Die Bundesrepublik Deutschland ist ein von allerlei Unbill geplagter Staat. Erst legt ein Virus Ämter und Schulen, Kultur und Gastronomie lahm, dann quält die Regierung die Frage, ob nicht nur die Ukraine von Russland überfallen wurde, sondern eigentlich wir alle in Westeuropa, und im Ergebnis beschleicht uns die Ahnung, dass die gegen Russland verhängten Sanktionen auch uns selbst teurer kommen könnten als verkündet. Und als ob all das nicht genug Gründe für schlechte Laune wären, sind Deutschlands Straßen und Museen zum Tummelplatz von Terroristen geworden. Von Klimaterroristen. Sie blockieren den Autoverkehr, indem sie sich auf Straßen festkleben, und beschmieren wertvolle Gemälde mit Kartoffelbrei
Die Innenminister sind alarmiert. Ende vergangenen Jahres kündigten die CDU-geführten Länder an, sie würden prüfen, »inwieweit es sich nicht sogar um eine kriminelle Vereinigung handelt«. Gemeint ist die Gruppe »Letzte Generation«. Obwohl erst vor etwas mehr als einem Jahr gegründet, haben es die Klimaaktivisten geschafft, den Staat herauszufordern – mit Sekundenkleber und Brei aus der Büchse. Angesichts solch heimtückischer Bewaffnung von Protestierern warnte der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, gar vor einer »Klima-RAF«.
Da meines Wissens die »Letzte Generation« bisher weder durch Entführungen, Morde oder Banküberfälle von sich reden machte, konnten mich solche Sprüche nicht abschrecken. Die Neugier – erste journalistische Tugend – war stärker. Was will die »Letzte Generation« wirklich? Wer es wissen will und wem ihr Internetauftritt nicht genügt, sollte eine ihrer Veranstaltungen besuchen, die offen sind für jeden. Ich war vor ein paar Tagen in Rostock dabei, mit weitem Abstand der Älteste in einer Runde von etwa 25 Interessierten.
Sie heiße Anna – so stellte sich die junge Vertreterin der Gruppe vor, die an diesem Abend Aufklärungsarbeit leisten wollte. Woher der Name der Gruppe komme? Weil sie die letzte Generation seien, die noch was tun könne gegen die drohende Klimakatastrophe. Es folgte ein Vortrag über die dramatische Entwicklung des weltweiten Klimas: über verheerende Waldbrände in Australien, über die Flutkatastrophe in Pakistan, über das drohende Auftauen des Permafrostbodens in Sibirien. Eigentlich nichts Neues. Doch von Jahr zu Jahr wird es schlimmer, und trotzdem verharren die meisten Menschen in Tatenlosigkeit. Mit dieser Feststellung befinden sich Anna und ihre Freunde im Bunde mit UNO-Generalsekretär António Guterres, der die Regierenden in aller Welt aufrütteln wollte und sagte: »Wir sind in einem Kampf auf Leben und Tod um unsere eigene Sicherheit heute und unser Überleben morgen.«
Aber warum, liebe Anna, klebt Ihr Euch aus Protest auf Straßen fest? Das nervt die Autofahrer und bringt kaum Sympathiepunkte. Die Klimakrise ist doch letztlich Ergebnis kapitalistischen Wachstumswahnsinns. Immer mehr Profit führt zu immer mehr Ausbeutung auch der Natur – oder? Also müsste man nicht besser vor den Zentralen der Banken, der Energie- und Ölkonzerne protestieren? Das hätten sie schon getan, antwortete Anna. Aber diese Proteste seien ignoriert worden, von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. – »Aus irgendeinem Grund ist das bei Straßenblockaden anders.«
Wohl wahr. Der mediale Boulevard heulte augenblicklich auf: »Klima-Kleber verachten die Demokratie« (BILD, 8.11.2022). Kein Wunder, die Deutschen und ihr angeblich liebstes Kind, das Auto. Für Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) scheint es sogar das aller-aller-liebste Kind zu sein. Er will in den nächsten Jahren etwa 30 Milliarden Euro für Autobahnen ausgeben. Breiter sollen sie werden und sechs, acht, sogar zehn Spuren haben. Schon reklamiert er dafür ein »überragendes öffentliches Interesse« und pocht auf beschleunigte Genehmigungsverfahren. Die Umweltorganisation BUND läuft dagegen gerade Sturm. Wissings Bauwut könnte »80 wertvolle Naturschutzgebiete zerstören«.
