhebt sich heute ein neues geschichtliches Subjekt: die weltweite Zivilgesellschaft.« Und wer sich nichts Konkretes darunter vorstellen kann, lese den Teil IV seines 2002 bei Bertelsmann erschienen Buches »Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher«. Unter Punkt 3. »Die Fronten des Widerstands« sind die damaligen Widersacher aufgelistet. Und es dürfte eines seiner schönsten Geschenke zu seinem 90sten Geburtstag sein, dass sich diese Widersacher seitdem nicht nur stark vermehrt, sondern auch radikalisiert und seinen Ideen angenähert haben.