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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ist Tempolimit schon Revolution?

Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ist ein von aller­lei Unbill geplag­ter Staat. Erst legt ein Virus Ämter und Schu­len, Kul­tur und Gastro­no­mie lahm, dann quält die Regie­rung die Fra­ge, ob nicht nur die Ukrai­ne von Russ­land über­fal­len wur­de, son­dern eigent­lich wir alle in West­eu­ro­pa, und im Ergeb­nis beschleicht uns die Ahnung, dass die gegen Russ­land ver­häng­ten Sank­tio­nen auch uns selbst teu­rer kom­men könn­ten als ver­kün­det. Und als ob all das nicht genug Grün­de für schlech­te Lau­ne wären, sind Deutsch­lands Stra­ßen und Muse­en zum Tum­mel­platz von Ter­ro­ri­sten gewor­den. Von Kli­ma­ter­ro­ri­sten. Sie blockie­ren den Auto­ver­kehr, indem sie sich auf Stra­ßen fest­kle­ben, und beschmie­ren wert­vol­le Gemäl­de mit Kartoffelbrei

Die Innen­mi­ni­ster sind alar­miert. Ende ver­gan­ge­nen Jah­res kün­dig­ten die CDU-geführ­ten Län­der an, sie wür­den prü­fen, »inwie­weit es sich nicht sogar um eine kri­mi­nel­le Ver­ei­ni­gung han­delt«. Gemeint ist die Grup­pe »Letz­te Gene­ra­ti­on«. Obwohl erst vor etwas mehr als einem Jahr gegrün­det, haben es die Kli­ma­ak­ti­vi­sten geschafft, den Staat her­aus­zu­for­dern – mit Sekun­den­kle­ber und Brei aus der Büch­se. Ange­sichts solch heim­tücki­scher Bewaff­nung von Pro­te­stie­rern warn­te der Chef der CSU-Lan­des­grup­pe im Bun­des­tag, Alex­an­der Dob­rindt, gar vor einer »Kli­ma-RAF«.

Da mei­nes Wis­sens die »Letz­te Gene­ra­ti­on« bis­her weder durch Ent­füh­run­gen, Mor­de oder Bank­über­fäl­le von sich reden mach­te, konn­ten mich sol­che Sprü­che nicht abschrecken. Die Neu­gier – erste jour­na­li­sti­sche Tugend – war stär­ker. Was will die »Letz­te Gene­ra­ti­on« wirk­lich? Wer es wis­sen will und wem ihr Inter­net­auf­tritt nicht genügt, soll­te eine ihrer Ver­an­stal­tun­gen besu­chen, die offen sind für jeden. Ich war vor ein paar Tagen in Rostock dabei, mit wei­tem Abstand der Älte­ste in einer Run­de von etwa 25 Interessierten.

Sie hei­ße Anna – so stell­te sich die jun­ge Ver­tre­te­rin der Grup­pe vor, die an die­sem Abend Auf­klä­rungs­ar­beit lei­sten woll­te. Woher der Name der Grup­pe kom­me? Weil sie die letz­te Gene­ra­ti­on sei­en, die noch was tun kön­ne gegen die dro­hen­de Kli­ma­ka­ta­stro­phe. Es folg­te ein Vor­trag über die dra­ma­ti­sche Ent­wick­lung des welt­wei­ten Kli­mas: über ver­hee­ren­de Wald­brän­de in Austra­li­en, über die Flut­ka­ta­stro­phe in Paki­stan, über das dro­hen­de Auf­tau­en des Per­ma­f­rost­bo­dens in Sibi­ri­en. Eigent­lich nichts Neu­es. Doch von Jahr zu Jahr wird es schlim­mer, und trotz­dem ver­har­ren die mei­sten Men­schen in Taten­lo­sig­keit. Mit die­ser Fest­stel­lung befin­den sich Anna und ihre Freun­de im Bun­de mit UNO-Gene­ral­se­kre­tär Antó­nio Guter­res, der die Regie­ren­den in aller Welt auf­rüt­teln woll­te und sag­te: »Wir sind in einem Kampf auf Leben und Tod um unse­re eige­ne Sicher­heit heu­te und unser Über­le­ben morgen.«

