Die teils hitzigen Debatten über Gender Diversity oder Female Leadership haben sicher dazu beigetragen, die fortbestehende Ungleichberechtigung der Frauen in unserer Wertegemeinschaft bewusster zu machen. Allerdings geht es bei dieser Art von »Gendern« nicht wirklich – wie manche glauben – um die Durchsetzung der Angleichung von Löhnen und Gehältern berufstätiger Frauen an die der Männer. Oder nicht um die rechtliche und materielle Besserstellung alleinerziehender und oft bedrückender Armut ausgelieferter Mütter. Es geht, wie auch die neueste Gesetzgebung, das im Juni 2021 vom Bundestag beschlossene »zweite Führungspositionen-Gesetz« für börsennotierte Unternehmen, um ein höchst internes Eliten-Problem. Erhöht werden soll der Anteil der Frauen in den unverschämt hoch honorierten Entscheidungsgremien der Großwirtschaft. In den Aufsichtsräten von Großunternehmen hat sich das aus 2015 stammende erste Gesetz dazu schon bewährt. Für die Vorstände von Börsenunternehmen wurde nun noch einmal vorsichtig nachgelegt.
Doch Female Leadership hat nichts mit dem Kampf um die Überwindung der Armut zu tun, die mit Recht als weiblich bezeichnet wird. Es geht auch nicht um die Gleichstellung der Geschlechter in Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt, sondern um ein modernes Refeudalisierungsprogramm. Es geht um eine Gleichstellung von Herren und Herrinnen. Ein offensichtlich einflussreicher Lobbyistinnenverband namens FidAR (Kürzel für »Frauen in die Aufsichtsräte«) kann hier schon auf einige Erfolge verweisen. Hoch qualifizierte Frauen wollen ihren Anteil an den überbezahlten Jobs in den nach mehr als 70 Jahren Grundgesetz noch immer von Männern dominierten »Herrschaftsbereichen«. Die Konfliktlinie verläuft nicht allgemein zwischen Mann und Weib, Arbeitern und Arbeiterinnen, sondern zwischen privilegierten Herren und privilegierten Damen, also Herrinnen, die ebenfalls nach ganz oben wollen. Es geht nicht um die Überwindung von Armut, sondern um die Gleichberechtigung zwischen männlichen und weiblichen Eliten hoher Einkommens- und Vermögensklassen; um ein Stück von dem ganz großen Geld- und Machtkuchen.
Das Armutsproblem von Frauen, wie übrigens das von Männern, das es ja auch noch gibt, bleibt von diesen Macht- und Kassenkämpfen allerdings völlig unberührt. Es dreht sich bei dieser spezifischen Genderdebatte um die Überwindung der ungleich verteilten Verfügungsgewalt in den (trotz Mitbestimmung) systembedingt demokratiefreien Kapitalgesellschaften. Und damit auch um die Gleichrangigkeit der Herren und Herrinnen im Bereich des Letzt-Entscheidungsrechts der Bereiche private Kapitalverwertung und private Aneignung gesellschaftlichen Reichtums. Warum reite ich auf »Herren und Herrinnen« herum? Als noch mittelhochdeutsch gesprochen wurde, galt das System des Feudalismus, eine auf dem Lehnsrecht aufgebaute Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der alle Herrschaftsfunktionen von der über den Grundbesitz verfügenden aristokratischen Oberschicht ausgeübt werden. Leibeigene und hörige Untertanen mussten Frondienste leisten, also Herrendienste. Auch für die adelige verheiratete Frau, die als Frouwe angesprochen wurde. Das bedeutet Herrin. Der Vertreter des später an die Macht und zur Herrschaft gelangten Bürgertums, zumal der spießige Kleinbürger, der dem Großbürger an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nachstehen wollte, trat natürlich gern in die Fußstapfen des Edelmanns und nannte sich ebenfalls Herr. Die Dame an seiner Seite durfte sich wieder als Herrin fühlen und die Dienstmägde mussten sie nicht selten als »gnädige Frau« ansprechen. Die unter der neuen, der bürgerlichen »Klassenherrschaft« ausgebeutete, in struktureller Armut, in Elend und Unwissenheit gehaltene Masse der befreiten Hörigen und Leibeigenen wurde zu abhängigen Lohnarbeitern. Soweit sie sich danach als Arbeiterklasse organisiert und zum Ziel gesetzt hatten, die ausbeuterische Bourgeoisie durch Enteignung zu entmachten, verstanden sie sich als Proletarier und Proletarierinnen und nannten sich untereinander Genossen und Genossinnen. Sie taten dies im Bewusstsein, gemeinsam für das hehre Ziel zu kämpfen, das die bürgerlichen Revolutionäre einst den Armen der ganzen Welt versprochen hatten, aber, kaum zur Macht gekommen, hemmungslos verrieten: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und die allgemeinen Menschenrechte. Auch für die Frauen.
