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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Jahresrückblick 2024: Schulden und Schuld

Die gute Nach­richt des Jah­res: Pri­vat­haus­hal­te in Deutsch­land sind so reich wie noch nie! Um sechs Pro­zent hat das Pri­vat­ver­mö­gen der Deut­schen gegen­über dem Vor­jahr zuge­nom­men, auf über neun Bil­lio­nen Euro! Das ergibt für jeden Deut­schen mehr als ein­hun­dert Mil­lio­nen auf dem Kon­to! Rein rech­ne­risch. Ich selbst ken­ne aller­dings kei­nen, der über ein sol­ches Pri­vat­ver­mö­gen ver­fügt. (Wenn Sie, lie­be Lese­rin und lie­ber Leser, jeman­den ken­nen: Wir Künst­ler brau­chen immer Geld, auch eine Spen­den­quit­tung wäre drin.) Neun Bil­lio­nen Euro sind fast drei­ßig Mal so viel wie der Haus­halt der BRD – ein Pro­zent Ver­mö­gens­steu­er wür­de aus­rei­chen, um alle wegen der Schul­den­brem­se gestri­che­nen Sozi­al­pro­gram­me wie­der einzuführen.

Das war’s dann aber auch schon mit guten Nach­rich­ten des Jah­res. Alle ande­ren sind Kata­stro­phen­be­rich­te und sati­risch kaum noch zu top­pen. Also las­se ich die schlimm­sten ein­fach hier weg – Sie wis­sen ja selbst, wie es in der Welt aus­sieht, das müs­sen Sie nicht mehr von mir erfah­ren.

Ein paar Nach­rich­ten und Vor­komm­nis­se gab es, über die kann man geteil­ter Mei­nung sein: Juli­an Assan­ge ist frei! Aller­dings muss­te er sich erst ein­mal schul­dig beken­nen, Geheim­nis­ver­rat began­gen zu haben. Dar­auf gab es fünf Jah­re Gefäng­nis, die er schon lan­ge abge­ses­sen hat­te. Und jeder ande­re Jour­na­list, der Inter­na ver­öf­fent­licht, muss mit sol­cher­art Urtei­len rech­nen. Es war über­haupt kein gutes Jahr für Jour­na­li­sten: Im Jahr 2024 wur­den welt­weit 54 getö­tet, 550 sit­zen in Haft. Und wer in Deutsch­land von der Staats­rä­son abwich, wur­de mit Äch­tung gestraft. Und mit dem Ent­zug von öffent­lich-recht­li­cher Aufmerksamkeit.

Dafür bekam Chri­sti­an Lind­ner jede Men­ge davon. Wochen­lan­ge media­le Auf­re­gung über die Manö­ver der FDP und sei­ne eige­nen, jede Ver­ant­wor­tung dar­an abzu­strei­ten. Es war aber auch zu selt­sam: Die FDP hat­te eine Stra­te­gie! Etwas wie einen Plan! Dabei ist sie doch die Par­tei der plan­lo­sen, frei­en Markt­wirt­schaft. Und wenn der Poli­tik­be­trieb eine Indu­strie wäre, in der die unsicht­ba­re Hand des Mark­tes alles rich­tet, haben immer­hin die Wäh­ler, die ja anson­sten völ­lig unsicht­bar sind, am Wahl­tag mit ihrer Hand die Mög­lich­keit, die Plä­ne der FDP zunich­te­zu­ma­chen. Wird die BILD-Zei­tung die FDP wie­der hoch­schrei­ben? Höchst­wahr­schein­lich nicht. Schul­den­brem­se gut und schön, aber Kriegs­wirt­schaft ver­langt nun mal nach Kriegs­kre­di­ten und nach stra­te­gi­scher Pla­nung, und da hat die FDP ja nun gezeigt, dass sie dazu nicht brauch­bar ist. Immer­hin kann die FDP noch kan­di­die­ren, auch mit stark ver­kürz­ter Vor­be­rei­tungs­zeit. Die mei­sten klei­nen Par­tei­en kön­nen das nicht. Das Gute dar­an: Der Wahl­zet­tel wird nicht mehr so lang.

Und die Erneu­er­ba­ren Ener­gien erbrin­gen nun über 50 Pro­zent des Ver­brauchs. Das ist aller­dings nicht nur auf das Wachs­tum von Wind­rad- und Solar­an­la­gen zurück­zu­füh­ren, son­dern auch auf das Schrump­fen der Indu­strie­pro­duk­ti­on. Und damit des­halb nicht die Pro­fi­te schrump­fen, wer­den die lie­ben »Mit­ar­bei­ter« ent­las­sen. Oder in die Rüstungs­in­du­strie über­nom­men. Denn wir müs­sen kriegs­tüch­tig wer­den! Ver­kün­de­te ein gewis­ser Herr Pisto­ri­us, ein Jurist aus Osna­brück, der als Ersatz für die nicht so kriegs­tüch­ti­ge Ex-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin Chri­sti­ne Lämm­chen, äh, Lam­brecht – von der Zweit- bzw. Dritt- in die Erste Liga auf­ge­rückt wur­de. Und jetzt alles wer­den kann - außer Papst. Denn der mahnt zur Friedenstüchtigkeit.