Egal, ob neue Autobahnen, das Wegbaggern von Lützerath oder eine überbordende Bürokratie, die den Ausbau von Windparks behindert – für die »Letzte Generation« macht es wenig Sinn, nur mit ein paar Statements, den ewig gleichen Plakaten und mit Presseerklärungen, die sowieso niemand liest, gegen klimaschädliche Politik Front zu machen. Dabei klingen ihre aktuellen Forderungen harmlos: Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets und ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen. Hört sich das im Deutschland von heute schon nach Revolution an? Dieses Wort benutzen Anna und ihre Freunde nicht. Sie wollen »Störfaktor« sein. Denn »ohne ein gewisses Maß an Druck kommt es nicht zu Veränderungen«. Doch immer »friedlich und gewaltfrei«. Es gehe um zivilen Ungehorsam – so, wie er von Mahatma Gandhi und Martin Luther King erfolgreich praktiziert worden sei.
Aber das bundesdeutsche politische Establishment mag nicht gestört werden. Am 4. Januar dieses Jahres berichtete die Rostocker Ostsee-Zeitung ausführlich über zwei Polizeiaktionen in Greifswald. Demnach hatten Beamte an einem frühen Morgen Ende November Eckart Pscheidl-Jeschke aus dem Bett geklingelt. »Sie haben einen Beschluss zur Durchsuchung. Küche, Wohn- und Arbeitszimmer, Schlafraum und das Kinderzimmer werden unter die Lupe genommen und Laptops, Notizen und USB-Sticks mitgenommen. Die Prozedur dauert Stunden. ›Es wurde forsch vorgegangen. Man fühlt sich ohnmächtig‹, sagt der 52-jährige.«
Pscheidl-Jeschke ist Fotograf und arbeitet an der Greifswalder Universität. Vor allem aber ist er der Vater von Henning Jeschke, einem der Gründer der »Letzten Generation«. Der Sohn wurde gesucht wegen »gemeinschädlicher Sachbeschädigung«. Angeblich habe er gefilmt, wie sich Klimaaktivisten in einer Dresdener Galerie an ein Gemälde geklebt hatten. Mitte Dezember die zweite Polizeiaktion. Diesmal wegen »Störung öffentlicher Betriebe«. Mitglieder der »Letzten Generation« sollen die Raffinerie des PCK Schwedt blockiert haben. »Laut Behördenschreiben durfte ausdrücklich beim zweiten Mal auch der Besitz des Vaters durchsucht werden.«
Die Begleitmusik für das harsche Vorgehen von Polizei und Justiz liefern einmal mehr diverse Medien. »Wovon leben Sie, Herr Jeschke?«, überschrieb der Spiegel am 6. Januar 2023 ein Interview und gab in der Unterzeile gleich die Richtung vor: »Der Mitgründer der ›Letzten Generation‹, Henning Jeschke, ist Studienunterbrecher und Vollzeitstörer.« Im Klartext: Nährt unsere ach so tolerante Gesellschaft da etwa einen arbeitsscheuen Nichtsnutz an ihrem Busen? Der Aktivist in Wirklichkeit nur ein Versager, dem man misstrauen sollte? Wenn das so ist, demonstriert die Staatsmacht in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo nur zu Recht, wer Herr im Hause ist. Besonders forsch geht sie im Freistaat Bayern vor. CSU-Innenminister Joachim Herrmann kennt kein Pardon für radikale Klimaschützer und will unbedingt »alle Mittel des Rechtsstaats ausschöpfen«. Damit meint er auch die Anwendung der umstrittenen Präventivhaft. Das ist ein »vorbeugender Gewahrsam«, bis zu 30 Tage lang. In keinem anderen Bundesland darf das praktiziert werden. Gerade erst wurde ein 24-Jähriger in Passau inhaftiert. Der junge Mann hatte zuvor an Protestaktionen der »Letzten Generation« teilgenommen. Das reichte aus für den Verdacht, dass er »weitere Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder Straftaten begehen würde«.
Die Aktivisten der »Letzten Generation« sind besorgt, wütend und verzweifelt. Nur eines sind sie – auch wenn ich ihr Beschmieren von Bildern blöd finde – bestimmt nicht: Klimaterroristen. Das bescheinigte ihnen jüngst wenigstens eine Jury aus Sprachexperten, indem sie »Klimaterroristen« zum Unwort des Jahres 2022 erklärte. Offenbar vernünftige Leute, die sich vom herrschenden Zeitgeist nicht verrückt machen lassen. Ach, hätten die doch auch in der Politik was zu sagen.