Aber war­um, lie­be Anna, klebt Ihr Euch aus Pro­test auf Stra­ßen fest? Das nervt die Auto­fah­rer und bringt kaum Sym­pa­thie­punk­te. Die Kli­ma­kri­se ist doch letzt­lich Ergeb­nis kapi­ta­li­sti­schen Wachs­tums­wahn­sinns. Immer mehr Pro­fit führt zu immer mehr Aus­beu­tung auch der Natur – oder? Also müss­te man nicht bes­ser vor den Zen­tra­len der Ban­ken, der Ener­gie- und Ölkon­zer­ne pro­te­stie­ren? Das hät­ten sie schon getan, ant­wor­te­te Anna. Aber die­se Pro­te­ste sei­en igno­riert wor­den, von der Öffent­lich­keit nicht wahr­ge­nom­men. – »Aus irgend­ei­nem Grund ist das bei Stra­ßen­blocka­den anders.«

Wohl wahr. Der media­le Bou­le­vard heul­te augen­blick­lich auf: »Kli­ma-Kle­ber ver­ach­ten die Demo­kra­tie« (BILD, 8.11.2022). Kein Wun­der, die Deut­schen und ihr angeb­lich lieb­stes Kind, das Auto. Für Ver­kehrs­mi­ni­ster Vol­ker Wis­sing (FDP) scheint es sogar das aller-aller-lieb­ste Kind zu sein. Er will in den näch­sten Jah­ren etwa 30 Mil­li­ar­den Euro für Auto­bah­nen aus­ge­ben. Brei­ter sol­len sie wer­den und sechs, acht, sogar zehn Spu­ren haben. Schon rekla­miert er dafür ein »über­ra­gen­des öffent­li­ches Inter­es­se« und pocht auf beschleu­nig­te Geneh­mi­gungs­ver­fah­ren. Die Umwelt­or­ga­ni­sa­ti­on BUND läuft dage­gen gera­de Sturm. Wis­sings Bau­wut könn­te »80 wert­vol­le Natur­schutz­ge­bie­te zerstören«.

Egal, ob neue Auto­bah­nen, das Weg­bag­gern von Lüt­zer­ath oder eine über­bor­den­de Büro­kra­tie, die den Aus­bau von Wind­parks behin­dert – für die »Letz­te Gene­ra­ti­on« macht es wenig Sinn, nur mit ein paar State­ments, den ewig glei­chen Pla­ka­ten und mit Pres­se­er­klä­run­gen, die sowie­so nie­mand liest, gegen kli­ma­schäd­li­che Poli­tik Front zu machen. Dabei klin­gen ihre aktu­el­len For­de­run­gen harm­los: Wie­der­ein­füh­rung des 9-Euro-Tickets und ein Tem­po­li­mit von 100 km/​h auf Auto­bah­nen. Hört sich das im Deutsch­land von heu­te schon nach Revo­lu­ti­on an? Die­ses Wort benut­zen Anna und ihre Freun­de nicht. Sie wol­len »Stör­fak­tor« sein. Denn »ohne ein gewis­ses Maß an Druck kommt es nicht zu Ver­än­de­run­gen«. Doch immer »fried­lich und gewalt­frei«. Es gehe um zivi­len Unge­hor­sam – so, wie er von Mahat­ma Gan­dhi und Mar­tin Luther King erfolg­reich prak­ti­ziert wor­den sei.

Aber das bun­des­deut­sche poli­ti­sche Estab­lish­ment mag nicht gestört wer­den. Am 4. Janu­ar die­ses Jah­res berich­te­te die Rostocker Ost­see-Zei­tung aus­führ­lich über zwei Poli­zei­ak­tio­nen in Greifs­wald. Dem­nach hat­ten Beam­te an einem frü­hen Mor­gen Ende Novem­ber Eck­art Pscheidl-Jesch­ke aus dem Bett geklin­gelt. »Sie haben einen Beschluss zur Durch­su­chung. Küche, Wohn- und Arbeits­zim­mer, Schlaf­raum und das Kin­der­zim­mer wer­den unter die Lupe genom­men und Lap­tops, Noti­zen und USB-Sticks mit­ge­nom­men. Die Pro­ze­dur dau­ert Stun­den. ›Es wur­de forsch vor­ge­gan­gen. Man fühlt sich ohn­mäch­tig‹, sagt der 52-jährige.«