Aber das ist out. Frü­he­re Umwelt­schüt­zer wer­den zu Pan­zer­fäu­sten – äh, Pan­zer­ex­per­ten, Stracks-Zim­mer­frau­en zu Rake­ten­fans, und US-Mit­tel­strecken­ra­ke­ten müs­sen hier sta­tio­niert wer­den als letz­te Hil­fe gegen die Rus­sen. VW ver­kauft sich an Rüstungs­kon­zer­ne – hat­ten wir auch schon mal, der Kraft-durch-Freu­de-Klein­wa­gen war auch nur die Vor­be­rei­tung auf Hoch­rü­stung gewesen.

Jetzt heißt es nicht mehr nur Kano­nen statt But­ter, jetzt heißt es Droh­nen statt Honig, Rake­ten statt Sozia­les und Son­der­ver­mö­gen statt Kriegskredite.

Die Rus­sen, so wol­len es unse­re Regie­rung wie die Oppo­si­ti­on wis­sen, wol­len uns spä­te­stens 2029 über­fal­len, weil ihnen schon seit 2 Jah­ren die Rake­ten aus­ge­hen und wir sie rui­niert haben.

Man­tra-artig wie­der­holt man die For­mel vom rus­si­schen Angriffs­krieg – als wenn noch irgend­je­mand über­zeugt wer­den müss­te, dass Rus­sen an sich böse sind und immer schon dar­auf aus waren, Euro­pa zu über­fal­len. Denn sie gehö­ren nicht zu Euro­pa. Euro­pa endet näm­lich nicht mehr am Ural, wie wir noch gelernt haben, son­dern offen­bar am Dnjepr – Ent­schul­di­gung, am Dnipro. Denn nur dann haben die Ukrai­ner ihren Namen zu Recht. Denn U-Krai­na heißt »Bei der Gren­ze«. Nicht dies­seits oder jen­seits einer Gren­ze, son­dern bei der Gren­ze. Der Gren­ze von Euro­pa, offen­bar, denn wir wol­len ja nicht die rus­si­sche Dar­stel­lung über­neh­men, dass es »bei der Gren­ze Russ­lands« heißt.

Egal, Euro­pa steht auf gegen die rus­si­schen Hor­den! Wir wer­den ihnen nie ver­zei­hen, dass wir Deut­schen 1941 Russ­land über­fal­len haben, schon gar nicht, dass wir zurück­ge­schla­gen wurden!

Dum­mer­wei­se sind die Rus­sen nicht nur ein­fach mehr, son­dern haben offen­bar auch die effi­zi­en­te­re Rüstungs­in­du­strie. Das macht schon Pro­ble­me bei der Logik: Einer­seits sind die Rus­sen das abso­lut Böse, ande­rer­seits ver­traut unse­re Regie­rung offen­bar dar­auf, dass sie beson­nen genug sind, um nicht uns zu tref­fen, wenn von unse­rem Boden aus Russ­land ange­grif­fen wer­den kann.

Also einer­seits sol­len wir alle Angst haben vor einem Angriff Russ­lands auf Deutsch­land, aber ande­rer­seits kei­ne Angst davor, einen sol­chen Angriff zu pro­vo­zie­ren. Was denn nun?

Egal, wir soll­ten natür­lich alle Angst haben. Vor einem Leben in Armut und Man­gel – denn das bedeu­tet die Hoch­rü­stung für neun­zig Pro­zent der Bevölkerung.

Vor­ge­stern woll­ten wir noch Russ­land rui­nie­ren, gestern stell­ten wir uns einen Sieg­frie­den vor und bean­spruch­ten die Lithi­um-Vor­kom­men der Ukrai­ne, heu­te bleibt uns nur noch die Angst, dass wir alles ver­lie­ren könn­ten, wor­auf wir mal stolz waren: Frie­den, Einig­keit in Euro­pa, Demo­kra­tie, Wohlstand.

In Rumä­ni­en hat man es vor­ge­macht: Wenn Wah­len nicht so aus­fal­len, wie gewünscht, dann wer­den sie für ungül­tig erklärt. Weil Russ­land das Ergeb­nis mani­pu­liert hät­te. Wofür man kei­ner­lei Bewei­se hat, sie aber auch nicht braucht, denn wir haben ja seit Jah­ren gelernt: Der Rus­se ist an allem schuld. Ist das nicht schön? Denn es kommt doch nicht dar­auf an, Pro­ble­me zu besei­ti­gen, solan­ge man nur weiß, wer dar­an schuld ist.