Ja, es gab sie, die in Stanniolpapier eingewickelten Nikoläuse, Kugeln und Tannenzapfen in meiner Kindheit. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, die Bezeichnung »Hohlkörper« irgendwo gelesen zu haben. Für mich waren das einfach Weihnachtsmänner und Nikolausfiguren aus Schokolade. Zugegeben war der Schmelz der Schokolade nicht so zart wie der aus dem Westen, was zählte, waren die Weihnachtsstimmung und die Vorfreude. In der Schule bastelten wir Schneeflocken aus gefaltetem Butterbrotpapier, die auseinandergezogen schöne Muster offenbarten, mit denen die Fenster der Klassenräume geschmückt wurden. Dort musste Weihnachten gänzlich ohne christliche Motive auskommen. Im Musikunterricht sangen wir »Morgen Kinder, wird’s was geben«, »Leise rieselt der Schnee« und »So viel Heimlichkeit in der Weihnachtszeit«.
Im Kunstgewerbegeschäft von Lothar Bock, dem Geschäft für Schönes, Teures und Seltenes, gab es Handwerkskunst aus dem Erzgebirge und Lauschaer Glaskunst. Einmal bekam ich zu Weihnachten ein kleines Orchester mit Engeln, die eine Posaune, eine Flöte, eine kleine Trompete in den kugeligen Händen hielten, mit zarten goldbemalten Flügeln am Rücken. Ein Engel hielt sogar einen winzigen Triangel. Ab Oktober wurde meine Mutter meist sehr aufgeregt, denn es hieß, Geschenke für die Tante und die Schwester im Westen zu kaufen und zu schicken. Natürlich wollte sie nur das Beste im Gegenzug für die zartschmelzende Schokolade, den Bohnenkaffee, die getrockneten Feigen und die gute Seife, die Tante Lene jedes Jahr im Advent an uns schickte. Das Päckchen war klein und schwer, nicht ein Haar hätte noch in irgendeine Ritze gepasst. Beim »Bock« gab es schöne Tischwäsche und ab und an auch Erzgebirger Schnitzkunst. Dabei muss betont werden, dass das meiste ohnehin in den Westen exportiert wurde und die Tante Lene in Heidelberg vermutlich mehr davon sah als wir. Wie beschwerlich diese Jagd war, kann sich heute im Konsumrausch des Cyber-Monday und Black-Friday kaum jemand vorstellen. Meiner Mutter ging es auch darum, ihr Gesicht zu wahren und einen gewissen Stil und Geschmack zu demonstrieren. Meine Eltern waren Arbeiter, die Musik liebten und aus Polen Schallplatten von Chopin, Händel und Tschaikowsky mitbrachten und aus Ungarn die Platten der Beatles.
Doch das Materielle war nicht alles. Ich bin in der thüringischen Stadt Saalfeld an der Saale aufgewachsen. Nach dem Mauerfall nannte man die Region das grüne Herz Deutschlands. Die Stadt mit der drittgrößten Hallenkirche Thüringens (St. Johannis) und seiner großen Chortradition, mit einer damals beachtlichen christlichen Gemeinde sowie einer vielfältigen Kulturlandschaft. Ich erinnere mich an Christvespern in der Gertrudiskirche zu Graba, einem eingemeindeten Dorf. St. Gertrudis war ein Kleinod mit hellen Holzbänken, einem berühmten Schnitzaltar und wunderschöner Malerei, jedoch damals ohne Heizung. Im Winter ging beim Singen die Atemluft den Tönen sichtbar voraus. Als Kind durfte ich beim Krippenspiel an Heiligabend mitmachen. Viele Male war ich eine der Engel. In einem kratzigen handgestrickten Schafwollpullover, darüber ein weißes Bettlaken als Engelsgewand, hielt ich eine Kerze in der Hand, um die ein breiter Papprand als Tropfschutz gesteckt war. Dieses Detail fällt mir ein, weil wir ab und zu etwas heißes Wachs der Kerze über den Rand laufen ließen, um unsere kalten Hände zu wärmen. Wir Kinder waren aufgeregt, während wir im Kirchhof auf unseren Einsatz warteten und endlich durch die vollbesetzten Reihen in den Altarraum schritten. »Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird« (Lukas 2. 10). Den Begriff »Jahresendfigur mit Flügel« kannte ich nicht, daran würde ich mich erinnern. Irgendwann sorgte dieses DDR-Vokabular für allgemeine Belustigung, und zwar hüben wie drüben. Da befand sich unser Land bereits in der Post-DDR-Phase.
Jahre später verbrachte ich mit meinem Mann unser erstes gemeinsames Weihnachten in Saalfeld. An Heiligabend gingen wir in meine ehemalige Kirche St. Gertrudis. Oben auf der Empore saßen wir auf beheizten warmen Bänken, lugten nach unten in den Chor- und Altarraum, an der Orgel brummte leise das Gebläse, und der Grabaer Posaunenchor stand auf der Empore bereit, um die traditionellen Weihnachtslieder schmetternd zu unterstützen. In jenem Jahr 2007 sagte Maria mit leicht ostthüringischem Dialekt: »Josef, isch kann nisch mehr!« Und er antwortete: »Maria, isch sehe schonn die Lischter von Bedlehäm!« In meiner Zeit haben wir uns sehr an den lutherschen Bibeltext gehalten.
Die Zeit und der jeweilige politische Kosmos haben ihre eigenen Begriffe und hinterlassen einen Fußabdruck in ihrer Sprache. Dabei denke ich an Victor Klemperer und sein Notizbuch LTI. Dieses widmete er an Weihnachten 1946 seiner Frau Eva. Im Osten war der »Werktätige der sozialistischen Arbeit« ein Ausdruck seiner Zeit. Heute fügen sich Unwort und Jugendwort des Jahres in den neuesten Duden ein und andere unangemessene aber salonfähig gewordene Worte in unsere Gesellschaft. Hätte ich einen Wunsch in diesem Jahr, dann wäre es: »Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« (Lukas 2. 14).