Der Sozialdemokrat August Bebel, der die seinerzeit noch marxistische SPD führte, schrieb im Gefängnis sein bis heute lesenswertes Buch: »Die Frau und der Sozialismus«. Bebel hatte die Schwesterlichkeit nicht vergessen. In seinem Buch ist zu lesen, was einst die SPD ausmachte und ihr Stimmen, auch Frauenstimmen, brachte: »Die volle Emanzipation der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Mann ist eins der Ziele unserer Kulturentwicklung, dessen Verwirklichung keine Macht der Erde zu verhindern vermag. Aber sie ist nur möglich aufgrund einer Umgestaltung, welche die Herrschaft des Menschen – also auch des Kapitalisten über den Arbeiter – aufhebt. Jetzt erst wird die Menschheit zu ihrer höchsten Entfaltung gelangen.« (Bebel, Die Frau, Frankfurt a. M. 1977, S. 522)
Um dieses Ziel zu erreichen, genügte das Frauenwahlrecht nicht. Auch nicht die paritätische Besetzung von Aufsichtsräten und Vorständen mit Arbeitnehmervertretern, die nach den Erfahrungen mit dem von Wirtschaftseliten unterstützten Nationalsozialismus gegen das Großkapital durchgesetzt wurde. Und es wird sich auch nichts ändern, wenn künftig ausschließlich Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen die Geschäfte der Investoren betreiben. Die jüngsten Debatten und Gesetzesänderungen, so erfreulich sie für Elitefrauen sein mögen, sind für die Armutsprobleme der Frauen, die objektiv der Arbeiterklasse angehören, die weiterhin nur die Wahl haben, ihre Arbeitskraft an einen »Arbeitgeber« oder eine »Arbeitgeberin« zu verkaufen, allenfalls mittelbar.
Frei gewählte Gesetzgeber kapitalistischer Demokratien können übrigens keine Garantie geben, dass Löhne und Gehälter, wenn sie denn etwas erhöht werden, nicht gleich wieder von den Reichen und denen, die schnell reich werden wollen, durch strategische Preissteigerungen in Umsatz und Profite verwandelt werden. Denn die mächtigen »Reichen und die Superreichen« (ich empfehle den 1969 bei Hofmann und Campe erschienen Klassiker des US-Amerikaners Ferdinand Lundberg), haben schon immer ganz andere Sorgen, nämlich sich überall in der Welt darum zu kümmern, dass ihr Prestige, ihr Einfluss auf Staaten, Parteien, Politiker, Wissenschaftler, Medien und natürlich ihre Profite steigen, dass also auch die leidigen Arbeitskosten (einschließlich der Lohnnebenkosten) gesenkt werden.
Nach dem zwar nicht totalen, aber doch fatalen Sieg des Kapitals über die Arbeit, der ja nicht nur über den Ostblockkommunismus, sondern auch über die reformsozialistischen Arbeiterbewegungen des freien Westens errungen wurde, schämen sich die parlamentarischen Handlanger und öffentlichen Sprachrohre der Reichen und der Superreichen nicht einmal, weiterhin den Antikommunismus zu schüren, wohl wissend, dass er auch eine der stärksten Wurzeln des Antisemitismus ist. Warum? Weil sie verhindern wollen, dass »bei denen da unten« noch einmal ein revolutionäres oder auch nur reformsozialistisches Klassenbewusstsein entsteht. Für ihren Eigentumsschutz vor Sozialromantikern, Sozialisten und Kommunisten, Protest-, Reform- und ökologisch argumentierenden »Verbotsparteien« hält sich diese Klasse freiheitliche Demokratien, die sie vor der überfälligen Demokratisierung der Wirtschaft schützen; investiert sie in gewerkschaftsfeindliche Firmen, aber auch rechte Diktaturen, die ihnen Billigstlohnarbeit garantieren; verübt sie, um Steuer-, Sozial- und Umweltschutzkosten zu senken, skrupellose Wirtschaftsverbrechen, von denen »Dieselgate«, der »Cum-Ex-Steuercoup« und »Wirecard« nur die Spitzen eines monumentalen Eisgebirges sind.
Ich kann das Thema »kriminelle Ökonomie« hier nicht vertiefen. In der Armutsforschung spielt es leider noch keine Rolle. Ich empfehle aber, die Bücher des Schweizer UNO-Beauftragten Jean Ziegler zu lesen, der nach den Gründen für den Hunger forscht, die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen ergründet. Er vermittelt seit Jahrzehnten eine realistische Vorstellung von den globalen Ausmaßen und Schrecken dessen, was er als »kannibalische Weltordnung« charakterisiert. Es ist zum Beispiel die Ordnung von Multi-Milliardär Warren Buffet, von dem folgendes Zitat überliefert ist: »Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.« Letzter Zweck dieses Klassensystem ist es, die kapitalistische Freiheit vor all jenen zu verteidigen, die sie mit dem Ziel zu überwinden versuchen, die Armut und das Elend zu beenden. Wird sich das ändern, wenn mehr Frauen in den systemrelevanten Aufsichtsräten und Vorständen der Konzerne sitzen? Ich möchte es glauben können.