Pscheidl-Jesch­ke ist Foto­graf und arbei­tet an der Greifs­wal­der Uni­ver­si­tät. Vor allem aber ist er der Vater von Hen­ning Jesch­ke, einem der Grün­der der »Letz­ten Gene­ra­ti­on«. Der Sohn wur­de gesucht wegen »gemein­schäd­li­cher Sach­be­schä­di­gung«. Angeb­lich habe er gefilmt, wie sich Kli­ma­ak­ti­vi­sten in einer Dres­de­ner Gale­rie an ein Gemäl­de geklebt hat­ten. Mit­te Dezem­ber die zwei­te Poli­zei­ak­ti­on. Dies­mal wegen »Stö­rung öffent­li­cher Betrie­be«. Mit­glie­der der »Letz­ten Gene­ra­ti­on« sol­len die Raf­fi­ne­rie des PCK Schwedt blockiert haben. »Laut Behör­den­schrei­ben durf­te aus­drück­lich beim zwei­ten Mal auch der Besitz des Vaters durch­sucht werden.«

Die Begleit­mu­sik für das har­sche Vor­ge­hen von Poli­zei und Justiz lie­fern ein­mal mehr diver­se Medi­en. »Wovon leben Sie, Herr Jesch­ke?«, über­schrieb der Spie­gel am 6. Janu­ar 2023 ein Inter­view und gab in der Unter­zei­le gleich die Rich­tung vor: »Der Mit­grün­der der ›Letz­ten Gene­ra­ti­on‹, Hen­ning Jesch­ke, ist Stu­di­en­un­ter­bre­cher und Voll­zeits­tö­rer.« Im Klar­text: Nährt unse­re ach so tole­ran­te Gesell­schaft da etwa einen arbeits­scheu­en Nichts­nutz an ihrem Busen? Der Akti­vist in Wirk­lich­keit nur ein Ver­sa­ger, dem man miss­trau­en soll­te? Wenn das so ist, demon­striert die Staats­macht in Meck­len­burg-Vor­pom­mern und anders­wo nur zu Recht, wer Herr im Hau­se ist. Beson­ders forsch geht sie im Frei­staat Bay­ern vor. CSU-Innen­mi­ni­ster Joa­chim Herr­mann kennt kein Par­don für radi­ka­le Kli­ma­schüt­zer und will unbe­dingt »alle Mit­tel des Rechts­staats aus­schöp­fen«. Damit meint er auch die Anwen­dung der umstrit­te­nen Prä­ven­tiv­haft. Das ist ein »vor­beu­gen­der Gewahr­sam«, bis zu 30 Tage lang. In kei­nem ande­ren Bun­des­land darf das prak­ti­ziert wer­den. Gera­de erst wur­de ein 24-Jäh­ri­ger in Pas­sau inhaf­tiert. Der jun­ge Mann hat­te zuvor an Pro­test­ak­tio­nen der »Letz­ten Gene­ra­ti­on« teil­ge­nom­men. Das reich­te aus für den Ver­dacht, dass er »wei­te­re Ord­nungs­wid­rig­kei­ten von erheb­li­cher Bedeu­tung für die All­ge­mein­heit oder Straf­ta­ten bege­hen würde«.

Die Akti­vi­sten der »Letz­ten Gene­ra­ti­on« sind besorgt, wütend und ver­zwei­felt. Nur eines sind sie – auch wenn ich ihr Beschmie­ren von Bil­dern blöd fin­de – bestimmt nicht: Kli­ma­ter­ro­ri­sten. Das beschei­nig­te ihnen jüngst wenig­stens eine Jury aus Sprach­ex­per­ten, indem sie »Kli­ma­ter­ro­ri­sten« zum Unwort des Jah­res 2022 erklär­te. Offen­bar ver­nünf­ti­ge Leu­te, die sich vom herr­schen­den Zeit­geist nicht ver­rückt machen las­sen. Ach, hät­ten die doch auch in der Poli­tik was zu sagen.